Eine Tochter Beiruts

Die Dichterin und Malerin Etel Adnan ist im Alter von 96 Jahren in Paris verstorben. Der libanesische Autor Elias Khoury erinnert an die große Künstlerin. Ihr Tod ist auch eine Metapher für den Untergang Beiruts, das einmal eine Stadt der Worte und der Kultur war.

Von Elias Khoury

Selbst eine erzwungene Migration und ein Leben im Exil konnten dem Tod von Etel Adnan nichts von seiner Symbolik nehmen. Wir verdanken den Tod dem Leben. Doch heute, inmitten all des Leids und Elends, kommt er eher wie ein Verbrechen daher.

Das Leben von Etel Adnan verdient mehr als einen Nachruf. Ihre Bilder haben unsere Seelen verbunden wie leuchtend bunte Vögel, die von der Musik der Liebe mitgetragen werden. Adnan war eine Frau voller Fragen und von großer Unschuld. Als ich sie kennenlernte, wirkte sie auf mich wie ein 50-jähriges Kind. Damals, als Beirut der Gewalt noch mit Poesie begegnete und sie unsere Albträume in Träume verwandelte. Gestorben ist Etel dann als ein Kind von 96 Jahren. Wer ihre Dichtung liest, meint, Gedichte völlig neu zu entdecken. Wer ihre Bilder betrachtet, blickt durch ein Fenster direkt in die Seele und entdeckt die Unschuld der Farben. Ihr Roman "Sitt Marie Rose“ (Paris, 1978) ruft uns Worte in Erinnerung, die dieser brutalen Welt mit weiser Naivität und Lebensfreude begegnen.

Wenn ich ihre Gedichte noch einmal lese, ist mir, als hätte ich sie nie zuvor gelesen. In Etel Adnans Lyrik begegnen wir einem Gedicht, das uns liest, während wir es lesen. Viele Dinge irritieren uns: Die Vielfalt der Sprachen und Länder, der syrische Vater, die griechische Mutter, das Kind aus Beirut. Wir wechseln vom Französischen ins Englische und zu Fawwaz Traboulsis Übersetzungen ihrer Gedichte ins Arabische. So als seien alle Sprachen zu einer einzigen namenlosen verschmolzen. Ihre Sprache ist so klar wie Wasser, das die Tiefen unserer Seelen spiegelt und ihnen zuruft.

Ihre Poesie atmet Farbe und ihre Farbe atmet Poesie

Wer an ihre Malerei denkt, sieht zuallererst pure Farbe. Etel Adnan malte keine Bilder, sie malte Farben. Ihre Farben scheinen über der Leinwand zu schweben und den Blick des Betrachters einzufangen. Sie vermag es, unsere Augen mit Farbe zu füllen und diese grausame Welt mit der kindlicher Unschuld, mit Staunen und Liebe zu überstrahlen.

Der poetische Stil von Etel Adnan lässt sich kaum in eine literarische Kategorie pressen. Ihre Poesie atmet ebenso Farbe, wie ihre Farbe Poesie atmet. Ihre Sprache ist unser aller Sprache. Wer ihre Werke liest, geht auf eine Reise über alle Sprachgrenzen hinweg – von Vietnam nach Palästina, von der Heimat der amerikanischen Ureinwohner bis nach Beirut. Auf eine nie endende Reise, die die Leidenschaft für Freiheit und Gerechtigkeit in uns allen offenlegt.

Mit ihrer Lebensgefährtin, der Bildhauerin Simone Fattal, lebte Adnan an vielen Orten, von Kalifornien bis Beirut und Paris. Doch immer war es eine städtische Umgebung mit einem dichten Geflecht aus Straßen und Vierteln, vergleichbar und im Einklang mit Beirut.

Ölgemälde auf Leinwand von Etel Adan; Foto: Anders Sune Berg
Pure Farbe: "Etel Adnan malte keine Bilder, sie malte Farben. Ihre Farben scheinen über der Leinwand zu schweben und den Blick des Betrachters einzufangen. Sie vermag es, unsere Augen mit Farbe zu füllen und diese grausame Welt mit kindlicher Unschuld, Staunen und Liebe zu überstrahlen“, schreibt Elias Khoury

Kosmopolitisch wie die Stadt Beirut selbst

Ungeachtet ihrer vielen Identitäten blieb Adnan vor allem eine Künstlerin aus Beirut. Eigen wie die Stadt selbst und doch vertraut wie das Meer, das die Stadt umgibt: Sie war syrisch, griechisch, türkisch, frankophon und anglophon. So vereinte sie all diese Identitäten zu einem Rhythmus, der sowohl arabisch als auch typisch für Beirut war. Sie sprach zu den Tiefen unserer Menschlichkeit auf immer neue und wunderbare Weise mit jedem Wort, jedem Federschwung und jedem Pinselstrich.

