Ein Koran für die Moderne

Mit dem ersten Band seines auf 17 Werke angelegten Koran-Kommentars legt Herausgeber Mouhanad Khorchide von der Universität Münster eindrucksvoll seinen Ansatz einer Brücke zwischen einem traditionellen und dem modernen wissenschaftlichen Verständnis des Koran vor. Musa Bagrac hat das Buch gelesen.

Von Musa Bagrac

Mouhanad Khorchide behandelt gemeinsam mit einem Team von Wissenschaftlern in dem Buch grundsätzliche Fragen zur historisch-kritischen Kommentierung des Koran. Der Professor für Islamische Religionspädagogik und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster verbindet dabei eine moderne, wissenschaftlich fundierte Lesart mit seinem spirituellen Ansatz einer Theologie der Barmherzigkeit.

Khorchide will Muslimen heute die Begegnung mit Gottes liebender Barmherzigkeit ermöglichen. Durch diese Begegnung mit dem Transzendenten sollen sich die Gläubigen in Liebe allen Geschöpfen zuwenden können. So haben für Khorchide einst auch die Erstadressaten des Koran im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel Gott erfahren.

Dieses Verständnis des Koran ist ein fundamental anderes als der Zugang einer rein spekulativen Theologie, für die Gott weit entfernt bleibt. Es scheint, dass die eigentliche Leistung des Münsteraner Theologen genau in dieser Verzahnung von historisch-kritischer Exegese und spirituellem Zugang liegt. 

Um seine Leser auf dieses Verständnis vorzubereiten, fragt Khorchide, was der Koran den Gelehrten bedeutet. Hier gibt es sehr unterschiedliche Zugänge. Nach traditioneller Lesart ist der Koran vor allem ein Buch zur religiösen Unterweisung.

Für die türkischen Theologen der modernen Ankaraner Schule ist er ein Buch der Ethik. Der ägyptische, 2010 verstorbene Koranforscher Nasr Hamid Abu Zaid versteht den Koran vor allem als ein Buch der Kommunikation. Sie alle hat die Frage beschäftigt, wie sich der Koran gleichzeitig als geoffenbartes Gotteswort und als historisch gewordener Text verstehen lässt. Handelt es sich bei der heiligen Schrift der Muslime um ein für alle Zeiten und an allen Orten gültiges Buch, das gewissermaßen über dem historischen Kontext steht? Oder kann man den Koran mit den Mitteln einer historisch-kritischen Textanalyse für unsere heutige Zeit verstehen?

Paradigmenwechsel im Koranverständnis

Schon in seiner Einleitung erklärt Khorchide, dass er den Koran als Selbstoffenbarung Gottes versteht. Im Koran teilt sich Gott dem Menschen mit. Mit einem solchen Verständnis des Koran enthält der heilige Text direkte Bezüge zur Lebenswirklichkeit des Menschen. Das ist wichtig, damit sich der Mensch nicht von Gott entfremdet. Diese Gefahr besteht, wenn die Glaubensgrundsätze abstrakt bleiben.

Mouhanad Khorchides Buch: Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit. Foto: Verlag Herder
Traditionell und doch modern: Aus der Verbindung der traditionellen islamischen Koranwissenschaft mit Methoden europäischer Geschichtswissenschaften entwirft Mouhanad Khorchide einen neuen Zugang zum Koran. Obwohl der Koran als geoffenbartes Gotteswort gilt, wird er zugleich als historisch gewordener Text verstanden.

Khorchide versteht den Koran und die Glaubensgrundsätze des Islam vom Menschen her und fragt danach, wonach sich Menschen sehnen, was ihre Motive und Bedürfnisse im Leben sind. Nur wenn diese Berücksichtigung finden, lassen sich der Glaube an die Offenbarung und die Selbstbestimmung des Menschen verbinden.

Dieser Punkt ist wesentlich für Khorchide, der das Verständnis des Koran mit der westlichen Freiheitsgeschichte versöhnen möchte. Dazu unterscheidet der Theologe zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze der Koraninterpretation. Er spricht von einer monologisch-abgeschlossenen und einer dialogisch-offenen Interpretation.

Der monologisch-abgeschlossene Ansatz versteht den Koran als ein Buch voller Anweisungen für den Menschen. Zu diesem Zugang zählt Khorchide neben der traditionellen Lesart auch das Verständnis moderner Koranforscher aus der Ankaraner Schule oder die Arbeit des ägyptischen Korangelehrten Nasr Abu Zaid.

Eine dialogisch-offene Interpretation dagegen versteht die Offenbarung als einen Dialog Gottes mit den Menschen, der nicht abgeschlossen ist. Khorchide hat diesen Zugang für seine Arbeit gewählt und legt dabei die Barmherzigkeit Gottes als zentralen hermeneutischen Schlüssel zugrunde.

