Für den Ökonomen Yezod Sayigh liegt die Ursache für die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise in Ägypten in erster Linie in einer Politik der übermäßigen Verschuldung. Es sei überdies ein Fehler, wie die deutsche und die europäische Politik mit dem al-Sisi-Regime umgehen

Wirtschaftskrise in Ägypten
Die Verschuldung treibt Ägypten in den Ruin

Für den renommierten Ökonomen Yazid Sayegh liegt die Ursache für die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise in Ägypten in erster Linie in einer Politik der übermäßigen Verschuldung. Es sei außerdem ein Fehler, wie die deutsche und die europäische Politik mit dem Al-Sisi-Regime umgehen. Interview von Mahmoud Hussein

Herr Sayegh, wie blicken der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi und die Armeeführung auf die ägyptische Wirtschaft? 

Yazid Sayegh: Verkürzt gesagt gehen Al-Sisi und die Armee von folgender Annahme aus: Je mehr neue Projekte wir ins Leben rufen, desto besser ist das für die Gesamtwirtschaft. Dabei ignorieren sie nicht nur das wechselseitige Verhältnis zwischen Wirtschaft und diesen Projekten, sondern auch die Frage, ob sie die richtigen Prioritäten an der richtigen Stelle setzen und ob diese Vorhaben im wirtschaftlichen Umfeld überhaupt Wirkung zeigen.

Sie fragen sich nicht: Setzt ein Projekt einen Prozess in Gang, der neue ökonomische und industrielle Aktivitäten bewirkt? Ein Projekt darf sich nicht darauf beschränken, einfach nur einen neuen Betrieb zu gründen, der in der Lage ist zu produzieren. Vielmehr sollte dieser Betrieb seinerseits weitere wirtschaftliche Aktivitäten auslösen. 

Ein wirtschaftlicher Nutzen entsteht erst dann, wenn es zu einer Interaktion zwischen dem konkreten Projekt und weiteren wirtschaftlichen Aktivitäten kommt, die Einzelne oder der Privatsektor aus eigenem Antrieb starten. Es ist natürlich nicht falsch, viele neue Projekte zu starten, denn Wirtschaft und Infrastruktur profitieren davon. Sie kurbeln aber nicht die Realwirtschaft in der verarbeitenden Industrie und im Agrarsektor an. 

Aktuell liegt der Fokus der Wirtschaftspolitik in Ägypten auf den Großprojekten, während es keine kleineren Pilotprojekte gibt. Zudem gibt es Vorhaben, bei denen nicht in Form von Machbarkeitsstudien nachgewiesen wurde, ob und in welchem Umfang sie überhaupt nötig sind. 

Verzeichnis der Orte mit Wirtschaftsaktivitäten der Armee in Ägypten (Foto: https://carnegieendowment.org/)
Von Landwirtschaft bis Minen, von Nahrungsmittelproduktion bis Fischerei: Karte mit den Produktionsstätten, die dem ägyptischen Militär gehören. Das Militär kontrolliert große Teile der ägyptischen Wirtschaft. "Al-Sisi ist gerade dabei, den ägyptischen Staatskapitalismus neu zu erfinden und die Wirtschaft zu verstaatlichen, und zwar mit voller Unterstützung und mit dem Wissen der deutschen und europäischen Politik, auf der Ebene von EU-Kommission und EU genauso wie bei den einzelnen Regierungen, allen voran Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien“, sagt der renommierte Ökonom Yazid Sayegh.  

Können Sie diesen Wirtschaftskurs anhand eines Beispiels erläutern? 

Sayegh: Wenn Präsident Al-Sisi an einem Vorhaben Gefallen findet, neigt er dazu, dessen Produktionskapazität zu vervielfachen, anstatt in kleinem Rahmen mit einer oder zwei Produktionslinien zu beginnen. Das zeigt das Beispiel einer Fabrik unter dem Namen "Bani Youssef“: Laut Armee wurden lediglich zwei Produktionslinien benötigt.

Al-Sisi aber bestand auf sechs Fertigungslinien, was zu einer erheblich ausgeweiteten Produktionskapazität führte, die in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Bedarf des bereits gesättigten Marktes stand. Die Folge war, dass die Streitkräfte den Aufbau einer Fabrik finanzieren mussten, die dauerhaft Verluste machte, da sie das Dreifache des tatsächlichen Bedarfs produzierte. Dieses Beispiel lässt sich auf die ägyptische Volkswirtschaft insgesamt übertragen. 

