Drehscheiben des politischen Protests

Von Casablanca bis Manama, von Kairo bis Istanbul: Für die Protestbewegungen in der Region spielen Orte wie Cafés, Jugendclubs oder Moscheen eine wichtige Rolle. Ein Forschungsprojekt am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin widmet sich den Räumen des Widerstands. Von Jannis Hagmann

Von Jannis Hagmann

Auf einmal standen die Autos da. Neben den glänzenden Karossen waren noch die Graffitis der Straßenkünstler an den Mauern zu sehen. Der kreative Puls Casablancas hatte hier geschlagen. Konzerte, Ausstellungen und Tanz-Performances hatten die jungen Leute in die Kulturfabrik "Les Abattoir" im Osten der marokkanischen Küstenstadt gezogen. Nun also parkten Staatsangestellte ihre Wagen auf dem Gelände, Reihe in Reihe.

Die Autos, die im Februar 2013 überraschend auftauchten, waren ein Versuch der Stadtverwaltung, auf dem umstrittenen Gelände eines ehemaligen Schlachthauses Fakten zu schaffen und es von den Künstlern zurückzuerobern. So schnell allerdings gaben diese sich nicht geschlagen. Via Facebook, Twitter und Blogs mobilisierten sie Unterstützer, um ihre Kulturfabrik zu verteidigen und ihren Anspruch auf den Raum geltend zu machen.

Metropolen als Zentren des Protests

Ob Casablanca, Kairo oder Istanbul: Orte wie die Kulturfabrik spielen in vielen Ländern der Region eine zentrale Rolle für politische Protestbewegungen. Der Tahrirplatz im Herzen Kairos, der Inbegriff des Arabischen Frühlings, ist nur das prominenteste Beispiel.

Kulturfabrik "Les Abattoir" in Casablanca; Foto: © Aïcha El Beloui
Kampf um kulturelle Freiräume: Als die Stadtverwaltung von Casablanca beabsichtigte, auf dem Gelände eines ehemaligen Schlachthauses Fakten zu schaffen und es von den Künstlern zurückzuerobern mobilisierten sie über Facebook, Twitter & Co. Unterstützer, um ihre Kulturfabrik zu verteidigen.

Auch in Istanbul entzündeten sich die Proteste gegen die Erdogan-Regierung an einem auf den ersten Blick wenig bedeutsamen Ort, dem Gezipark. Und in Bahrain rissen die Machthaber 2011 ein 90 Meter hohes Monument nieder, nachdem der Kreisverkehr, auf dem es stand, zum symbolträchtigen Zentrum eines Aufstands geworden war.

Räume stehen nun im Fokus eines Forschungsprojekts am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin, genauer gesagt: die Bedeutung von Räumen für Protestbewegungen und politische Partizipation. Denn Raum – das steht seit dem spatial turn in den Sozialwissenschaften fest – ist nicht nur eine geographische Größe, sondern steht in ständiger Wechselwirkung mit sozialen Verhältnissen und Praktiken. "In der Partizipationsforschung aber", sagt Sarah Jurkiewicz, die das Projekt am ZMO koordiniert, "wird Räumen zu wenig Beachtung geschenkt."

Orte der Mobilisierung

Das soll sich nun ändern. "Räume der Partizipation – Topographien des politischen und sozialen Wandels in Marokko, Ägypten und Palästina" haben die Forscher ihr Projekt genannt, das drei Jahre lang laufen soll. Mit 400.000 Euro wird es von der Volkswagen-Stiftung gefördert.

Im Mittelpunkt steht die Frage, warum sich spezifische Räume in bestimmten Kontexten zu "Orten der Mobilisierung" entwickeln. "In Marokko kann das ein Ort wie die Kulturfabrik sein", erklärt Jurkiewicz, "während in Ägypten oder Palästina ein Jugendzentrum oder ein Café als Raum der Mobilisierung hervortreten kann."

Insgesamt 14 Wissenschaftler wollen sich verschiedene Aktivistengruppen anschauen und deren Beziehungen zum Raum erforschen. Ihren Untersuchungen legen sie eine umfassende Definition von politischer Partizipation zugrunde und knüpfen damit an eine reiche, soziologisch inspirierte Forschung über Proteste in der arabischen Welt an.

Denn längst nicht mehr betrachten Experten nur Wahlen oder explizit politisches Engagement als politische Teilhabe. Allein im Tragen eines Bartes etwa sehen Partizipationsforscher unter bestimmten Umständen – zum Beispiel unter der restaurierten Militärherrschaft im heutigen Ägypten – schon einen Akt des Protests und der politischen Teilhabe.

Muslimbrüder-Protestcamp Rabaa al-Adawiya in Kairo; Foto: Marwan Naamani/AFP/Getty Images
Physische Räume als Notwendigkeit für gemeinsame Artikulation: Unterstützer des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi hatten im Sommer 2013 ein Protestcamp auf einer Straßenkreuzung vor der Kairoer Rabaa al-Adawiya-Moschee im Vorort Nasr City errichtet. Bei der gewaltsamen Räumung des Lagers kamen mehr als einhundert Menschen ums Leben.

Für Randa Abu Bakr, die das Ägypten-Team des Projekts leitet, ist politische Partizipation das Streben von Individuen nach Repräsentation. "Dabei müssen sie nicht notwendigerweise eine kollektive Bewegung bilden", sagt sie. So widmet sich ihr Team etwa dem Phänomen der politischen Cartoons, die Internetnutzer selbst entwerfen und im virtuellen Raum des Internets verbreiten. Dadurch verliehen sie sich eine Stimme, sagt Abu Bakr, ohne notwendigerweise Teil eines Kollektivs zu sein.

Inoffizielle Privatisierung des Raums

Mehr Gemeinsamkeiten mit klassischen Protestbewegungen sieht Abu Bakr, die an der Kairo-Universität Literaturwissenschaft lehrt, in den wochenlangen Protesten gegen die Entmachtung Mohammed Mursis. Unterstützer des islamistischen Präsidenten hatten im Sommer 2013 ein Protestcamp auf einer Straßenkreuzung vor der Kairoer Rabaa al-Adawiya-Moschee errichtet. Anders als im Fall der Cartoons hätten die Demonstranten hier den physischen Raum gebraucht, um sich gemeinsam artikulieren zu können.

An den Zugangsstraßen zu der Kreuzung errichteten die Mursi-Unterstützer Einlasskontrollen. Diese inoffizielle Privatisierung des Raums, argumentiert Abu Bakr, habe der Konfrontation mit dem Staat gedient. Das Camp sei ein Versuch gewesen, die Dynamiken des Tahrirplatzes unter islamischem Vorzeichen zu wiederholen. Ähnlich wie im Fall der Kulturfabrik "Les Abattoir" in Casablanca versuchten die Demonstranten, sich den städtischen Raum anzueignen und dem Staat so die Kontrolle über das Gelände zu entziehen.

Die Kulturfabrik in Casablanca ist dem Parkplatz übrigens bis heute nicht gewichen. Im Oktober erst veranstalteten Künstler und Aktivisten das "SummerLab 2014" – kein Festival, wie die Veranstalter betonen, sondern ein Mitmach-Kulturevent, das für alle offen stand. Kreative unterschiedlicher Disziplinen waren eingeladen sich auszuprobieren. Workshops, Performances, Diskussionsgruppen, Konzerte oder Stadttouren – der Raum zum Ausprobieren war da, die Ideen brachten die Leute selbst mit.

Jannis Hagmann

© Qantara.de 2014