Die Verkürzung des Islam muss aufhören

In der Türkei gibt es eine Elite, die zugleich grossstädtisch und muslimisch ist und Moderne und Islam verbindet. Denn die islamische Tradition ist reicher, als Fundamentalisten uns glauben machen, sagt Zafer Senocak.

Zumindest in der Türkei gibt es sie schon: eine Elite, die zugleich grossstädtisch und muslimisch ist und Moderne und Islam verbindet. Demokratie eingeschlossen? Die islamische Tradition ist reicher, als Fundamentalisten uns glauben machen, sagt Zafer Senocak. Mit dem deutschen Autor türkischer Herkunft sprach Joachim Güntner.

Zafer Senocak, Buchcover
Zafer Senocak, Buchcover

​​In Artikeln für deutsche Blätter sind Sie ein energischer Verfechter westlicher Werte und ein harter Kritiker des Islam. Steckt da auch etwas von einem Renegaten dahinter?

Zafer Senocak: Nein. In meiner Literatur mache ich, was die Türkei seit 150 Jahren tut: ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe zu einer neuen eigenen Identität verbinden. Es ist ein spannendes muslimisches Land. Wenn Sie einen Renegaten wittern, kommt das daher, dass Sie wahrscheinlich ein einseitiges Türkei-Bild im Kopf haben.

Spannend ist bereits Ihre Familie: die Mutter säkular orientiert, Lehrerin, eine berufstätige Frau schon in den 1950er Jahren. Ihr Vater Publizist, eher traditionell, als Herausgeber einer Zeitschrift stark in der islamischen Erneuerungsbewegung engagiert, später ein Gegner der Politisierung des Islam. 1970 kamen Sie als Achtjähriger mit Ihrer Familie aus Ankara nach Deutschland.

Senocak: Jeder Schriftsteller hat ja ein Hinterland, aus dem er seine persönlichen Motive und Antriebe bezieht. Dazu gehört bei mir auch die Kultur meiner Kindheit, dazu gehört die muslimische Religion, die Tradition genauso wie eine Modernisierung dieser Tradition.

Heute zeigen die Bilder, die aus der islamischen Welt kommen, nur eine bestimmte Richtung. Dagegen schreibe ich an, nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil es einfach mein Leben ist.

In meinem Elternhaus waren beide Welten gegenwärtig: Elemente einer sehr säkularen, westlichen Welt und dann wieder eine geheimnisvolle, mystische, auf religiöse Tradition zurückgehende, die aber nie dogmatisch wurde. Aus diesem Hintergrund schöpfe ich meine Literatur.

Meine Texte sind also keine Reaktion auf Ereignisse. Attentate, Terror oder dergleichen als Anlass zu nehmen, um mich dazu zu Wort zu melden - das ist mir als Schriftsteller völlig fremd.

Sind Islam und Demokratie vereinbar?

Senocak: Ich hoffe das. Sonst sind wir alle verloren. Nicht nur die Muslime, auch wir in Europa haben sonst grosse Probleme.

Wie schätzen Sie die gegenwärtige Entwicklung in der Türkei ein? Sind die hierzulande geäusserten Sorgen über eine Islamisierung begründet?

Senocak: Was vielmehr passiert, ist ein Umdenken der Muslime. Ein Reinigungsprozess, der innerhalb der Eliten eingetreten ist. Grossstädtische Eliten, die aber in der islamischen Kultur beheimatet sind, gab es früher ja gar nicht.

Früher waren die türkischen Eliten rein säkular, rein westlich, hatten mit dem Islam überhaupt nichts zu tun - und waren eigentlich dem Land sehr fremd. Heute hat man, ohne dass die alten gänzlich verschwunden wären, neue Eliten: Intellektuelle, Schriftsteller, Kommentatoren, Fernsehleute, die versuchen, eine kritische Selbstreflexion anzustossen.

Das sind sehr wichtige Anfänge. Eine neue intellektuelle Schicht, die in der Lage ist, Demokratisierung mit Modernisierung zu verbinden. Die nicht immer nach dem Militär ruft, sondern eigene Kräfte hat, um das Land vor Radikalisierung zu schützen.

Das ist übrigens in jedem Land notwendig. Und da sehe ich auch die Muslime mittlerweile mit im Boot. Indes steckt die Entwicklung noch in den Kinderschuhen. Wie wird sich etwa die muslimische Intelligenz im Bereich der Künste und Musik auswirken? Da sehe ich noch keine grossen Ansätze.

