Der Unsichtbare aus Interzone

Naked Lunch ist William S. Burroughs' berühmtester Roman. Das Werk, das vor 50 Jahren zum ersten Mal in Paris veröffentlicht wurde, entstand in der marokkanischen Hafenstadt Tanger – im Drogen- und Zuhältermilieu. Alfred Hackensberger auf Spurensuche

William S. Burroughs; Foto: dpa
William S. Burroughs: "In Tanger gibt es diese Weltuntergangsstimmung, das Böse ist hier laissez faire."

​​ William S. Burroughs würde sich wohl im Grabe umdrehen - bei den Kids, die sich jedes Wochenende im "Tanger Inn" treffen. Verwöhnte, neureiche Jugendliche, die vom Papa ein Auto zum Geburtstag, das Frühstück vom Hausmädchen und eine Ausbildung auf einer Privatschule bekommen.

Dass einige von ihnen auf der Toilette der Bar Koks schnupfen, wäre da für Burroughs wenig tröstlich...dann eher schon die Stricher unter den Gästen, die nach europäischer Kundschaft Ausschau halten.

Allerdings wissen diese jungen Männer auch nicht, wer William S. Burroughs ist, obwohl große Fotos von ihm und Allen Ginsberg, der anderen Ikone der "Beat Generation", hier an den Wänden hängen.

Naked Lunch - ein Klassiker der Beat-Literatur

Für die Geschichte des Hauses interessiert sich hier bei lauter Musik und viel Alkohol wohl niemand. Das "Tanger Inn" gehört zur Pension Muniria, die unmittelbar darüber liegt. Ein kleines Hotel in der Neustadt, in dem William S. Burroughs von 1954 bis 1956 den Roman "Naked Lunch" schrieb - heute ein Klassiker der amerikanischen Literaturgeschichte, weltweit über eine Million Mal verkauft.

Burroughs residierte im Zimmer Nr. 9, mit Zugang zu einem kleinen, von einer Mauer umgebenen Garten, aus dem auch heute noch eine große Palme ragt. "Nein, nein, Interesse hatte der weder am Garten, noch an der Terrasse", erzählte mir 1991 John Sutcliff, der kurz darauf verstorbene Besitzer der Pension Muniria. "Die Fensterläden waren fast immer geschlossen, man wusste oft nicht, ob er zuhause war."

Burroughs schrieb im ersten Jahr unter dem Einfluss von Opiaten. Monatelang will der US-Autor kein Bad genommen oder die Kleider gewechselt haben. "Nur jede Stunde kurz Hemd oder Hose ausgezogen, um sich eine Nadel ins Fleisch zu bohren."

Nach einer Entziehungskur in London arbeitete er in Tanger mit "Marjoun" weiter - eine traditionelle marokkanische Haschischmarmelade. Nicht ganz unverständlich, dass Burroughs Jahre später sagte, er wüsste gar nicht, wie sein Roman zustande gekommen sei.

Schichtdienst bei den Beatniks

Buchcover 'Naked Lunch' von William S. Burroughs; Foto: © Nagel & Kimche Verlag
Die deutsche Neuausgabe des Romans gibt nun Aufschluss über die vollständige Entstehungsgeschichte von Naked Lunch.

​​Aufschluss über die vollständige Entstehungsgeschichte von Naked Lunch gibt nun eine deutsche Neuausgabe des Romans im Verlag Nagel & Kimche, die zum 50. Jubiläum der Erstveröffentlichung von 1959 bei Olympia Press in Paris erschienen ist.

Zum Originaltext, von Michael Kellner neu übersetzt, gibt es verschiedene Textvarianten, Briefe des US-Autors und ein ausführliches Nachwort zur Entstehungsgeschichte.

Es wird deutlich, dass Burroughs Freunde, Allen Ginsberg, Allen Ansen und Jack Kerouac, in einen unübersichtlichen Wust von Mauskripten, Notizen und Briefen erst Ordnung bringen mussten, bevor ein Buch entstehen konnte.

"Wir bearbeiten riesige Mengen von Material im Schichtdienst, geben auch Sachen zum Abtippen weg, ein Teil von 120 Seiten abgeschlossen", schreibt Allen Ginsberg 1957 in einem Brief an Lucian Carr. In Tanger entsteht so das erste Ur-Manuskript von Naked Lunch.

Kollektiver Schreibprozess

Der Roman erzählt Geschichten, die in den USA, Mexiko und auch Tanger spielen. Dabei werden die üblichen linearen Erzählstrukturen der Zeit und auch das Bild eines einzig schaffenden Autors gebrochen.

