Die Realpolitik von Modi und MbS

Abu Dhabi und Riad sehen eine natürliche Partnerschaft mit der Regierung Modi – eine Zusammenarbeit, die die Dynamik des Verhältnisses zwischen Südasien und der Golfregion verändern könnte. Eine Analyse von Jean-Loup Samaan

Von Jean-Loup Samaan

Während das Engagement Chinas in den politischen Kreisen des Nahen Ostens in den letzten fünf Jahren einiges Aufsehen erregte, vollzog sich im Stillen eine weitere parallele Entwicklung dazu. Unter der Federführung des indischen Premierministers Narendra Modi entwickelt die indische Regierung strategische Beziehungen zur Arabischen Halbinsel, insbesondere zu Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Diese Verbindungen gehen über die offensichtlichen wirtschaftlichen Interessen hinaus – wie beispielsweise den Energiebedarf Indiens und die Vertretung der massiven indischen Diaspora in der Region – und umfassen auch die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen.

Mit Beginn der zweiten Amtszeit Modis besteht Grund zur Annahme, dass diese keineswegs nur vorübergehende Annäherung zwischen Indien und der Golfregion das Verhältnis zwischen der Arabischen Halbinsel und Südasien für die nahe Zukunft neu definieren könnte.

Historisch gewachsene wirtschaftliche Verflechtung

Die Logik hinter dieser Entwicklung scheint offensichtlich zu sein. Die Präsenz indischer Arbeiter auf der Arabischen Halbinsel ist kein neues Phänomen, verstärkte sich aber mit dem Ölboom der 1970er Jahre. Heute leben etwa 8,5 Millionen Inder in den Ländern des Golf-Kooperationsrats (GKR) und 55 Prozent der Auslandsüberweisungen nach Indien stammen aus dem Golf.

Unter der indischen Diaspora am Golf kursiert der Spruch, Dubai sei die fünftgrößte indische Stadt. Auch der sichere Warenstrom durch die Golfgewässer ist für Indien von nationalem Interesse: Das Land deckt etwa ein Drittel seiner Rohölversorgung aus den Ländern des GKR. Auf der Seite des GKR sehen Investoren im Wirtschaftswachstum Indiens eine Chance für neue Projekte, insbesondere Infrastrukturprojekte mit Golfunternehmen wie der Abu Dhabi Investment Authority (ADIA) oder DP World.

Doch die Annäherung gründet sich auch auf wichtigen sicherheitspolitischen Interessen: Der Golf gilt seit langem als "sicherer Hafen" für die indische organisierte Kriminalität. Indiens meistgesuchter Verbrecher, Dawood Ibrahim, hat seine Geschäftsbeziehungen auf der Halbinsel ausgebaut und pakistanische Terrorgruppen nutzen die Region als Hinterhof für ihre Operationen.

Die "Delhi-Deklaration" als Meilenstein

Der Besuch des saudischen Königs Abdullah in Delhi im Jahr 2006 führte seinerzeit zu einer ersten Annäherung. Dieser Besuch ebnete den Weg zur Unterzeichnung der "Delhi-Deklaration", die einen strategischen Rahmen für die indisch-saudischen Beziehungen bilden sollte. Doch trotz der öffentlichen Ankündigungen lag die Partnerschaft lange brach. Mit der Wahl von Narendra Modi zum Premierminister Indiens im Jahr 2014 wurden die Beziehungen neu geordnet.

Zu Beginn schien Modis politischer Hintergrund kaum unvereinbar zu sein mit guten Beziehungen zur Arabischen Halbinsel: Der leidenschaftliche Befürworter eines hinduistischen Nationalismus war Staatsminister von Gujarat, als es in dem indischen Bundesstaat 2002 zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen kam, bei denen Hunderte von Muslimen getötet wurden.

