Hoffnungslos am Abgrund 

Der Libanon galt lange als die Schweiz des Nahen Ostens. Milliarden lagerten dort auf Bankkonten. Vor allem die Golfstaaten legten in Beirut ihr Geld an. Seit 2019 ist das vorbei, der Zedernstaat taumelt in den Abgrund. Birgit Svensson berichtet aus Beirut und Tripoli.

Von Birgit Svensson

Ein kleines Mädchen sitzt unten an der Treppe, die zum Büchercafé Barzakh in Beiruts berühmter Einkaufsstraße Hamra führt. Oder besser gesagt, ehemals berühmter Straße. Denn die Sterne, die dort ins Fußgängerpflaster eingelassen sind und an den Sunset Boulevard in Los Angeles erinnern, sind verblasst, wie das ganze Land. Mira bettelt um Essen, nicht etwa, wie häufig im Nahen Osten, um Geld oder Schokolade.



Denn Mira hat Hunger und damit ist die Sechsjährige nicht allein. "Die Menschen verarmen immer mehr“, kommentiert Alexandre, ein Gast im Café Barzakh, die Szene, nachdem er sich einen Espresso bestellt hat, "und niemand tut etwas dagegen“.

Selbst die Soldaten der libanesischen Armee sollen nicht mehr genug zu essen haben. Mit den 50 US-Dollar Wehrsold können sie sich nichts mehr leisten. Vor drei Jahren bekamen sie noch 1.200 Dollar. Zu Weihnachten hat der Golfstaat Katar Essenspakete für die Soldaten spendiert.



Militärwagen, beladen mit "Care-Paketen“ des Emirs aus Doha, waren in Beirut nicht zu übersehen. Auch in Tripoli, der zweitgrößten Stadt des Libanon, sollen sie ausgeliefert worden sein. Libanon, die einstige Schweiz des Nahen Ostens, ist zum Armenhaus geworden.  

Getreide aus der Ukraine 

Im Hafen von Tripoli, gut eine Autostunde von Beirut entfernt im Norden des Landes, ist kurz vor Weihnachten ein Getreidefrachter angekommen, der schnell gelöscht wurde. Staubwolken stiegen auf. Das Schiff sei aus der Ukraine, sagten Hafenarbeiter, und habe Weizen an Bord. Im August sorgte die "Razoni“ für Schlagzeilen, das erste Schiff, das den ukrainischen Hafen Odessa fünf Monate nach Beginn des Krieges in Richtung Libanon verließ, um die drohende Hungersnot dort abzuwenden.



Das Abkommen, das die Uno und die Türkei zwischen Russland und der Ukraine zum Transport von Getreide vermittelt haben, scheint weiter zu funktionieren. Die Ernährungskrise im Libanon wurde damit etwas gemildert.

Hafen von Tripoli; Foto: Birgit Svensson
 Im Hafen von Tripoli, gut eine Autostunde von Beirut entfernt im Norden des Landes, ist kurz vor Weihnachten ein Getreidefrachter angekommen, der schnell gelöscht wurde. Staubwolken stiegen auf. Das Schiff sei aus der Ukraine, sagten Hafenarbeiter, und habe Weizen an Bord. Im August sorgte die "Razoni“ für Schlagzeilen, das erste Schiff, das den ukrainischen Hafen Odessa fünf Monate nach Beginn des Krieges in Richtung Libanon verließ, um die drohende Hungersnot dort abzuwenden. Das Abkommen, das die Uno und die Türkei zwischen Russland und der Ukraine zum Transport von Getreide vermittelt haben, scheint weiter zu funktionieren. Die Ernährungskrise im Libanon wurde damit etwas gemildert.  



Brot wird nach wie vor subventioniert und bleibt bezahlbar. Trotzdem rutschen immer mehr Bewohner in die Armut. Schätzungen sprechen von 40 Prozent der 7,5 Millionen Einwohner, die von weniger als zwei US-Dollar pro Tag leben und somit als extrem arm gelten. 300.000 Libanesen sollen seit Beginn der Krise das Land verlassen haben, auf der Suche nach Arbeit im Ausland und um ihre Familien finanziell zu unterstützen, die nicht mehr klarkommen. Ein Brain-Drain, den das Land nur schwer verkraftet, denn die meisten Auswanderer stammen aus der Mittel- und Oberschicht und sind gut ausgebildet.   

