Libanesische Verhältnisse am Nil?

Food prices doubled, salaries halved, banks restricting withdrawals: Egyptians now have the same problems as the Lebanese. But if things get worse here, the fallout will be far more damaging.
Food prices doubled, salaries halved, banks restricting withdrawals: Egyptians now have the same problems as the Lebanese. But if things get worse here, the fallout will be far more damaging.

Die Lebensmittelpreise haben sich verdoppelt, Gehälter sind weniger wert: Ägypter haben jetzt die gleichen Probleme wie die Bürger des Libanon. Doch würde sich die Lage in Ägypten verschlimmern, wären die Folgen dramatischer. Von Cathrin Schaer

Von Cathrin Schaer

Für viele Ägypter wird das Einkaufen von Lebensmitteln mittlerweile zur Herausforderung. Seit sich die ägyptische Währung im freien Fall befindet, haben sich die Lebensmittelpreise verdoppelt, die Gehälter sind deutlich weniger wert.

"Anstatt drei Kilogramm Reis zu kaufen, wenn wir einkaufen gehen, holen wir nur ein Kilo oder ein halbes Kilo", erklärt Ahmed Hassan, 40. Er ist Buchhalter und dreifacher Familienvater aus dem Kairoer Stadtteil Schoubra. "Wir versuchen, unsere Ausgaben zu reduzieren. Leider können wir nicht alles einschränken, denn unsere Kinder brauchen bestimmte Dinge", sagt er der Deutschen Welle (DW).

Die ägyptische Währung hat seit Ende Oktober 2022 rund ein Drittel ihres Wertes verloren. Die Inflation liegt derzeit bei über 20 Prozent. Einige Wirtschaftsexperten vermuten sogar, dass sie in Wirklichkeit noch höher liegt: Sie gehen davon aus, dass die inoffizielle Inflationsrate - die auch den riesigen informellen Wirtschaftssektor Ägyptens mit einschließt - 101 Prozent beträgt.

Mittlerweile beschränken die Banken die Höhe der Bargeldabhebungen. Der freie Fall, in dem sich Ägyptens Wirtschaft befindet, hat Ähnlichkeiten mit der katastrophalen Wirtschaftskrise, mit der die Bürger im Libanon seit 2019 zu kämpfen haben.

Ein ägyptischer Lebensmittelhändler in seinem Laden (Foto: Hadeer Mahmoud/REUTERS)
The cost of food and drink in Egypt has risen by almost 40% over the past year:

Ähnlichkeiten zwischen Libanon und Ägypten

Im Libanon haben einige Bürger die Banken gestürmt, um an ihre eigenen Ersparnisse zu kommen. Ganze Städte sind dunkel, weil der Treibstoff für die Kraftwerke ausgegangen ist. Und die Mittelschicht des Landes verschuldet sich immer weiter.

In Ägypten ist das derzeit noch nicht der Fall. Aber angesichts der sich verschlechternden Lage fragen sich einige: Könnte Ägypten bald "der neue Libanon" werden?

"Es gibt bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen der inzwischen kläglich gescheiterten Wirtschaft des Libanon und der kämpfenden Wirtschaft Ägyptens", so Robert Springborg, außerordentlicher Professor an der kanadischen Simon Fraser University, in einem Bericht aus dem Jahr 2022 für die in Washington ansässige gemeinnützige Organisation Project on Middle East Democracy (POMED). "Die Folgen des Zusammenbruchs jeglichen Vertrauens im Libanon waren verheerend, aber sie würden bedeutungslos, wenn sich dasselbe im ägyptischen Maßstab wiederholen würden", warnte er.

Die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme Ägyptens sind das Ergebnis einer Reihe interner Probleme wie politischer Unruhen, Korruption und Misswirtschaft der Regierung. Doch in jüngster Zeit haben sich auch externe Krisen dazu gesellt: die COVID-19-Pandemie, der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die drohende weltweite Rezessionen.



It’s now time to ask:



- what is the risk of default and how?