Die Führer der Golfregion und insbesondere die von Saudi-Arabien und den VAE sahen Modi allerdings mit anderen Augen. Modis sicherheitsorientierter Ansatz bei der Auseinandersetzung mit dem politischen Islam deckte sich mit ihren eigenen Standpunkten. Bei einer Zeremonie in Delhi im vergangenen Februar würdigte Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman seinen Gastgeber Modi als "älteren Bruder".

Ehrerbietung für MbZ

Modi knüpfte seinerseits enge Verbindungen zu Abu Dhabis Kronprinz Mohammed bin Zayed (MbZ) und lud diesen sogar 2017 als Hauptgast zum indischen Nationalfeiertag "Tag der Republik" ein, eine Ehre, die traditionell Staatschefs vorbehalten ist. Ein ehemaliger westlicher Botschafter in Abu Dhabi formulierte es so: "Die realpolitische Denkweise und der von Modi verkörperte starke Führungsstil faszinieren die saudischen und emiratischen Prinzen."

Diese gegenseitige Wertschätzung legte den Grundstein für die Zusammenarbeit in kritischen Bereichen wie Energie, Sicherheit und Verteidigung. Zur Sicherung der strategischen Erdölreserven Indiens begann die Abu Dhabi National Oil Company (ADNOC) 2018 im Rahmen eines Siebenjahresvertrags mit der Betankung von Vorratslagern für 5.860 Millionen Barrel Rohöl in einer Anlage in Mangalore.

ADNOC beteiligt sich auch mit Saudi Aramco an der Planung zur Errichtung einer Raffinerie mit einer Kapazität von 1,2 Millionen Barrel im indischen Bundesstaat Maharashtra, deren Kosten auf 44 Milliarden Dollar geschätzt werden. Der Fortschritt dieser Projekte ist besonders wichtig im Zusammenhang mit den Sanktionen der USA gegen Länder, die Öl aus dem Iran importieren.

Vor der einseitigen Aufkündigung des Atomabkommens aus dem Jahr 2015 durch die derzeitige US-Regierung stammten etwa 10 Prozent der indischen Ölimporte aus dem Iran. Im Mai 2018 setzte Delhi unter amerikanischem Druck diese Importe offiziell aus. Saudi-Arabien sowie die VAE erklärten, sie würden zum Ausgleich der Lieferausfälle zusätzliche Barrel nach Indien liefern. Dies war die Kernbotschaft beim Besuch des Außenministers der VAE, Scheich Abdullah bin Zayed, im Juli 2019 in Indien.

Neue sicherheitspolitische Kooperation

Auch die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Indien und den Golfmonarchien wurde intensiviert, insbesondere mit den VAE.  Seit 2013 verhafteten die Behörden der Emirate zahlreiche Personen, die mit der indischen organisierten Kriminalität in Verbindung stehen. Indische Mitglieder von Terrorzellen wurden zudem abgeschoben.

Auch der militärische Austausch hat sich verstärkt, beispielsweise zwischen den mit der Gefahrenabwehr auf See befassten Marinestreitkräften. Die indische Militärakademie legte kürzlich zudem ein Ausbildungsprogramm für emiratische Soldaten auf.

Diese Beispiele verdeutlichen die stete Intensivierung der bilateralen Zusammenarbeit. Vor allem aber vertreten die Entscheidungsträger in Abu Dhabi und Delhi gemeinsame Standpunkte bei ihren sicherheitspolitischen Prioritäten. Unter der Führung von Mohammed bin Zayed sieht Abu Dhabi die islamistischen Bewegungen – und hier insbesondere die Muslimbrüder – als größte Bedrohung, noch vor den regionalen Ambitionen des Iran.

Dies deckt sich mit den Ansichten von Modi und denen seines außenpolitischen Strategen Ajit Doval. Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Doval ist seit 2014 Modis nationaler Sicherheitsberater. In dieser Eigenschaft führt er eine offensive Kampagne gegen Aktionen islamistischer Milizen, die sich gegen Indien richten, was unter anderem Vergeltungsschläge bis weit hinein nach Pakistan beinhaltet.

