Revolution unterm Christbaum

Für gewöhnlich funkelt Beirut in der Weihnachtszeit. Doch während in der libanesischen Hauptstadt in diesem Jahr der Proteste von Weihnachtsstimmung kaum etwas zu spüren ist, steht in Tripoli das erste Mal ein Weihnachtsbaum auf dem Hauptplatz. Eine Reportage von Hanna Resch

Von Hanna Resch

Lichterketten, Rentierattrappen und Christbäume prägen jedes Jahr das Beiruter Stadtbild zur Weihnachtszeit, egal ob in den christlichen, schiitischen oder drusischen Vierteln. Jesus gehört schließlich nicht nur den Christen, sagen hier viele. Aber dieses Jahr fehlt in Beirut der Weihnachtsglitzer. Die Menschen sind anderweitig beschäftigt. Die sich stetig verschärfende wirtschaftliche Lage hat die Partystimmung, die im Oktober und November die Proteste dominiert hat, kippen lassen.

Beiruts Geschäfte haben zwar, wie jedes Jahr, hunderte Weihnachtskugeln, Lametta, Plastik-Weihnachtsbäume und Weihnachtsmänner in allen Ausführungen und Größen in ihren Auslagen aufgetürmt. Doch das Geschäft läuft schleppend. "Wir müssen uns dieses Jahr zwingen, in Weihnachtsstimmung zu kommen", sagt ein älterer Passant.

Sogar die spärlich vorhandene Deko in den Straßen wirkt erzwungen. Und ein Ehepaar, das in einem Laden in der Innenstadt durch Weihnachtsartikel stöbert, sagt: "Es ist das erste Mal, dass es im Libanon so unweihnachtlich ist. Und selbst wenn wir Freude empfinden, fühlen wir uns schuldig, weil andere durch die Wirtschaftskrise alles verloren haben."

Weihnachtsbaum als "Spar-Edition"

Auf dem Märtyrerplatz in Beirut steht seit gestern trotzdem der erste kleine Weihnachtsbaum. Selbstgebastelt, aus aufgeschnittenen Plastikflaschen. "Was anderes geht aufgrund der wirtschaftlichen Lage nicht", erklärt eine Frau, die gerade eine weitere Plastikspirale an den Baum hängt.

Mini-Weihnachtsbaum auf dem Märtyrerplatz in Beirut; Foto. Hanna Resch
Der gedämpften politischen und wirtschaftlichen Stimmung angepasst: Auf dem Märtyrerplatz in Beirut steht ein Mini-Weihnachtsbaum, der aus selbstgebastelten, aufgeschnittenen Plastikflaschen besteht. "Was anderes geht aufgrund der wirtschaftlichen Lage nicht", erklärt eine Frau, die gerade eine weitere Plastikspirale an den Baum hängt.

Der Weihnachtsbaum auf dem Sahat an-Nour, dem Hauptplatz im nördlich gelegenen Tripoli, erstrahlt hingegen in voller Pracht. Ein wenig abseits steht er. Aber in den Farben der libanesischen Flagge: Rot und weiß mit einer grünen Zeder. Fragt man die anwesenden Tripolitaner, steht der Baum vor allem für gegenseitigen Respekt, unabhängig von allen Konfessionen. Um das Geld für den Baum zusammenzubekommen gaben die meisten Demonstrierenden ein bisschen was dazu. Geschmückt wurde er von muslimischen Frauen - eine spontane Aktion.

Es ist das erste Mal, dass ein Weihnachtsbaum auf dem Hauptplatz der vorwiegend sunnitisch geprägten Stadt steht. Doch die Menschen, beflügelt durch die libanesische Revolution, auch "thawra" genannt, haben "die Schranken der Angst zwischen ihnen und der herrschenden Elite durchbrochen", erklärt Abdel Rahman, ein Demonstrant Anfang Zwanzig.

Ein Christbaum auf dem An-Nour Platz, neben dem großen, hell beleuchteten "Allah"-Schriftzug in der Mitte des Kreisverkehrs, das wäre letztes Jahr noch undenkbar gewesen. Zu groß war die Angst, dass der Christbaum als Ketzerei gegen den sunnitischen Glauben gesehen würde. Abdel Rahman meint jedoch dazu: "Allah ist ja schließlich nicht nur für die Muslime, er ist für die Christen und für alle."

Der An-Nour Platz - Zentrum der Revolution

Tripoli hatte bis vor kurzem noch einen schlechten Ruf. In der internationalen, aber auch in der libanesischen Presse war die Stadt bekannt für konfessionelle Konflikte und Extremismus. Viele Beiruter waren deshalb noch nie in der zweitgrößten Metropole ihres Landes. Doch seit dem 17. Oktober, dem Beginn der Proteste, sorgt Tripoli für positive Schlagzeilen.

Es ist vor allem ein 30 sekündiges Video, das der Welt zeigt, dass Tripoli anders ist als sein Ruf. In der dritten Nacht der regierungskritischen Massenproteste im Oktober verwandelte sich der An-Nour Platz, angefeuert von einem DJ vom Balkon einer Ruine aus, in einen Rave. Das Video geht viral. Tripoli wird zum Herzen der Revolution, ein Symbol für die Wut gegen die herrschende Politik der Hariri-Regierung, dessen Stammwähler für gewöhnlich die Tripolitaner sind.