- what does Lebanon on a scale of 108 million people look like? #Egypt https://t.co/ijibf8ijBL pic.twitter.com/JO5AmbJb0z

— Hafsa Halawa (@HafsaHalawa) January 11, 2023

 

Mehrere Krisen überlagern sich

Die Corona-Pandemie hat dem Tourismus, einer der wichtigsten Einnahmequellen des Landes, schwer zugesetzt. Seit in der Ukraine der russische Angriffskrieg tobt, bleiben auch die Weizenlieferungen aus der Ukraine aus. Dabei ist Ägypten der größte Weizenimporteur der Welt.

Seit 2014 hat die ägyptische Regierung unter der Führung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi nationale "Megaprojekte" gefördert. Dazu gehört die längste fahrerlose Einschienenbahn der Welt im Wert von umgerechnet 21 Milliarden Euro und der Bau einer völlig neuen Verwaltungshauptstadt bei Kairo für 46 Milliarden Euro. Diese Projekte haben das Wachstum des Landes künstlich angekurbelt. An vielen dieser gewinnbringenden Geschäfte sind auch ägyptische Militärs beteiligt.

Eine Politik, die es staatlichen und militärischen Unternehmen erlaubt, die Wirtschaft zu dominieren, schwächt allerdings den Privatsektor. Das hat dazu geführt, dass ausländische Investoren abgeschreckt wurden. Dabei ist das Land immer stärker von ausländischen Krediten abhängig. Ägypten hat Schulden in Höhe von über 138 Milliarden Euro; etwa ein Drittel seines gesamtwirtschaftlichen Einkommens muss es für die Tilgung der Auslandsschulden verwenden.

Corona und der Krieg gegen die Ukraine

Diese Gemengelage habe Ägypten "an den Rand eines finanziellen und wirtschaftlichen Abgrunds" gebracht, erklärte Rabah Arezki Anfang Januar. Arezki ist ehemaliger Chefökonom der Weltbank und war für den Nahen Osten und Nordafrika zuständig.

"Der Grund, warum die Pandemie und der Krieg in der Ukraine so große Auswirkungen hatten, liegt in der Investitionsstrategie, die (Ägyptens Präsident, Anm. d. Red.) al-Sisi neun Jahre lang verfolgt hat: er hat massiv Geld in riesige Projekte gesteckt, von denen einige völlig unnötig oder schlecht durchdacht waren", so Yezid Sayigh, Senior Fellow am Carnegie Middle East Center in Beirut. "Diese Strategie hat die ägyptischen Finanzen sehr verwundbar gemacht, ohne der Wirtschaft echte Vorteile zu bringen."

Ausländische Regierungen, darunter auch die von Deutschland und den USA, tragen eine Mitschuld, so Sayigh. Al-Sisi, sagt er, "hätte Ägyptens Schulden ohne die direkte Beteiligung des Auslands nicht um 400 Prozent erhöhen können."

In Ägypten entsteht das höchste Hochaus Afrikas, der Iconic Tower, die Kosten liegen bei 3 Milliarden US-Dollar (2.8 Mrd Euro) in der neuen Verwaltungshauptstadt (Foto: Sui Xiankai/Xinhua/picture alliance)
Gigantische Projekte: Seit 2014 hat die ägyptische Regierung unter der Führung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi nationale "Megaprojekte" gefördert. Dazu gehört die längste fahrerlose Einschienenbahn der Welt im Wert von umgerechnet 21 Milliarden Euro und der Bau einer völlig neuen Verwaltungshauptstadt bei Kairo für 46 Milliarden Euro. Diese Projekte haben das Wachstum des Landes künstlich angekurbelt und die Staatsverschuldung massiv in die Höhe getrieben. Ausländische Regierungen, darunter auch die von Deutschland und den USA, tragen eine Mitschuld, so Sayigh. Al-Sisi, sagt er, "hätte Ägyptens Schulden ohne die direkte Beteiligung des Auslands nicht um 400 Prozent erhöhen können."

Zwei Nationen - nicht vergleichbar

Es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen Ägypten und dem Libanon - die ägyptische Armutsquote nähert sich beispielsweise der libanesischen an. Mindestens 60 Prozent der Ägypter leben in Armut oder an der Armutsgrenze.

"Und dann ist da noch die Bereitschaft der politischen Elite, sich auf Kosten des Staates und der Öffentlichkeit zu bereichern", so Timothy Kaldas, Experte für die politische Wirtschaft Ägyptens und Fellow am Tahrir Institute for Middle East Policy (TIMEP). "Das haben beide Länder definitiv gemeinsam."

