Die Einwanderung wird museumsreif

Das Dokumentationszentrum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiD) sammelt seit 25 Jahren persönliche Objekte und Geschichten von Einwanderern. Jetzt plant der Verein ein Zentrales Deutsches Migrationsmuseum. Stefan Dege informiert

Von Stefan Dege

Männer, Frauen und Kinder bevölkern den Flur. Der Kölner Fotograf Guenay Ulutuncok hat sie lebensgroß abgelichtet und die Porträts zu Familien gruppiert. Jedes Alter ist vertreten. Distanz und Nähe zur deutschen Mehrheitsgesellschaft lassen sich an Körperhaltung, Mimik und Kleidung erkennen. "Weil sie so anschaulich ist, wird die Ausstellung gerne von Schulen ausgeliehen", sagt Robert Fuchs. "Um zu zeigen, wie Integration in Deutschland funktioniert."

Mehrmals im Monat führt der freundliche junge Mann Besucher durch die Räume von Domid. Fuchs ist Historiker und arbeitet für das "Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland".

Er ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. Fünf Festangestellte, zumeist Wissenschaftler, beschäftigt der Verein, dazu noch sieben freie Projektmitarbeiter. Die Stadt Köln und das Land Nordrhein-Westfalen geben das Geld dafür.

Aufbruch und Ankommen

Als türkischstämmige Einwanderer 1990 Domid gründeten, trugen sie erste Erinnerungsstücke zusammen: Koffer, Zugfahrkarten, Radio, Zeitungen, unzählige Fotos und vieles mehr. Die Objekte erzählten vom Aufbruch in die Fremde, vom Leben in Deutschland, vom Ankommen in einer neuen Welt. "Die Menschen wollten und wollen ihre Geschichten erzählen", weiß Fuchs. Aus diesem Grund hat Domid tausende von Interviews mit Einwanderern geführt.

Getönte Folien hängen an den Fenstern und dämpfen das einfallende Licht. Mit verheißungsvollem Blick führt der Historiker in das "Allerheiligste", das Depot. Hinter ihm fällt die Tür ins Schloss. Leuchtröhren flackern und werfen ihr fahles Licht auf meterlange graue Blechregale, die überquellen von plastikummantelten Objekten.

Schildertafel, mit der in der Türkei Arbeitskräfte geworben wurden; Foto: DW/S. Dege
Der Historiker Robert Fuchs zeigt eine Schildertafel, mit der in der Türkei um Arbeitskräfte geworben wurde. Vor 40 Jahren suchten deutsche Firmen damit in Istanbul nach türkischen Arbeitskräften: "Tornaci, Cileci, Dokumaci" steht auf schreiend roten Emailplatten.

An jedem hängt ein briefmarkengroßes Papierschild, wie in der Asservatenkammer eines Polizeireviers. Die Bestandsnummer verweist auf eine dazugehörige Geschichte im Computer. Journalisten und Wissenschaftler kommen regelmäßig hierher, um zu recherchieren. Die setzen sich dann in die kleine, aber feine Spezialbibliothek des Vereins, wo viel "graue", das heißt im Selbstverlag entstandene Literatur lagert.

Unbekannte Migrationsgeschichten

"Das hier ist die Haube einer koreanischen Krankenschwester." Vorsichtig greift Fuchs in das Regal. Auch die Haube ist in eine transparente Folie gehüllt, zum Schutz vor Staub und UV-Licht. Die junge Südkoreanerin, die sie einst trug, kam in den 70ger Jahren nach Deutschland. Damals mangelte es an examinierten Pflegekräften. Doch sollte sie ihren Entschluss bald bereuen: "Eine Krankenschwester gilt in Südkorea viel mehr als bei uns in Deutschland", erklärt Fuchs.

"Hier musste die Frau Pflegedienste schieben. Dabei durfte sie nicht einmal ihre Haube tragen." Neben Krankenschwestern folgten, was kaum einer weiß, auch viele koreanische Bergarbeiter dem Ruf nach Deutschland. Nachlesen lassen sich solche und andere Episoden deutscher Migrationsgeschichte in den Editionen des Vereins Domid.

Aus dem "Materialraum Plastik" heraus führt der Rundgang in das Depot "Metall und Elektro". Stolz lupft Fuchs die Plastikbedeckung über einem mannshohen Schilderständer. Vor 40 Jahren suchten deutsche Firmen damit in Istanbul nach türkischen Arbeitskräften: "Tornaci, Cileci, Dokumaci" steht auf schreiend roten Emailplatten. Auf dieses Objekt ist Historiker Fuchs besonders stolz: "Denn es zeigt wunderbar die transnationale Verbindung." Dafür sorgten deutsche Anwerbestellen seinerzeit auch in Portugal, Griechenland oder Südkorea.

