Aktivisten fordern einen Platz am runden Tisch

Am 15. Juni fand in Algerien eine "Nationale Konferenz der Zivilgesellschaft" statt, wo über die demokratische Zukunft des Landes diskutiert wurde. Doch in einer Zeit, in der die Zivilgesellschaft erst langsam erwacht, ist fraglich, ob die Bürger wirklich in der Lage sind, diesen Wandel zu beeinflussen. Von Nourredine Bessadi

Von Nourredine Bessadi

Seit dem Beginn der Volksaufstände in Algerien argumentieren die traditionellen Machthaber, dieses Phänomen sei lediglich eine "Protestbewegung", die keine ernsthaften Vorschläge machen könne. In den letzten Wochen hingegen trafen sich viele zivilgesellschaftliche Organisationen mehrmals zum Thema "Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft". Bei diesen gemeinsamen Treffen sollten Pläne gemacht werden, wie eine Verhandlungslösung und eine friedliche Resolution zur algerischen Regierungskrise entstehen könne.

Ob ein solcher Ansatz relevant sein kann und ob die teilnehmenden Organisationen überhaupt legitim sind, wurde allerdings von mehreren Seiten in Frage gestellt. Manche Beobachter fragen sich auch, was die Zivilgesellschaft den Algeriern eigentlich bieten kann, insbesondere was die Rechte der Bürger und Minderheiten betrifft. Wir müssen uns daran erinnern, dass die Zivilgesellschaft in den letzten beiden Jahrzehnten kaum eine Rolle gespielt hat. Insbesondere dadurch, dass im Jahr 2012 einige restriktive Versammlungsgesetze eingeführt wurden, hat sich ihr Bewegungsspielraum deutlich verringert.

Das Gespenst der "ausländischen Steuerung"

So ist es heute schwierig, ein umfassendes Bild der algerischen Zivilgesellschaft zu bekommen. Die 100.000 offiziellen Gruppen geben nicht wirklich bekannt, welche von ihnen tatsächlich aktiv sind und welche nicht. Dass bei der genauen Anzahl der Organisationen Verwirrung herrscht, spielt dem Staat in die Hände und dient diesem als Rechtfertigung für "Säuberungsaktionen", die die Zivilgesellschaft weiter einschränken.

Nach wie vor spielt dabei auch das Gespenst der "ausländischen Steuerung" eine Rolle: Angebliche Verschwörer werden beschuldigt, Hilfe von fremden Mächten zu bekommen, die den Staat destabilisieren und die nationale Harmonie stören wollen. Und dann ist da noch das Thema des gesetzlichen Schutzes: Werden Organisationen als Bedrohung der herrschenden Klasse wahrgenommen, werden sie und ihre Mitglieder regelmäßig bedroht.

Der algerische Aktivist Nassim Balla; Quelle: medium.org
Civil society lacks legitimacy: "People are used to regarding CSOs as receptacles of bad behaviour and corruption, as organisations that serve a handful of individuals intent on profiteering or building their own political career," explains political activist Nassim Balla. "Most Algerians do not trust them at all"

"Die algerische Zivilgesellschaft sollte eigentlich eine zentrale Rolle als Gegengewicht zu den Mächtigen spielen, aber es mangelt ihr an Legitimität", erklärt Nassim Balla, ein politischer Aktivist, der an bürgerrechtlichen Themen arbeitet.

"Die Menschen sind es gewöhnt, zivilgesellschaftliche Organisationen als Beispiele für Korruption und schlechtes Verhalten zu betrachten – als Vereine, die einzelnen Personen dazu verhelfen, finanziell zu profitieren oder ihre eigene politische Karriere zu fördern. Sie werden als Werkzeuge einzelner Individuen betrachtet, die ihre Rolle im öffentlichen Leben stärken wollen. Die meisten Algerier vertrauen ihnen überhaupt nicht."

Trennung zwischen der Welt der Politik und der Zivilgesellschaft

Er fügt noch hinzu, dass von "zivilgesellschaftlichen Organisationen erwartet wird, dass sie ausschließlich wohltätige Rollen übernehmen. Häufig wird gefragt: 'Was hat eine bürgerliche Vereinigung in der Politik zu suchen?'"

