"Durchbrüche" sind derzeit nicht gefragt

Die israelische Außenministerin Zipi Livni hat die besten Chancen, die nächste Regierungskoalition zu bilden und Regierungschefin zu werden. Olmerts Nachfolgerin muss sich der großen Verantwortung für die Zukunft Israels und der Region bewusst sein – und voreilige Beschlüsse unbedingt vermeiden. Rainer Sollich kommentiert

Israel Außenministerin Zipi Livni gewinnt Kadima Wahl im September 2008; Foto: AP
Zipi Livni steht nach der Wahl zur Vorsitzenden der Kadima-Partei vor großen Herausforderungen: Sie muss innerhalb von sechs Wochen eine Regierungskoalition bilden, damit sie, ohne Neuwahlen, Regierungschefin werden kann

​​Noch ist nicht sicher, dass der nächste israelische Regierungschef eine Frau sein wird. Aber Zipi Livni ist offiziell beauftragt und hat sicherlich die besten Chancen, eine Regierungskoalition zu bilden. Sie muss freilich erst noch erfolgreich eine Koalition aushandeln. Und dafür wird sie einiges Verhandlungsgeschick, aber auch sehr viel Machtinstinkt benötigen.

Denn sie muss sich innerhalb eines komplexen innenpolitischen Interessengeflechts und eines von Männern dominierten Establishments durchsetzen. Und diese Männer schießen verbal mitunter scharf. So erklärte ein Vertrauter von Oppositionschef Benjam Netanjahu, die derzeit noch als Außenministerin amtierende Livni wirke "erbärmlich", wenn sie "versuche", staatsmännisch aufzutreten.

Wenn es um Machtfragen geht, wird der Ton schnell rauh. Die ehemalige Mossad-Agentin wird sich daran gewöhnen können. Es wappnet sie auch für mögliche spätere, weit schwierigere Verhandlungen in nationalen Kernfragen.

Verantwortung für die Zukunft Israels

Die großen Herausforderungen sind bekannt: Olmerts Nachfolger(in) muss sich der großen Verantwortung für die Zukunft Israels und der Region bewusst sein und in diesem Kontext ebenso standfest wie klug handeln. Voreilige Beschlüsse oder Aktionen müssen in Kriegs-, aber auch in Friedensfragen unbedingt vermieden werden.

Vor allem ein Fehler wie der für alle Beteiligten (außer der Hisbollah) verheerende Libanon-Feldzug darf sich nicht wiederholen. Und ein Militärschlag gegen den Iran wäre ein solcher Fehler, solange ein atomares Bedrohungspotenzial Teherans nicht nachweisbar ist. Er würde nur erneut die "arabische Straße" gegen Israel aufbringen.

Zugleich besteht angesichts der ohnehin verfahrenen Lage in den Palästinensergebieten keine Notwendigkeit, vorschnell faule oder nicht tragfähige Kompromisse einzugehen, bloß weil ein derzeit noch amtierender und bislang erfolgloser US-Präsident seine Amtszeit gerne mit einem israelisch-palästinensischen Friedensschluss krönen würde.

Iranische und israelische Flagge; Montage: Peter Steinmetz
Livni setzt, ähnlich wie beim Israel-Pälästina Konflikt, auch beim Atomstreit mit dem Iran auf eine diplomatische Lösung. Ein international koordiniertes Vorgehen und eine Verschärfung der Sanktionen sind ihre Mittel im Umgang mit Teherans Regierung

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Vielmehr müssen die weiteren Weichen für den notwendigen historischen Ausgleich mit den arabischen Nachbarn und insbesondere im Kernkonflikt mit den Palästinensern behutsam und mit strategischer Weitsicht gestellt werden.

Hoffnungslosigkeit und Fanatismus sind tonangebend

Die Menschen in Nahost leiden seit Jahrzehnten unter Gewalt, Terror, Besatzung und fehlender Entwicklung. Auf beiden Seiten des Konfliktlinie sind viele sind das Denken in den Kategorien von Misstrauen und Revanche gewohnt und lassen sich in Krisensituationen oder im Falle dauerhaft fehlender Hoffnungsperspektiven erschreckend einfach für gewaltsame Lösungsversuche gewinnen, obwohl diese die eigene Lage stets nur verschlimmern.