Erinnerungsstücke als Flachware

Die Brücke zur Heimat schlugen viele Einwanderer zunächst über die Medien. Wer konnte, legte sich nach der Ankunft in Deutschland einen Weltempfänger zu. Neben vielen anderen liegt heute auch ein Radio der türkischen Familie Genc im Depotregal, die 1993 Opfer eines Brandanschlags in Solingen geworden war, bei dem fünf Menschen starben: Helfer brachten das Gerät in die Notunterkunft, nachdem das Haus der Familie in Flammen aufgegangen war. "Das zeigt, welches Vertrauen unser Verein bei Einwanderern genießt", glaubt Fuchs. Unübersehbar: Ausländerfeindlichkeit ist Teil der Migrationsgeschichte.

Das Radio der türkischen Familie Genc; Foto: DW/S.Dege
Ausländerfeindlichkeit gehört zur Migrationsgeschichte: Das Radio der türkischen Familie Genc, die bei einem Anschlag in Solingen drei Mitglieder verlor.

Viele Objekte bestimmten einmal den Alltag von Migranten. Zum Beispiel die dreiteilige Schuhputzbank aus gelb glänzendem Messing. Mit ihr wollte ein Türke Berliner Kundschaft erobern. Doch fehlte ihm die Arbeitserlaubnis. Am Ende war es Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen höchstpersönlich, der das begehrte Papier ausstellte. Damit warb der Mann dann für sich als "Berlins einziger orientalischer Schuhputzmeister" und bezog Posten auf dem Kurfürstendamm.

Einige Türen weiter beginnt das Depot "Flachware": Plakate, Flyer, Zeitungen, seltene Zeitschriften, Schallplatten, Fotos und viele Musikkassetten lagern hier. Eine Dokumentarin sortiert und archiviert ausgeschnittene Zeitungsartikel. Zu ihren Schätzen gehören die Ausgaben einer sardischen Zeitschrift, mit der sich die dortige Regionalregierung an die Auswanderer von der Mittelmeerinsel wandte – "mit Tipps und Ratschlägen für die Fremde."

Im Depot stapeln sich die Nachlässe von Einwanderern. Vieles ist noch unbearbeitet. Es riecht süßlich-staubig. Die Klimaanlage summt und surrt. Ihr Rauschen legt sich wie ein Grundton über die hier versammelten Migrantenschicksale. Denn zur Flachware zählt auch die Sammlung an "Kassettenbriefen": Gastarbeiter besprachen handelsübliche Kassetten und schickten die gesprochene Botschaft in die Heimat. Kinder erzählten im Gegenzug vom Leben bei den Großeltern. "Facebook, Skype und WhatsApp gab es ja noch nicht", sagt Historiker Fuchs, "die Kommunikation mit den Lieben daheim war viel umständlicher als heute."

Irgendwo blubbert eine Kaffeemaschine. Der Vereinssitz von Domid verströmt den Charme einer Büroetage im Finanzamt, obwohl er über den Dächern von Ehrenfeld residiert, einem multikulturellen Viertel von Köln. Doch damit könnte bald Schluss sein. Nach Jahren des Sammelns, Bewahrens und Forschens macht der Verein jetzt Ernst mit seiner Museumsidee. Im April lädt er ein zum Startschuss für ein zentrales Migrationsmuseum in Deutschland. Rita Süssmuth, die frühere Bundestagspräsidentin, soll das Projekt der Öffentlichkeit vorstellen. Zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung leitete die CDU-Politikerin die "Unabhängige Kommission Zuwanderung". Deren Konzept für ein Einwanderungsrecht ist bis heute nicht verwirklicht.

Kasettenbriefe von Gastarbeitern in Deutschland; Foto: DW/ S. Dege
"Kassettenbriefe" sind handelsübliche Kassetten, die von Gastarbeitern in Deutschland besprochen und dann als "gesprochene Botschaft" in die Heimat geschickt wurden. "Facebook, Skype und WhatsApp gab es ja noch nicht", sagt Historiker Robert Fuchs.

Einwanderungsland Deutschland

Die Debatte dauert an. "Deutschland ist heute, wie und was es ist", konstatiert Historiker Fuchs, "eben weil es die Einwanderung gegeben hat." Sei es mit Musik, Kunst, Esskultur oder im Arbeitsalltag - wie die Zuwanderer das Land veränderten, das will der Verein im künftigen Museum zeigen: "Wo ist der Input, wo ist die Wirkung, die entfaltet worden ist?" Das Museum soll Migration als Normalfall zeigen. Deutschland würde so dem Beispiel Frankreichs und der USA folgen.

In beiden Ländern gibt es schon solche Museen, Migration ist eines der Topthemen der Politik. "Das stünde auch Deutschland gut an", glaubt Fuchs.

So will der Verein jetzt auf Standortsuche gehen. Wo das Museum errichtet werden soll, ist noch nicht entschieden. "Es sollte schon eine Stadt sein, die von Einwanderung geprägt ist", sagt Fuchs, "und die uns ausreichend unterstützen kann." Berlin käme in Frage oder Stuttgart, und natürlich Köln am Rhein. Bis dahin bilden die fotografierten Einwanderer und ihre Nachkommen ein stummes Spalier. In der vierten Etage des Bezirksrathauses von Köln-Ehrenfeld wirken sie aber wie fröhliche Gralshüter junger deutscher Geschichte.

Stefan Dege

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