Naked Lunch ist so sehr ein Produkt von Burroughs wie auch der Gruppe von Freunden, zu der er gehört, die ändern, kürzen, auswählen, weglassen und umschreiben. Ein kollektiver Prozess, der in dieser Form nur durch ein verbindendes Sendungsbewusstsein möglich war.

In den 1940er Jahren hatten sich die angehenden Schriftsteller in New York gefunden und waren dort auf der Suche nach einem vollkommen neuen Menschentypus, wie auch einer nicht weniger revolutionären Literatur.

Zuerst fanden sie den Stricher, Dieb und Junkie Herbert Huncke. Er lehrte ihnen Sprache und Kultur des Undergrounds, zeigte ihnen die Jazzclubs Harlems und besorgte Drogen aller Art. Danach folgte die neue Literatur.

Man nannte sich "The Beat Generation", eine Kreation Jack Kerouacs in Anlehnung an Hunckes "I am beat". Allen Ginsberg schreibt sein berühmtes Gedicht Howl (1956), Jack Kerouac On the Road (geschrieben 1951, veröffentlicht 1957) und Burroughs Naked Lunch (1959).

John Sutcliff, der vormalige Besitzer der Pension Muniria, erinnerte sich noch gut an die jungen "Beats", die in seinem Haus Manuskripte abtippten.

"Da gab es auch einen Kerl, ich glaube, der hieß Gregory Corso und fiel im 'Tanger Inn' immer wieder vom Stuhl. Ich fragte ihn, was los sei, worauf er mir empfahl, ich sollte auch mal auf einen Trip gehen. Ich erwiderte ihm, was auch immer mit Trip gemeint sei, für mich ist das nichts, mich immer wieder auf dem Fußboden wälzen zu müssen."

Sündenpfuhl Interzone

Allen Ginsberg; Foto: AP
William Burroughs, Paul Bowles und der Maler Brion Gysin lebten jahrelang in Tanger und lockten schließlich andere Beat-Autoren nach Marokko – wie zum Beispiel Allen Ginsberg.

​​ 1953 war Burroughs zum ersten Mal nach Tanger gereist, in die "Weiße Stadt" an der Meerenge von Gibraltar. Zwei Jahre zuvor hatte er im Suff seine Frau in Mexiko City beim Wilhelm-Tell-Spiel erschossen.

Die "Internationale Zone" Tanger schien für den damals 39jährigen ideal zu sein: Haschisch wurde auf der Straße geraucht, harte Drogen gab es in der Apotheke ohne Rezept, die Polizei hielt sich bei allem möglichst im Hintergrund, Homosexualität und auch Päderastie schienen hier völlig normal zu sein.

Bordelle aller Art wurden völlig unbehelligt betrieben. Vor der Pension Muniria wohnte Burroughs in der Calle del los Arcos Nummer 1, direkt über einem dieser Freudenhäuser für Männer. Kiki, einer der dort arbeitenden Jugendlichen, wurde sein ständiger Begleiter.

"In Tanger gibt es diese Weltuntergangsstimmung", liest man einem Brief Burroughs' an Allen Ginsberg, "das Böse ist hier laissez faire".

Der unsichtbare Mann

Tanger zog auch viele andere Künstler in den Bann: Neben Paul Bowles und seiner Frau Jane, Tennessee Williams, Truman Capote, Francis Bacon oder auch Brion Gysin, um nur einige wenige zu nennen.

Altstadt von Tanger, Marokko; Foto: dpa
Für Avantgarde-Künstler und Beatniks aus dem Ausland war das Leben in Tanger überaus komfortabel: mediterranes Klima, geringe Lebenshaltungskosten und ein großes Angebot an Drogen.

​​Zu ihnen hatte William S. Burroughs jedoch keinen Kontakt. Mit einem monatlichen 200-Dollar-Scheck seiner Eltern galt er als minderbemittelt, hauste in einer schäbigen Pension und kannte, außer zu Apothekern, Dealern und Liebhabern, kaum jemand.

Die anderen, bereits arrivierten Künstler, zogen die Bars und Partys der Hautevolee vor.

William S. Burroughs blieb in Tanger ein Einzelgänger. Man nannte ihn "El hombre invisible". Zu Gesicht bekam man ihn manchmal in den Cafes der Stadt - darunter auch das Cafe Hafa, ein Terrassencafe über den Klippen des Mittelmeers, in dem er an wackeligen, blauen Holztischen, Kif (Marihuana) rauchte, Tee trank oder sich Notizen machte.

Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2009

Qantara.de

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