In der kollektiven Psyche Algeriens ist die Politik ausschließlich Sache der Parteien. Andere Organisationen sollen sich nicht einmischen. Mit anderen Worten: Über die Jahre hinweg ist eine deutliche Trennung zwischen der Welt der Politik und der Zivilgesellschaft entstanden.

Für Aomar Ait Slimani, einen Menschenrechtsaktivisten, der bereits an mehreren zivilgesellschaftlichen Treffen teilgenommen hat, sind "Bemühungen von Gruppen aller Seiten des politischen Spektrums" erkennbar, um "ideologische Unterschiede zu überwinden und eine gemeinsame Basis zu finden, die der Zivilgesellschaft beim gesellschaftlichen Wandel eine zentrale Rolle zuweisen könnte. Dies allein ist bereits ein enormer Fortschritt, wenn wir uns daran erinnern, wie sehr die algerische Zivilgesellschaft seit Jahrzehnten von Uneinigkeit geprägt ist."

Seiner Ansicht nach "könnte die Strategie, die aus der Arbeit der nationalen Konferenz entsteht, als glaubwürdige Richtschnur dienen – um all die guten Absichten zu sammeln, die einen echten Wandel hervorbringen können und den Zielen der algerischen Bevölkerung entsprechen."

Zivilgesellschaft als Katalysator für Reformen

Was die Bürger- und Minderheitenrechte angeht, denkt Aomar, die Zivilgesellschaft könne "ein Katalysator für Reformen sein, da in den bürgerlichen Organisationen gesellschaftliche Themen offener diskutiert werden können. Zu diesen Themen gehören auch die individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten, die Rechte der Frauen und die Rechte der religiösen Minderheiten in Algerien."

In der Tat muss die Zivilgesellschaft diese Krise nutzen, um ihren Einfluss auf das politische Territorium zu vergrößern. Nach einer extrem langen Phase der Marginalisierung sollte sie sich nun als wichtiger politischer Akteur etablieren. Diese Idee, die gesamte algerische Zivilgesellschaft solle jetzt das Recht beanspruchen, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, ist relativ neu.

Teilnehmer an der Nationalen Konferenz der Zivilgesellschaft am 15. Juni 2019 in Algiers; Quelle: Nourredine Bessadi
Eine zivilgesellschaftliche "Roadmap" als glaubwürdiger Maßstab: Laut Aomar Ait Slimani, einem Menschenrechtsaktivisten, der an verschiedenen zivilgesellschaftlichen Treffen teilgenommen hat, "gibt es derzeit gemeinsame Anstrengungen von Gruppen auf allen Seiten des politischen Spektrums, um ideologische Unterschiede zu überwinden und eine gemeinsame Basis zu finden, die der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle beim Übergang geben könnte. Das ist ein großer Fortschritt angesichts der völligen Uneinigkeit, den die Zivilgesellschaft in Algerien jahrzehntelang erlebt hat."

Laut Hanane, einer Aktivistin für Frauenrechte, müssen "alle von der Zivilgesellschaft organisierten Debattenplätze von progressiven Stimmen besetzt werden, um die verschiedenen Orientierungen zu beeinflussen und die Rechte der Frauen in Algerien nach vorn zu bringen." Sie gibt zu, dass diese Aufgabe nicht einfach ist, da bei den entsprechenden Treffen auch viele konservative islamische Gruppen teilnehmen. Aber sie ist überzeugt von der "entscheidenden Rolle, die die Zivilgesellschaft jetzt als führender Akteur auf der politischen Bühne spielen kann."

Viele Beobachter sind der Ansicht, die Zukunft Algerien sei dadurch bestimmt, dass die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle als Vermittler erhält. Sie müsse an den Debatten über gesellschaftliche Themen teilnehmen und als Gegengewicht dienen, um die politische Szene zu beeinflussen. Und dies ist immerhin etwas, das es seit der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 kaum gegeben hat.

Nourredine Bessadi

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff