Kampf um Selbstbestimmung

Im Kampf der Iranerinnen und Iraner für Selbstbestimmung zeigen sich ein bisher so nicht gesehener Mut und Zusammenhalt. Deshalb sind die Proteste seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini feministisch, schreibt Katajun Amirpur. Feministische Außenpolitik würde bedeuten, sie in diesem Wunsch zu unterstützen.
Im Kampf der Iranerinnen und Iraner für Selbstbestimmung zeigen sich ein bisher so nicht gesehener Mut und Zusammenhalt. Deshalb sind die Proteste seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini feministisch, schreibt Katajun Amirpur. Feministische Außenpolitik würde bedeuten, sie in diesem Wunsch zu unterstützen.

Im Kampf der Iranerinnen und Iraner für Selbstbestimmung zeigen sich ein bisher so nicht gesehener Mut und Zusammenhalt. Deshalb sind die Proteste seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini feministisch, schreibt Katajun Amirpur. Feministische Außenpolitik würde bedeuten, sie in diesem Wunsch zu unterstützen.

Essay von Katajun Amirpur

Der Aufstand im Iran ist feministisch. Schließlich geht es ja beim Feminismus nicht darum, Frauen statt Männer an die Macht zu bringen. Es geht um Selbstbestimmung für alle, Männer wie Frauen. Und im Kopftuchzwang sehen die heute Demonstrierenden symbolisch die staatliche Verweigerung, ihnen Selbstbestimmung zuzugestehen.



Diese Selbstbestimmung bezieht sich aber auf viel mehr als "nur“ auf das Recht, sich zu kleiden, wie man möchte: Es geht für die fünfzig Prozent der Iraner, deren Muttersprache nicht Persisch ist, darum, ihre Muttersprache in der Schule lernen zu dürfen; es geht für Lesben und Schwule darum, ihre sexuelle Orientierung frei leben zu können; es geht für die Bahais darum, ihre Religion auszuüben - und so weiter und so fort.



In seinem Song "Baraye“ (dt. "Dafür“ oder "Wegen“), der zur Hymne des Aufstands geworden ist, hat der Künstler Shervin Hajipour eine Reihe von Twitternachrichten zusammengefasst, in denen die Protestierenden beschreiben, warum sie auf die Straße gehen: Für das Tanzen auf der Straße; für das Mädchen, das sich wünscht, ein Junge zu sein; für die Freiheit, die Freiheit, die Freiheit. Und es sind vermutlich genauso viele Männer wie Frauen, die dafür zurzeit auf die Straße gehen. Auch in dieser Frage vermitteln uns die Videos, die jetzt viral gehen, wahrscheinlich ein schräges Bild.

Das Kopftuch steht symbolhaft aber nun einmal für all dies und deshalb reißen sich jetzt die jungen Mädchen ihre Kopftücher vom Kopf. Ironischerweise ist das Kopftuch schon einmal das Symbol schlechthin für einen Systemwechsel gewesen, nämlich für den, der 1978/79 in Iran stattfand. Und so könnte es auch jetzt wieder sein.

 

 

Modernisierung mit der Brechstange

Das Kopftuch ist eng mit der Geschichte der Emanzipation in Iran verwoben, im Sinne einer Befreiung von Bevormundung – und zwar nicht erst seit 1978, dem Jahr der letzten iranischen Revolution im 20. Jahrhundert: 1936 verbot Reza Schah Pahlavi das Kopftuch. Reza Schah, der zum Kaiser aufgestiegene Kosakengeneral, wollte sein Land mit allen Mitteln modernisieren, auch äußerlich. Auch mit der Brechstange. Deshalb wurde den iranischen Frauen per Gesetz untersagt, ein Kopftuch zu tragen. Die Staatsmacht riss es den Frauen auf der Straße vom Kopf.

Mohammad Reza Pahlavi, der seinem Vater auf den Thron folgte, war zunächst ein eher schwacher, nachgiebiger Herrscher. Unter seinem Regime wurde das Kopftuchverbot weniger streng durchgesetzt. In der Schule und auf der Straße stand es Mädchen und Frauen frei, ein Kopftuch zu tragen. Der Karriere allerdings war ein Kopftuch immer noch abträglich. Eine Angestellte im Ministerium oder in der Bank beispielsweise musste sich zwischen Job und Kopftuch entscheiden. Auch an den Universitäten durfte kein Kopftuch getragen werden.