Barmherzigkeit Gottes als hermeneutischer Schlüssel

Khorchide geht nicht mehr wie die klassischen und viele moderne Exegeten von einem Verständnis aus, dass "der Koran sagt…" (tafsir) oder "der Koran meint…" (ta’wil), sondern er verpflichtet sich selbst einer offeneren, dialogischen, dynamischeren und seiner Meinung nach auch bescheideneren Interpretation. Khorchide ist sich bewusst, dass auch sein Verständnis des Koran relativ ist. Daher formuliert er: "Ich verstehe, dass der Koran mir sagen will… Morgen werde ich verstehen, dass der Koran mir etwas anderes sagen will…"

Ferner konstatiert Khorchide, dass ein sich selbst offenbarender Gott sich nur an einen Menschen wenden kann, der sich im Bewusstsein und im Besitz seiner Freiheit weiß. Genau in dieser Freiheit stecke das Potenzial einer wertschätzenden und emanzipatorischen Gott-Mensch-Beziehung, schreibt er, in der der Mensch sich aus Überzeugung öffnet und zu einer besseren Version seiner Selbst werden könne.

Wer dagegen Offenbarung vor allem als religiöse Anweisung versteht, zwinge den menschlichen Geist zum Stillstand und degradiere ihn zum passiven Empfänger der göttlichen Botschaft.

Der Mensch würde so nicht in seiner Freiheit und in seiner Menschlichkeit anerkannt. Doch genau diese Freiheit macht für Khorchide die Gott-Mensch-Beziehung aus. Als Ausdruck seiner absoluten Barmherzigkeit habe Gott dem Menschen den freien Willen geschenkt und ihn als Subjekt zur Freiheit befähigt.

Für die Erstadressaten des Korans im 7. Jahrhundert waren diese Aspekte laut Khorchide selbstverständlich. Der Koran gehörte für sie mitten in ein Leben, in dem die Präsenz Gottes selbstverständlich war.

Als Ausdruck seines Wesensattributes der liebenden Barmherzigkeit hat sich Gott auf den Menschen eingelassen. Muslime von heute müssen sich dagegen entscheiden, ob sie den Koran als religiöse Anweisung oder als Selbstmitteilung Gottes verstehen wollen.

Versteht man den Koran zuallererst als Anweisung, dann hätten die Muslime heute nur die Aufgabe, den Text mit seiner Botschaft aus dem 7. Jahrhundert auf heute zu übertragen. So verstehen etwa Nasr Abu Zaid und die Theologen der Ankaraner Schule ihre Aufgabe als Koranexegeten.

Liest man den Koran aber mit Khorchide als eine Begegnung mit der Gegenwart Gottes, wie es seiner Ansicht nach einst die Urgemeinde um den Propheten Mohammed verstanden hat, so kann man im Koran den Ruf zur Freiheit erkennen. Dieser Ruf zur Freiheit kann Menschen grundlegend verändern. Er kann eine "emotionale Transformation" des Menschen auslösen und die Erfahrung der Nähe Gottes möglich machen.

Für Khorchide ist die Barmherzigkeit Gottes der hermeneutische Schlüssel, um die koranische Offenbarung zu verstehen. Die Begegnung mit Gott versteht er als "Leitprinzip gelebter Wirklichkeit" und das Leben der Muslime als „Zeugnis dieser liebenden Barmherzigkeit“. Nur so könne die Barmherzigkeit Gottes im Leben der Gläubigen fortwirken.

Manch einer mag Khorchide bei seiner Interpretation eine willkürliche Vorgehensweise vorwerfen. Deshalb schlägt der Münsteraner Theologe vor, im Anschluss an den ägyptischen Koranforscher Muḥammad Aḥmad Ḫalafallāh (1916‒1991) folgendermaßen vorzugehen: Entlang der Chronologie der Offenbarung gilt es, den koranischen Text in den richtigen historischen Kontext einzuordnen, um "die ursprüngliche Bedeutungsebene" des Korans aufzuspüren.

Im nächsten Schritt gilt es, diesen ursprünglichen Code in den heutigen Verstehenshorizont zu übertragen. Allerdings ohne dabei den Koran auf eine einzige Deutung, also zum Beispiel nur auf eine ethische Dimension, zu reduzieren.

Denn eine einzige Deutung würde der unerschöpflichen Allmacht Gottes nicht gerecht. Die Allmacht Gottes besteht gerade darin, dass er den Menschen zur Freiheit bestimmt hat. So kann der Mensch sich am besten intellektuell, spirituell und emotional entfalten. Aus dieser transzendenten Begegnung soll der Mensch Kraft schöpfen, um selbst die liebende Barmherzigkeit im Leben als schöpferischen Akt zu realisieren.

Mit dem ersten Band von Herders theologischem Koran-Kommentar hat Mouhanad Khorchide gezeigt, dass die deutschsprachige Islamforschung mit ihrer religiös und wissenschaftlich kohärenten Methode einen wichtigen Beitrag zur weltweiten Koranwissenschaft leisten kann.

Man darf gespannt sein, wie dieser und die weiteren Bände der Reihe eine kontroverse und produktive innermuslimische und interreligiöse Diskussion entfachen.

Musa Bagrac

© Qantara.de 2019

Mouhanad Khorchide, Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit, Herders theologischer Koran-Kommentar Band 1, Verlag Herder, Freiburg 2018, 352 Seiten.