Einfache Lösungen wird es aus verschiedenen Gründen auch für Olmerts Nachfolger(in) nicht geben. Nicht nur ist und bleibt der Kernkonflikt nur sehr schwer lösbar, auch die Bedingungen haben sich teils verschlechtert, gerade auf palästinensischer Seite.

Trotz einer bislang weitgehend befolgten Waffenruhe bleibt die Lage dort explosiv: Armut, Hoffnungslosigkeit und Fanatismus sind tonangebend. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas verfügt im Gazastreifen bekanntermaßen über keinen Einfluss und könnte auch das Westjordanland an die radikale Hamas-Bewegung mittelfristig verlieren.

Der auch aus europäischer Sicht nicht nachvollziehbare fortschreitende israelische Siedlungsbau im Westjordanland und in Ostjerusalem stärkt die Hamas zusätzlich und schwächt auf gefährliche Weise die Legitimation von Mahmud Abbas als einzigem bisher von Israel offiziell anerkannten palästinensischen Verhandlungspartner. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Israels politischer Kurs gerade in diesem heiklen Punkt aufgrund der komplexen innenpolitischen Machtverhältnisse nicht leicht umkehren lassen wird.

Kluge Kompromisse sind gefragt

Israelische Siedlungen in Ost-Jerusalem; Foto: AP
Der anhaltende israelische Siedlungsbau im Westjordanland und in Ostjerusalem überschattet für viele Palästinenser die Friedensgespräche im Nahen Osten

​​Allerdings kann - und muss - auch an hoffnungsvoll stimmende Entwicklungen angeknüpft werden. Der begonnene indirekte Dialog mit dem syrischen Regime zählt ebenso dazu wie die mehrfach unterstrichene Bereitschaft der arabischen Staaten zu einem historischen Kompromiss, auch wenn Israel einige der geforderten Bedingungen wie etwa ein Rückkehrrecht für alle vertriebenen oder geflohenen Palästinenser mit Sicherheit nicht erfüllen können wird. Hier müssen kluge Kompromisse gefunden werden. Was zählt, ist das richtige Ziel: Israel und Palästina als zwei existenzfähige Nachbarstaaten, deren Bürger in Würde und Sicherheit leben können müssen.

Großes Obstruktionspotenzial der Aussöhnungsgegner

Die eigentliche Regierungskunst wird in den kommenden Monaten im Optimalfall darin bestehen, die direkten und indirekten Gespräche mit Palästinensern und Syrern gegebenenfalls auch hinter den Kulissen gezielt voranzubringen, ohne den Gegnern einer Aussöhnung neue Angriffsflächen zu bieten.

Und das ist schwer genug, denn das Obstruktionspotenzial der Aussöhnungsgegner ist nach wie vor groß, kaum berechenbar - und auch deshalb so gefährlich, weil sich der Widerstand auf beiden Seiten stets gegenseitig verstärkt. Zu dieser Gruppe zählen nach wie vor regionale Schwergewichte wie der Hauptteil der Hamas-Bewegung, das Regime im Iran und die libanesische Hisbollah, aber auch einflussreiche Hardliner und Verblendete auf israelischer Seite.

In diesem Umfeld kann jeder israelische Regierungschef aufgerieben werden. Amerikaner, Europäer und potenzielle arabische Friedenspartner sollten deshalb aus dem Scheitern der Oslo-Verträge lernen und Israel sowie die anderen Konfliktbeteiligten in der jetzigen Phase nicht zu unzureichend durchdachten "historischen Durchbrüchen" drängen.

Es kommt darauf an, die laufenden Prozesse in Gang zu halten und Vorbereitungen zu treffen für das bisher kaum möglich Erscheinende: einen für alle Seiten absehbar schmerzhaften, aber gerechten Kompromiss unter Vermittlung einer neuen und in dieser Hinsicht hoffentlich endlich entschlossenen US-Regierung.

Sollte diese Vision trotz aller Hindernisse eines Tages wahr werden, kämen auch die Europäer ins Spiel: nicht nur als dringend benötigte Geldgeber und wegen des Vertrauens, das sie partiell auf beiden Seiten genießen – sondern auch wegen ihrer unbestreitbar großen Kompetenz in so wichtigen Bereichen wie Völkerversöhnung, Aufbau von Zivilgesellschaften, Post-Konflikt-Management und regionale Integration.

Rainer Sollich

© Qantara 2008

Rainer Sollich ist Leiter der arabischen Hörfunkredaktion der Deutschen Welle.

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