Ägypten droht der Kollaps

Wo sehen Sie die Ursache für die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise in Ägypten? 

Sayegh: Bevor wir über die Ursache der Krise reden, muss klargestellt werden, dass das Hauptproblem von Ägyptens Wirtschaft in der übereilten Umsetzung von Al-Sisis Großvorhaben liegt, die zugleich auch Propagandazwecken und politischen Zielen dienen: die neue Verwaltungshauptstadt, die Erweiterung des Suez-Kanals und weitere Projekte. Die enormem Kosten dieser Vorhaben stehen in keinem Verhältnis zu ihrem ökonomischen Nutzen und führen zu der hohen Verschuldung Ägyptens im In- und Ausland. Genau hierin liegt das Problem.  

Die seit nunmehr einem Jahr in Ägypten bestehende Wirtschafts- und Finanzkrise hat ihre Wurzeln in erster Linie in dieser Politik der übermäßigen Verschuldung, die die ägyptische Realwirtschaft nicht ausgleichen kann. Abgesehen vom Energie-Sektor (Öl und Gas) produziert die ägyptische Wirtschaft heute keinen ausreichenden Mehrwert, der diese Investitionen mit hohem Kapitalbedarf decken könnte. 

Es gibt auch Investitionen, die nur einen geringem Kapitalbedarf voraussetzen. Aber sämtliche von Al-Sisi präferierten Investitionen im Bereich Immobilien, bei den neuen und smarten Städten und der neuen Verwaltungshauptstadt benötigen gewaltige Mengen an Kapital, das die ägyptische Wirtschaft selbst nicht selbst aufbringen kann. Dazu kommt, dass der Anteil des ägyptischen Privatsektors an den Investitionen auf dem niedrigsten Stand seit den 1960er Jahren liegt.

Präsident Al-Sisi setzt auf neue Großvorhaben und gigantische Immobilienprojekte, die auf Menschen mit hohen Einkommen abzielen und folglich größtmögliche Geldbeträge einbringen sollen. Wäre diese Wette aufgegangen, so hätte sie meines Erachtens zu einer Rendite für den Staatshaushalt und anderen Akteure wie der Armee führen müssen. Damit hätten die Ausgaben gedeckt und Schulden sowie Zinsen getilgt werden können.  

Tatsächlich aber waren das Ausmaß der Kapitalbedarfs, die Geschwindigkeit des Vorgehens und die Größe der Vorhaben derart überdimensioniert, dass diese Wette gar nicht aufgehen und die erhoffte Wirkung erzielen konnte.

Ägyptens neue Verwaltungshauptstadt; Foto: CSC Egypt/Xinhua/picture-alliance
Ägyptens neue Verwaltungshauptstadt: Das Hauptproblem für Ägyptens Wirtschaft liegt in der übereilten Umsetzung von Al-Sisis Großvorhaben, die zugleich auch Propagandazwecken und politischen Zielen dienen: die neue Verwaltungshauptstadt, die Erweiterung des Suez-Kanals und weitere Projekte. Die enormem Kosten dieser Vorhaben stehen in keinem Verhältnis zu ihrem ökonomischen Nutzen und führen zu der hohen Verschuldung Ägyptens im In- und Ausland. Genau hierin liegt das Problem. Die seit nunmehr einem Jahr in Ägypten bestehende Wirtschafts- und Finanzkrise hat ihre Wurzeln in erster Linie in dieser Politik der übermäßigen Verschuldung, die die ägyptische Realwirtschaft nicht ausgleichen kann. Abgesehen vom Energie-Sektor (Öl und Gas) produziert die ägyptische Wirtschaft heute keinen ausreichenden Mehrwert, der diese Investitionen mit hohem Kapitalbedarf decken könnten. 

In der Folge wurde die ägyptische Volkswirtschaft anfällig für externe Schocks wie den Ukraine-Krieg oder die Corona-Krise, die starke Erschütterungen hervorgerufen haben und in deren Folge die ägyptische Wirtschaft oder der ägyptische Staatshaushalt nicht mehr in Lage waren, auf die neue Situation zu reagieren. Hier liegt das zentrale Problem und diese Krisen haben sämtliche Schwachstellen des ägyptischen Wirtschaftssystems offengelegt. 

 

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