Im Moment ist es eher eine philosophische Debatte. Es gibt zum Beispiel eine muslimisch angelegte Hegel-Kritik. Das ist was Feines, aber ich sehe noch keinen Roman, der aus dieser neuen Kultur entstanden ist.

Der moderate, urbane Islam, den Sie beschwören - woran hätte sich der zu beweisen?

Senocak: Darin, reduktionistische Wahrnehmungen und Selbstbilder aufzulösen. Die radikale Islamkritik verfährt ja genauso wie die Fundamentalisten. Da holt man aus der islamischen Tradition Symbole oder auf Symbolik reduzierte Phänomene heraus und definiert das als Islam.

Denke ich hingegen an die islamische Tradition, wie sie meine Kindheit geprägt hat: Da war Musik, da war Mystik, da war Philosophie, da war Ästhetik - was sieht man heute davon? Nichts. Und das ist es eben, was ich in meinen Artikeln und Büchern zu beschreiben versuche, diese Reduzierung, diese krisenhafte Entwicklung der Kultur, die darauf basiert, dass man die Vielfalt aus der Geschichte nicht mehr wahrnimmt.

Zweiter Punkt: Es muss erlaubt sein, Fragen zu stellen. Eine Tradition, die sich selbst genügt, schliesst die Menschen in einen Käfig ein. Ich finde viele Ansätze in der islamischen Kultur, wo Fragen gestellt wurden. Grosse humanistische Texte, die auch grosse Poesie sind. Oder die Denker aus Andalusien, die mit der jüdischen Philosophie zusammen die Renaissance beeinflussten.

Wie aber, wenn die humanistischen Züge des Islam nicht nur aus der Debatte verschwunden, sondern abgestorben wären, tote Vergangenheit?

Senocak: Nichts, was in der Geschichte lebendig war, kann wirklich absterben. Mal sind bestimmte Einflüsse virulent, mal treten sie in den Hintergrund. Geschichte ist immer Gegenwart. Sonst könnte man ja auch mit Leichtigkeit die Fundamentalisten entkräften, ihnen sagen, dass alles, woran sie glauben, Mohammeds goldenes Zeitalter, tot sei. Aber es beeinflusst die Menschen.

Sie sagen oft harte Sätze über denkfaule, rückständige Muslime. Erleben Sie Anfeindungen?

Senocak: Bisher nicht, was wohl daran liegt, dass ich vom Islam aus argumentiere. Mein Essayband "War Hitler Araber?" ist ins Türkische übersetzt und differenziert aufgenommen worden, auch in der muslimischen Presse. Ich habe zum Beispiel Salman Rushdie verteidigt, sein Recht auf Blasphemie. Das wurde nicht gern gesehen, aber es wurde diskutiert.

Haben Sie Bundesgenossen?

Senocak: Ich habe verwandte Denker auch in der islamischen Welt, und nicht nur in der Türkei. Vor allem Paris entwickelt sich ja mehr und mehr zum Zentrum reformatorischer Überlegungen zur islamischen Kultur. Ein Denker wie Mohammed Arkoun hat mich sicher sehr beeinflusst. In der Türkei gibt es Verwandtschaft mit einer Generation von jungen Schriftstellern, die in ihren Büchern ähnliche Ansätze haben wie ich. Etwa der Romancier Orhan Pamuk oder die Schriftstellerin Elif Safak, die um einiges jünger ist als ich.

Und diese Leute stecken nicht in bedrohlichen Schwierigkeiten?

Senocak: Es kommt darauf an, wo sie sind. In der Türkei - nein. Obwohl wir in den neunziger Jahren, das ist hoffentlich vorbei, auch viele Mordanschläge gegen kritische Intellektuelle hatten, zeichnet sich die türkische Gesellschaft durch eine lebendige Diskussion aus. Diese Diskussion müsste auch hierher transferiert werden. Wir müssten mehr Substanz haben, um miteinander zu sprechen.

Es werden ja auch atheistische Bücher geschrieben in der Türkei, und ein muslimischer Denker wie Ali Bulaç fordert, der Atheismus müsse von den Muslimen als Denkrichtung akzeptiert werden.

Es gibt sogar radikale Muslime, die sich mit erklärten Atheisten treffen, um eine Dialogebene zu finden. Leider sind solche Ansätze auf die Türkei beschränkt, allenfalls noch auf Länder wie Aserbeidschan oder Bosnien. In der arabischen Welt findet man das nicht, ebenso wenig in Iran.

Interview: Joachim Güntner

© Neue Zürcher Zeitung, 05. Januar 2005

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