Mohammad Reza setzte die Verwestlichungspolitik seines Vaters fort, die sich wieder einmal vor allem an Äußerlichkeiten wie an den Frauen in Miniröcken und Stöckelschuhen zeigte, die nun in Teherans Straßen zu sehen waren.

Dieses neue Erscheinungsbild von Frauen, aber ebenso die Tatsache, dass sie nun in der Öffentlichkeit weit präsenter waren, stieß in Teilen der konservativ orientierten Bevölkerung auf Widerstand. In einer beeindruckenden Studie hat der Soziologe Martin Riesebrodt gezeigt, dass Veränderungen bei der Frauenrolle nicht einer von vielen Punkten auf der Agenda der Islamisten waren, sondern tatsächlich ihr zentrales Anliegen.

Ali Shariati beispielsweise, der vermutlich wichtigste Ideologe der Revolution, meinte, die neue iranische Frau sei zu einem aufgedonnerten Püppchen geworden, das nur gefallen wolle. Er schrieb: "Die sogenannte Religion macht aus unseren Frauen Trauermädchen, die sogenannte Zivilisation Bardamen“. Die Veränderungen betrafen aber nicht nur das Aussehen der Frau, sondern auch ihren rechtlichen Status. Khomeinis Kritik am Schah machte sich in den sechziger Jahren auch am neuen Familienrecht fest, das den Frauen mehr rechtliche Gleichstellung bringen sollte.

Die Schauspielerin Maliheh Nikjoumand 1979 im Streit mit Geistlichen, die den Schleierzwang durchsetzen wollen; Foto: ISNA
Die Schauspielerin Maliheh Nikjoumand 1979 im Streit mit Geistlichen, die den Schleierzwang durchsetzen wollen: Revolutionsführer Khomeini hatte Freiheit in allen Bereichen versprochen, doch das Kopftuch wurde gleich nach seiner Machtübernahme Pflicht für alle Frauen. 1936 verbot Reza Schah Pahlavi das Kopftuch, sein Nachfolger Mohammad Reza Pahlavi relativierte das etwas, aber das Tragen des Kopftuchs führte weiter zu sozialen Nachteilen. "Drei Herrscher, eine Maxime", kommentiert Katajun Amirpur, "sie schreiben den Frauen vor, wie sie sich kleiden müssen, verwehren ihnen Selbstbestimmung sogar in der Kleidung.“

Das Kopftuch als Symbol des Protests gegen den Schah

Obschon der Schah durchaus einige Rechte einführte, die den rechtlichen Status der Frauen verbesserten, ihnen auch das Wahlrecht gab, blieb er doch auch für sie in erster Linie ein Diktator. Um ihre Anti-Schah Haltung äußerlich manifest zu machen, zogen viele iranische Frauen 1978 ein Kopftuch an, als sie auf die Straße gingen, um gegen die politische Unterdrückung zu demonstrieren. Das Kopftuch war damals zum Symbol für den Protest gegen den Schah schlechthin geworden.

Frauen spielten auch eine entscheidende Rolle beim Sturz des Schah-Regimes. Die Oppositionspolitikerin und Frauenrechtlerin Parvaneh Eskandari, die 1998 von Schergen des islamistischen Regimes ermordet wurde, sagte einmal diese Sätze, die heute verwundern mögen angesichts der rechtlichen Situation von Frauen unter dem jetzigen Regime: "Die Frauen haben (beim Sturz des Schah, Anm. der Red.) die gleiche Rolle gespielt wie die Männer. Aber man darf nicht vergessen, dass die Frauen in der Schahzeit größere Einschränkungen hatten. In der Religion sahen sie einen Weg, ihre Einschränkungen zu überwinden“.

Revolutionsführer Khomeini hatte Freiheit in allen Bereichen versprochen, doch was folgte, war eine Wiederholung der Geschichte, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Das Kopftuch wurde Pflicht. Drei Herrscher, eine Maxime: Sie schreiben den Frauen vor, wie sie sich kleiden müssen, verwehren ihnen Selbstbestimmung sogar in der Kleidung.