Kristof Kleemann hält es für realistisch, dass mittlerweile die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus Überweisungen der Auslandslibanesen an ihre Familien stammt. Der Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Beirut kam genau zu der Zeit in den Libanon, als 2019 der wirtschaftliche Absturz begann, nachdem Massenproteste das marode System aufgezeigt und die Regierung zum Rücktritt gezwungen hatten.



Diese Krise jetzt sei besonders tiefgreifend, analysiert der Politikwissenschaftler. Inflation, Staatsschulden und Verfall der Wirtschaftsleistung sind auf dem Höhepunkt. "Das Banken- und Finanzsystem ist vollständig zusammengebrochen.“ Kleemann hat beobachtet, wie die reichen Golfstaaten ihre Gelder aus dem Libanon abgezogen und damit den Absturz beschleunigt haben.

Der damalige sunnitische Premier Saad Hariri hatte angefangen, mit der schiitischen Hisbollah zusammenzuarbeiten. Das gefiel Saudi-Arabien nicht. "Aber das war es nicht allein“, sagt der Mann von der FDP-nahen Stiftung. "Es waren auch die Libanesen, die sich in Dubai billiges Geld geliehen und es in ihrer Heimat für hohe Zinsen angelegt haben.“ Die Gewinne aus diesen Geldanlagen gingen in die Milliarden und flossen ins Ausland. Als die libanesischen Banken die hohen Zinsen nicht mehr bedienen konnten, wurde das Geld abgezogen.

Die Mittelschicht verlässt das Land

"Der Staat ist pleite und die Verlierer sind all diejenigen, die in seinem Dienst stehen.“ Mohammed Nasser ist Dozent an der libanesischen Universität in Beirut und lehrt medizinische Physik. Vor 2019 ging es ihm gut. Er verdiente 4.600 US-Dollar im Monat, konnte seinen ältesten Sohn auf die Deutsche Schule schicken und für ein eigenes Haus sparen. 60.000 US-Dollar hatte er bei der Bank angelegt. 

Hafenviertel von Tripoli; Foto: Birgit Svensson
Der Libanon im freien Fall: Kristof Kleemann, Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Beirut, hält es für realistisch, dass mittlerweile die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus Überweisungen der Auslandslibanesen an ihre Familien stammt. Kleemann kam genau zu der Zeit in den Libanon, als 2019 der wirtschaftliche Absturz begann, nachdem Massenproteste das marode System aufgezeigt und die Regierung zum Rücktritt gezwungen hatten. Diese Krise jetzt sei besonders tiefgreifend, analysiert der Politikwissenschaftler. Inflation, Staatsschulden und Verfall der Wirtschaftsleistung sind auf dem Höhepunkt. "Das Banken- und Finanzsystem ist vollständig zusammengebrochen.“  



Jetzt bekommt er 152 US-Dollar Monatslohn, das Ersparte ist eingefroren und seinen Sohn musste er aus der Schule nehmen, weil er das Schulgeld nicht mehr bezahlen kann. Nasser ist nur ein Beispiel unter vielen. Lehrern, Ärzten, Richtern, Krankenschwestern, Pflegekräften und vielen anderen geht es genauso.

Auch Mohammed Nasser ist bereit, jeden Job im Ausland anzunehmen, nur um über die Runden zu kommen. Denn alle in Beirut befürchten, dass ihre Währung noch mehr an Wert verlieren wird. Seit Monaten befindet sich das libanesische Pfund im freien Fall.  

Wie schlimm die Krise im Libanon ist, konnte man in den letzten Tagen erfahren. Zwischen Weihnachten und Neujahr gab es nicht einmal eine Stunde Strom, der offiziell von der Stadt oder der Regierung durchs Netz geschickt wird. Und das nicht, wie in der Ukraine, weil Krieg herrscht. Generatoren haben das spärliche Licht geliefert und die kleinen Heizkörper laufen lassen, die die Menschen vor Kälte und Feuchtigkeit schützen. Für sechs Kiloampere zahlt man zwischen 150 und 180 US-Dollar im Monat – soviel beträgt ein Durchschnittslohn.

Die angekündigten 300 US-Dollar, die man für Weihnachten von der Bank abheben durfte, wurden auf 200 gekürzt. Trotzdem bildeten sich lange Schlangen vor den Bankautomaten. Bei diesem Geld handelt es sich nicht etwa um ein Weihnachtsgeschenk der Regierung für ihre gebeutelten Bürger. Nein, dieses Geld liegt auf ihren Konten und gehört den Bürgern, doch die Konten sind seit Monaten gesperrt und die Banken geschlossen. Die Regierung befürchtet, dass die Devisen ausgehen.   