Es überrascht daher nicht, dass die Vereinigten Arabischen Emirate die indische Politik kontinuierlich unterstützen, ob bei den Luftschlägen jenseits der Kontrolllinie mit Pakistan nach den Angriffen islamistischer Milizen auf die indische Militärbasis bei Uri 2016 oder bei der Aberkennung des Sonderstatus der Kaschmir-Region.

Konsequenzen für Pakistan

Die Beziehungen zwischen Indien und den Golfstaaten haben Konsequenzen für die Beziehungen zwischen der Golfregion und dem asiatischen Raum, angefangen bei Pakistan. Pakistan war historisch gesehen der engste asiatische Partner der GKR-Länder, nicht zuletzt dank der großen pakistanischen Arbeitnehmerschaft auf der Halbinsel, der Pflege einer gemeinsamen religiösen Identität und der bedeutenden Rolle, die die Streitkräfte Pakistans beim Aufbau der militärischen Streitkräfte am Golf innehatten.

Die Weigerung Islamabads 2015, der von den Saudis angeführten Koalition im Jemenkrieg beizutreten, hat jedoch die Zusammenarbeit zwischen Pakistan und dem Golf getrübt.

Karte zeigt Chinas "Belt and Road"-Initiative; Quelle: beltroad-initiative.org
Divergierende Meinungen in Hinblick auf Chinas "Belt and Road"-Initiative (BRI): Indien ist gegen die BRI, während Saudi-Arabien und die VAE bestrebt sind, sich als zentrale Akteure für China in der Region zu positionieren, schreibt Samaan. Wenn der indisch-chinesische Regionalwettbewerb jedoch eskaliert und zu einem Nullsummenspiel wird, wird dies zu einem Lackmustest: Dritte wie Saudi-Arabien oder die VAE könnten mit einem unlösbaren Dilemma konfrontiert werden.

Dies führte allerdings nicht zu einer vollständigen strategischen Neuausrichtung der Golfstaaten in Südasien. Obwohl sich hier die Gelegenheit für eine verstärkte Zusammenarbeit mit Indien eröffnete – eine Dynamik, die der indische Premierminister Modi geschickt nutzte –, war der Graben nicht unüberwindbar.

 

Die Wahl von Imran Khan zum Premierminister Pakistans im Jahr 2018 markierte einen Neuanfang. Khan sah die Herrscher in Riad und Abu Dhabi als dringend benötigte Investoren. Mit ihnen wollte er die Wirtschaft am Laufen halten und einen weiteren Kredit des IWF abwenden.

 

Letztendlich wird die eigentliche Herausforderung für die Beziehungen zwischen Indien und der Golfregion nicht Pakistan sein, sondern China.  Die Annäherung zwischen dem GKR und Indien fiel zusammen mit den immer engeren Beziehungen Chinas zur Arabischen Halbinsel. Doch die chinesische Logik ist eine andere: Der Haupttreiber für das Verhältnis zwischen dem Golf und China ist die Belt and Road Initiative (BRI) von Chinas Staatspräsident Xi Jinping.

Indien lehnt die BRI ab, während Saudi-Arabien und die VAE sich als zentrale Akteure für China in der Region empfehlen wollen. Bisher konnten die Golfstaaten Beziehungen zu beiden Seiten pflegen.

Wenn der Wettbewerb in der Region zwischen Indien und China eskaliert und zu einem Nullsummenspiel wird, kommt es zum Lackmustest: Dritte, wie Saudi-Arabien oder die VAE, könnten sich mit einem unlösbaren Dilemma konfrontiert sehen.

Jean-Loup Samaan

© Sada | Carnegie Endowment for International Peace 2019

Jean-Loup Samaan ist Associate Professor für Strategische Studien am "National Defense College" der VAE. Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten geben nicht die Ansichten des "National Defense College" der VAE, des "Near East South Asia Center for Strategic Studies" oder einer Regierung wider.

Aus dem Englischen von Peter Lammers