"Wir wollen ihre Dummheit aufdecken"

"Youth Leader" ist ein Projekt, das sich gegen Antisemitismus wendet und sich gezielt an Jugendliche richtet - vor allem an Jugendliche muslimischen Glaubens. Aygül Cizmecioglu hat das Projekt besucht.

Holocaustmahnmal in Berlin; Foto: AP
Gegen das Vergessen - Holocaustmahnmal in Berlin

​​Polizeischutz vor Synagogen, Drohbriefe an jüdische Repräsentanten - rund 60 Jahre nach dem Holocaust gehören antisemitische Übergriffe immer noch zur deutschen Wirklichkeit. Neben deutschen Rechtsextremisten werden auch immer öfter radikale Islamisten als Täter genannt, häufig handelt es sich um jugendliche Migranten.

Fußball spielen, ein Eis essen und die ersten Frühlingsstrahlen genießen: Für die meisten Schüler der Walter-Gropius-Schule ist der Unterricht längst zu Ende. Während ihre Klassenkameraden draußen herrumtollen, sitzen Yasmina, Ezgi, Sarah und Tugba freiwillig in einem stickigen Klassenzimmer.

Sie blättern in Geschichtsbüchern, diskutieren und streichen immer wieder Sätze an der Tafel durch - rechtsradikale Slogans wie "Den Holocaust gab es nie". Direkt daneben reihen sie minutiös die Fakten auf, heften Fotos von Holocaust-Opfern und Konzentrationslagern an.

Seit einem Jahr treffen sich die vier Mädchen einmal in der Woche und lassen sich zu so genannten "Youth Leadern" ausbilden. Sie erwerben Wissen über Judentum und Antisemitismus und sollen sich langfristig in ihren Schulen für Toleranz und gegen Vorurteile stark machen.

Vorbild nach amerikanischem Modell

Die 17-jährige Deutsch-Algerierin Yasmina war von Anfang an dabei: "Antisemitismus - das ist eigentlich eine Form von Rassismus. Denn wenn Nazis zum Beispiel sagen 'Du Jude', dann werden sie am nächsten Tag auch sagen 'Du Kanake'. Mit unserem Kurs wollen wir etwas dagegen tun. Wir wollen diese Menschen mit Argumenten platt machen - und nicht mit Gewalt, wie die selbst das machen. Außerdem wollen wir herausfinden, welchen Hintergrund ihre Äußerungen haben. Im Grunde wollen wir ihre Dummheit aufdecken."

"Youth Leader" ist ein deutschlandweites Projekt, gestartet bisher an fünf Schulen rund um Berlin und Potsdam. Anlass waren Übergriffe auf jüdische Schüler. Der Grundgedanke, wonach sich Jugendliche eher von Gleichaltrigen beeinflussen lassen als von Erwachsenen, stammt aus den USA. Dort wird das Programm schon seit den 60er Jahren erfolgreich an Schulen praktiziert.

Isabell Enzenbach ist eine der Projektleiterinnen in Deutschland. In ihrem Fokus stehen besonders Schüler islamischen Glaubens, wie an der Walter-Gropius-Schule in Berlin-Neukölln.

"Die wussten zuerst nicht unbedingt, was Antisemitismus überhaupt ist", sagt Enzenbach. "Eine genaue Vorstellung hatten sie nicht. Und ihre Motivation war: 'Mal gucken, was das ist, das interessiert uns.' Die Religion hat sich dann als tragfähige Brücke erwiesen, denn sie haben gesehen: 'Viele Sachen kommen uns bekannt vor.'

"Koscher essen - das kann man (für Muslime) leicht übersetzen, denn sie ernähren sich ja auch so. Nur heißt das eben bei Muslimen 'halal'. Ähnliches gilt bei Bekleidungsvorschriften, Gottesdiensten. Also, die muslimischen Jugendlichen haben auch eine religiöse Sprache und konnten das dann von Anfang an leicht verstehen und sich dann auch öffnen."

Kampf gegen alltägliche Ignoranz

Alle Mädchen im Kurs tragen modische T-Shirts, Hüfthosen und knallbunte Schuhe. Ein Kopftuch tragen sie höchstens in der Moschee oder als modisches Accessoire. Dennoch bezeichnen sie sich als Gläubige, die eng mit dem Islam verbunden sind. Sie kennen das Gefühl, aufgrund ihrer Religion angegriffen zu werden.

Eine Erfahrung, die sie nun auch sensibler für antijüdische Sprüche macht. Und die seien, gerade unter ihren Altersgenossen, weit verbreitet - etwa in Form von Judenwitzen auf dem Schulhof oder im Bus. Genau gegen diese alltägliche Ignoranz kämpfen sie an.

Inzwischen ist ihre Unwissenheit längst einer großen Neugier gewichen. Neben Argumentationstraining und Rollenspielen besuchen die Jugendlichen jüdische Gemeinden, suchen das Gespräch mit Holocaust-Überlebenden und Gleichaltrigen jüdischen Glaubens. Die meisten Eltern unterstützen das Engagement ihrer Töchter. Doch es gab am Anfang auch skeptische Töne, wie etwa von Ezgis Mutter.

Mit Argumenten überzeugen

"Sie fand das nicht so gut, dass ich hier mitmache", äußert sich Ezgi. "Sie hat auch schon mal selbst ein paar antisemitische Äußerungen gemacht, wie zum Beispiel: 'Siehst du denn nicht, wie schlecht sie im Nahost-Konflikt die Araber darstellen - und wie sie versuchen, die Welt zu beherrschen?!"

Ezgi habe daraufhin ihrer Mutter argumentativ Paroli geboten. Sie konnte sie sogar dazu bewegen, sowohl die israelische, als auch die arabische Seite zu betrachten. "Durch meine Argumente ist meine Mutter jetzt auch feinfühliger geworden. Sie hinterfragt jetzt auch mehr, versucht zu recherchieren und zu gucken, wie es wirklich ist", schildert Ezgi stolz.

Erfolgserlebnisse, denen nach Wunsch der Schüler noch viele weitere folgen sollen. In ein paar Wochen werden Ezgi und Yasmina erstmals selbst als Trainerinnen gefordert sein.

Sie haben Projekttage an ihrer Schule für die unteren Klassen organisiert. Ihre Argumente gegen Antisemitismus wollen sie weitergeben, ein Bewusstsein für Ungerechtigkeit schaffen. Und damit, so werfen sie mit einem Lächeln ein, könne man nicht früh genug anfangen.

Aygül Cizmecioglu

© DEUTSCHE WELLE 2006

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