Korruption und Vetternwirtschaft 

Um die Misere komplett sichtbar zu machen, wurde ein Tag vor Heiligabend bekannt, dass die Maitresse von Riad Salameh, dem 72-jährigen Gouverneur der libanesischen Zentralbank zwischen 2019 und 2022 insgesamt 19 Milliarden US-Dollar aus dem Land auf Konten in Europa geschafft hat. Außerdem hätte sie drei teure Immobilien in Beirut erworben und würde ein monatliches Salär von 25.000 Dollar beziehen.

Schlangen vor einer Tankstelle in Rechaya, Libanon; Foto: Taghred Taalk
Schlangen vor einer Tankstelle im Libanon. Für viele Libanesinnen und Libanesen wird es immer schwieriger an Benzin zu kommen, um zur Arbeit zu fahren. Die Treibstoff-Knappheit ist ein Symptom der Wirtschaftskrise, denn das Land schlingert gefährlich nahe am Staatsbankrott entlang: Das libanesische Pfund, das seit dreißig Jahren an den Dollarkurs gekoppelt ist, hat ungefähr neunzig Prozent seines Wertes eingebüßt; die Weltbank spricht in ihrem neuesten Bericht, dem Lebanon Economic Monitor, von einer der schwersten Wirtschaftskrisen weltweit in der neueren Geschichte.



Wie die libanesische Tageszeitung Al Akhbar inzwischen bekannt gab, hat ein Gericht in Beirut nun das Vermögen der 35-jährigen Stephanie Saliba, einer prominenten Schauspielerin und Fernsehmoderatorin eingefroren und Untersuchungen gegen sie eingeleitet.

Im Café Barzakh auf der Hamra-Straße sind sich die Gäste indes einig, dass ihr mächtiger Protégé Mittel und Wege finden wird, damit seine junge Freundin unbeschadet aus der Affäre herauskommt.  

Wirtschaft und Politik sind im Libanon eng miteinander verflochten. Der zerstörerische Proporz, nachdem die Macht zwischen Ethnien und Religionen aufgeteilt ist, begünstigt Korruption und Vetternwirtschaft. Damit wollte die Protestbewegung Schluss machen. Die Regierung sollte aus Technokraten bestehen und gemäß demokratischen Wahlen bestimmt werden. Doch dies wollen die politisch Verantwortlichen unter allen Umständen verhindern. Jetzt wird gerade ein Präsident gesucht, nachdem die Amtszeit des alten abgelaufen ist. Es ist davon auszugehen, dass es wieder ein Christ, ein Maronit, sein muss. Der Premier ist gemäß dem konfessionellen Proporz ein Sunnit, der Parlamentspräsident Schiit. Die Fronten sind verhärtet. 

"Die Explosion im Hafen im August 2020 hat uns dann völlig den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt Nabil Hajjar, ein Friseur, an dessen Salontür "Haute Coiffeur“ steht. Sieben US-Dollar kosten Waschen und Schneiden, ein Preis, "den man sich gerade noch so leisten kann im Viertel“. Eigentlich sollte Hajjar längst mehr verlangen für seine hohe Kunst des Haareschneidens, denn sein Stromverbrauch ist enorm, der Generator läuft auf Hochtouren. "Doch dann käme niemand mehr“, sagt der Mann, der 30 Jahre lang in dem Geschäft arbeitete, das ihm erst seit zwei Jahren gehört. Er hat den Salon von seinem Chef übernommen, als der nicht mehr konnte.

Zunächst habe er geglaubt, es sei ein Erdbeben, als der Getreidespeicher explodierte. Beim zweiten Knall dachte er an einen Terroranschlag. Hajjars Salon liegt etwa 300 Meter Luftlinie vom Hafen entfernt. Auch heute, mehr als zwei Jahre später, ragt der Rest des riesigen Speichers wie ein Mahnmal in den Himmel von Beirut, ein Teilstück ist kürzlich noch eingebrochen. Trümmer liegen rechts und links und erinnern an die Katastrophe, die über 200 Menschen das Leben kostete.

Der französische Präsident Emmanuel Macron musste kürzlich eingestehen, dass aus seiner Rettungsaktion für den Libanon nichts geworden ist. Im August 2020 hatte er eine Geberkonferenz für das geschundene Land initiiert. Doch die bei der Konferenz angemahnten Reformen fanden bisher nicht statt. "Die Führung muss weg“, sagte Macron nun kurz vor Weihnachten. Wie der Libanon zu einer neuen Regierung kommen kann, bleibt derweil sein Geheimnis. 

Birgit Svensson

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