Iranische Kopftuch-Debatten

Allerdings hatte sich im Iran auch vor den jetzt ausgebrochenen Protesten schon lange einiges bewegt – zumindest in der Debatte über das Kopftuch. Und zwar selbst unter den Geistlichen, die ja traditionell die größten Kopftuchverfechter sind. Ayatollah Fazel Meybodi aus der Theologen-Hauptstadt Ghom erklärte beispielsweise schon vor vielen Jahren: "Der religiöse Aufklärer argumentiert so: Ich glaube an das Kopftuch. Doch dass eine Regierung sich hier einmischen will und sagt, Frau, wieso trägst du kein Kopftuch, nein, das akzeptiere ich nicht. Das ist nicht Aufgabe einer Regierung.“


Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur; Foto: privat
Die Kölner Islamwissenschaftlerin und Iran-Expertin Katajun Amirpur. 2021 erschien ihre Biografie des iranischen Revolutionsführers und früheren Staatsoberhaupts Ayatollah Khomeini: "Khomeini: Der Revolutionär des Islams" (C.H. Beck)

Ungefährlich war es dabei nicht, sich zum Thema Kopftuch kritisch zu äußern. Der Fall des liberalen Geistlichen Hassan Eshkewari beispielsweise zeigt das. Er hatte gesagt: "Das Kopftuch gehört nicht zu den Wesensmerkmalen der Religion, sondern zu jenen gesellschaftlichen Geboten, die sich mit den Umständen wandeln können“.



Dafür war er 2001 des Abfalls vom Glauben angeklagt worden und darauf steht in Iran die Todesstrafe. (Eshkewari wurde zunächst zum Tod verurteilt, das Urteil dann in eine Haftstrafe umgewandelt, Anm. der Red.)

Denn anhand des Kopftuches lässt sich eben nicht nur iranische Geschichte schreiben. Es ist auch das Symbol schlechthin für das iranische System. Es gibt wohl nur drei ideologische Pfeiler, die den Iran zur Islamischen Republik machen. Zwei von ihnen, die iranische Staatsdoktrin und der Anti-Amerikanismus, wurden seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre bereits immer stärker hinterfragt.



Und dann gibt es noch das Kopftuch. Nicht zu Unrecht assoziiert der Westen mit dem Wort "Iran“ immer zuerst das Kopftuch. Schaffte Iran dieses Symbol ab, würde das dem Westen vermutlich als Beweis genügen für Irans Reformwilligkeit. Dabei wäre das zu kurz gedacht.

Die Angst schwindet

Deshalb werden die Islamisten so lange wie irgend möglich an dem Stück Stoff festhalten. Die Frauenrechtlerin Mehrangiz Kar nannte einmal eine naheliegende Begründung dafür, warum islamische Herrschaftssysteme meist mit der Unterdrückung der Frau beginnen: "Sie wählen damit die schwächsten Opfer, um eine Atmosphäre der Furcht zu schaffen. Wenn Angst herrscht, dann fürchten sich alle und die Herrschenden können ihre Macht stabilisieren. Es ist ja nicht vorstellbar, dass die Hälfte der Menschen in Angst lebt und zugleich die Bevölkerung als Ganzes sich selbstbewusst mit den politischen Problemen auseinandersetzt.“

Diese Angst ist inzwischen bei vielen gewichen. Die ganz junge Generation hat es satt, gegängelt, gemaßregelt, kontrolliert zu werden, dass sie jetzt hingeht und zurückschlägt, wenn die Schergen des Regimes auf sie einprügeln. Das sieht man derzeit auf vielen Videos, die über die sozialen Medien verbreitet werden und es ist neu.



In diesem Kampf für Selbstbestimmung zeigen sich ein bisher so nicht gesehener Mut und Zusammenhalt. Deshalb ist das, was wir jetzt sehen, feministisch. Und feministische Außenpolitik würde bedeuten, die Iraner und Iranerinnen in diesem feministischen Anliegen, dem Wunsch, selbstbestimmt zu leben, zu unterstützen.

Katajun Amirpur

© Qantara.de 2022

Katajun Amirpur ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln und schreibt regelmäßig für große Zeitungen und Zeitschriften.