Das gemeinsame Haus von Etel Adnan und Simone Fattal war ein Freiraum. Am Fuß des "kleinen Berges“ (im Stadtteil Ashrafieh, Anm. d. Red.) gelegen, meinten wir von ihrem Balkon mit Blick auf den Hafen von Beirut die Welt neu zu entdecken. Etel glich nichts und niemandem – außer ihrer Kunst und Poesie. Stets habe ich mich gefragt, wie sie es vermochte, rund um die Uhr Künstlerin zu sein. Wurde sie nie müde?

Kunst, Poesie und Schreiben waren für sie eher Lebenseinstellung als Ausdrucksmittel. Ihre Farben sind durchflutet von Leben. Sie strahlen Licht aus und spielen mit den Worten, so profan sie auch sein mögen. So sind sie Teil eines Gedichts, das sich im Werden befindet.

Ich weiß nicht, warum mich meine Trauer über den Tod einer Frau derart überraschte, von der ich immer annahm, sie würde nie sterben.

Steht es uns zu, die Tiefen der Trauer auszuloten, wenn jemand, der nicht gehen soll, Abschied nimmt?

Hat uns diese Person verlassen, obwohl wir weiter ihre Bilder sehen? Obwohl wir das Echo ihrer Worte noch tief in uns hören?

Der Tod ist die größte Lüge der Wahrheit. Er ist so real wie eine Illusion oder eine Redewendung.

Vielleicht rührt uns das Gefühl der Trauer so tief, weil Adnan mitten im tragischen und grausamen Tod der Stadt Beirut selbst gestorben. Sie lag im Sterben, als sie mitansehen musste, wie die Worte selbst in einer Stadt sterben, deren Name einst ein Synonym für Worte war.

Beirut: der Gnade der Unbarmherzigen ausgeliefert und alleingelassen

Die Malerin und Dichterin Etel Adnan war keine Libanesin, und doch wurde ihr Name zu einem der Namen von Beirut. Die Stadt wurde von Menschen wie Adnan geprägt, die die kosmopolitische Hafenstadt mit Blick auf das Unbekannte wählten, um eine Stadt zu entwerfen, die die ganze Bandbreite der arabischer Tragik beheimatet: die Stadt der Dichter, Künstler, Ausgegrenzten und Geflüchteten.

Beirut ist von Widersprüchen geprägt, seitdem es sich zu einer modernen Stadt entwickelt hat. Charakter und Wesen der Stadt entstanden aber als ein kreatives libanesisch-arabisches Wagnis, das einen Weg zur Freiheit wies.

Während wir um eine Frau trauern, die nie sterben durfte, fürchten wir um unsere Stadt, die der Gnade der Unbarmherzigen ausgeliefert und alleingelassen ist.

Als Etel Adnan gegangen ist, hat sie Beirut nicht verlassen.

Sie trug all den Schmerz und verband ihn mit Unschuld, während Unschuldige getötet wurden. Unser Staunen über die Entwicklungen in der Stadt, hat sich verwandelt in ein Entsetzen über die soziopathische Fantasie der Tyrannen, über den Hunger blutrünstiger Machtmenschen und über die Brutalität der lokalen Warlords und Magnaten.

Ich wische mir die Traurigkeit aus den Augen. Ich sehe eine von Farben durchzogene Wolke und den Rhythmus neuer Worte.

Werden Dichter zu Wolken, wenn sie sterben?

Werden Farben zu Vögeln, die einem Gemälde entsteigen, um die Leere in unserem Leben zu füllen?

Ist der Tod lediglich eine Metapher für das Leben?

Ich frage dich, liebe Etel. Warum antwortest du nicht?

Elias Khoury

© Qantara.de 2021

Aus dem Englischen übersetzt von Peter Lammers

Elias Khoury, geboren 1948 in Beirut, ist Romanautor, Dramatiker, Literaturkritiker und Herausgeber. Er lebt und arbeitet in Beirut. Elias Khoury ist einer der führenden Schriftsteller und Intellektuellen in der arabischen Welt und Autor von zehn Romanen und drei Theaterstücken.



Etel Adnan, geboren 1925 in Beirut als Tochter einer griechisch-orthodoxen Mutter aus Smyrna (heute Izmir) und eines muslimisch-türkischen Vaters aus Damaskus. 1976 verließ sie Beirut endgültig während des libanesischen Bürgerkrieges und lebte bis zu ihrem Tod im November 2021 im Exil in Paris.