"Aber trotz einiger Ähnlichkeiten sind Faktoren wie Armut und Korruption zahlreichen arabischen Ländern gemeinsam, so dass man keine einfachen Vergleiche ziehen kann", argumentiert Yezid Sayigh vom Carnegie Institute. "Außerdem ist die ägyptische Regierung nicht so korrupt wie die libanesische."

"Trotz aller Probleme befindet sich Ägypten in einer wesentlich stabileren Situation als der Libanon", so Timothy Kaldas von TIMEP weiter. "Es steht nicht am Rande des totalen Zusammenbruchs."

Zum einen verfüge die ägyptische Wirtschaft über mehr potenzielle Geldquellen als die libanesische, so Kaldas - etwa über den Suezkanal, die Tourismusbranche und verschiedene Exportindustrien. Der Libanon sei stärker von den Überweisungen von Libanesen im Ausland abhängig, die vor der aktuellen Krise bis zu einem Viertel des libanesischen Nationaleinkommens ausmachten.

Außerdem gebe es eine ägyptische Führung, mit der man verhandeln könne, so Kaldas. "Im Libanon hingegen wird immer noch um die Wahl eines neuen Präsidenten gerungen."

Der vielleicht größte Unterschied zwischen Ägypten und dem Libanon besteht jedoch darin, dass Ägypten gemeinhin als "zu groß zum Scheitern" angesehen wird. Mit rund 107 Millionen Einwohnern ist es das bevölkerungsreichste Land der Region. Außerdem verfügt es über das stärkste Militär im Nahen Osten. "Ägypten hat das Glück, dass externe Geldgeber Wert auf die Lebensfähigkeit des Staates legen, unabhängig davon, wie schlecht er geführt wird", erklärt Kaldas.

 

— Timothy E Kaldas (@tekaldas) January 20, 2023

 

 

Ägypten hat Reformen versprochen

Mitte Dezember genehmigte der Internationale Währungsfonds (IWF) ein Hilfspaket in Höhe von drei Milliarden US-Dollar für Ägypten. Es ist die dritte derartige Vereinbarung des Landes mit dem IWF seit 2016 und soll Ägypten helfen, mehr Investitionen aus dem Ausland sowie weitere Finanzhilfen anzuziehen. Um das Abkommen abzuschließen, musste die ägyptische Regierung dem IWF mehrere große Zugeständnisse machen. Zu diesen Zugeständnissen gehört die Flexibilisierung des Wechselkurses. Die darauffolgende  rekordverdächtige Abwertung des ägyptischen Pfunds ist unter anderem auf die bisherige Koppelung an den US-Dollar zurückzuführen.

Außerdem hatte der IWF gefordert, Ägypten solle bis Ende dieses Monats direkte Geldtransfers an fünf Millionen bedürftige ägyptische Haushalte senden. Weiterhin hat sich Kairo dazu verpflichtet, das riesige Wirtschaftsimperium des ägyptischen Militärs zu begrenzen. 

Das neue IWF-Rettungspaket könnte Ägypten wieder vom Abgrund zurückholen, aber es ist schwer zu sagen, ob es wirklich Erleichterung für die leidgeprüften Bürger bringt. Ägypten-Experte Kaldas geht davon aus, dass die Regierung und die Eliten des Landes versuchen werden, ihre Vorteile und ihren Reichtum zu sichern. Gleichzeitig würden sie versuchen, sich um die gegenüber dem IWF zugesicherte Eindämmung der wirtschaftlichen Macht des Militärs zu drücken.

Aber selbst, wenn alle Bedingungen des IWF-Pakets erfüllt werden sollten, werde sich das Land nicht so schnell erholen, so Kaldas. "Die Ägypter, die ohnehin schon Probleme haben, werden im kommenden Jahr noch ärmer werden", prognostiziert er. Es sei unwahrscheinlich, dass Ägypten der nächste Libanon werde, schlussfolgerte er, "aber nichts wird die wachsende wirtschaftliche Not der Ägypter im kommenden Jahr verhindern".

Cathrin Schaer & Mohammed Farhan

© Deutsche Welle 2023