Weihnachtsbaum auf dem Hauptplatz Sahat an-Nour in der nördlich gelegenen libanesischen Stadt Tripoli; Foto: Hanna Resch
Zeichen der friedlichen religiösen Koexistenz – jenseits politischer Grabenkämpfe: Ein Christbaum auf dem An-Nour Platz, neben dem großen, hell beleuchteten „Allah“-Schriftzug in der Mitte des Kreisverkehrs, das wäre letztes Jahr noch undenkbar gewesen. Doch die jüngsten Anti-Regierungsproteste im Libanon einen Menschen aller Glaubensrichtungen.

Der zumeist stark befahrene An-Nour Platz bleibt bis auf weiteres für den Verkehr gesperrt. Die umliegenden Gebäude wurden in den Farben der libanesischen Flagge angestrichen. Zugleich bewährt sich Tripoli in den letzten Wochen als die friedlichste Stadt der Proteste im Libanon. Und das, obwohl die Menschen nirgendwo anders im Libanon so stark unter der Regierung und der wirtschaftlichen Situation leiden wie hier. "Wir haben nichts zu verlieren. Wir haben keine Krankenhäuser, kein Geld, keine Jobs, keinen Staat", meint Abdel Rahman.

Wir sind alle Libanesen

"Jesus ist ein Prophet, er ist sehr wichtig für uns Muslime. Wenn du Muslim bist und nicht an Jesus glaubst, bist du kein Muslim. Wir lieben den Weihnachtsbaum", sagt Najah, eine junge Demonstrantin, bevor sie, Arm in Arm mit anderen Protestierenden ein Protestlied anstimmt: "Von wo kommst du?" - "Ich bin von hier", antworten ihre Mitstreiter. Und darum geht es den meisten bei den Protesten. Sie wollen sich nicht mehr in Schubladen stecken lassen.

"Wenn ich sage, dass ich aus Tripoli bin, denken alle sofort, dass ich eine Hariri-Unterstützerin und Sunnitin bin. Und eine Person aus dem Süden des Libanon wird sofort in die schiitische Hisbollah-Schublade gesteckt. Das muss aufhören. Vor der Revolution gehörten wir zu den Sunniten, Schiiten, Christen und zu Parteien. Jetzt sind wir eins. Wir kommen alle von hier."

Wenn man die junge Truppe um Abdel Rahman und Najah nach ihren Hoffnungen fragt, sagen sie "das Ende von Korruption und ein säkularer Staat." Sie finden, dass die Sheikhs und religiösen Oberhäupter "fitna", Zwietracht, säen.

Religion als Tarnung für politische Machtspiele

Sheikh Mohammad Shaaban, Vorbeter in einer benachbarten Moschee, ist jeden Tag vor Ort "um bei den Leuten zu sein und Fragen zu beantworten, wenn sie Hilfe brauchen". In einem kleinen Zelt sitzt er in seiner grauen Robe auf einem Plastikstuhl und wartet auf Gesprächspartner. In Hinblick auf die grassierende Korruption stimmt er mit den jungen Protestierenden überein:  "Es gibt keine Sicherheit, keine Gerechtigkeit, nur korrupte Politiker." Und er erhofft sich von der Zukunft Einheit von der libanesischen Nation und Gerechtigkeit - unabhängig von Religionen.

Über den Weihnachtbaum sagt er: "Ahlan wa Sahlan" - Herzlich Willkommen! Die Leute rücken durch die Revolution zusammen, auch über Religionsgrenzen hinweg. Es gibt ein neues "Wir-Gefühl". Nur, dass die Religion an der Situation die Mitschuld trage, das sieht er anders.

Sarrouj, Leiter der berühmten Maktabat al-Sa’eh; Foto: Hanna Resch
Sarrouj ist dankbar, dass Muslime den Weihnachtsbaum aufgestellt haben. Er kennt die beiden Seiten Tripolis gut. Als Leiter der berühmten Maktabat al-Sa’eh, der „Bücherei des Pilgers“, in einem verfallenen Gebäude, in dem Bücher bis an die Decke gestapelt liegen, hat er Kunden aller Glaubensrichtungen. Das Zusammenleben verschiedener Konfessionen auf engem Raum, das macht den Libanon aus.

"Bei der Korruption und den Kriegen der vergangenen Jahrzehnte ging es nie um Religion. Es ging immer um raffgierige Politiker. Junge Leute, die gegen die Sheikhs sind, verstehen noch nicht, dass die Religion nicht das Problem ist. Die Politiker verwenden die Religion als Tarnmantel, um Hass zu schüren. Doch die Religion lehrt uns, nicht zu töten, sie lehrt uns Frieden."

Gemeinsam den Geburtstag des Propheten feiern

Genau aus demselben Grund hat der griechisch-orthodoxe Priester Ibrahim Sarrouj aus Tripoli an der Veranstaltung zum Geburtstag des Propheten Mohammed während der ersten Tage der Proteste in Tripoli teilgenommen. Am 10. November stand er gemeinsam mit einigen Sheikhs auf demselben Balkon, auf dem einen Monat zuvor der DJ die Masse angefeuert hatte.

Dass er wohlwollende Worte über den muslimischen Propheten verliert, verstehen nicht alle. Viele fragten ihn, warum er als Nicht-Muslim Mohammed lobe. "Ich habe ihnen gesagt: Wie könnt ihr sowas fragen? Soll ich ihn beleidigen? Ich respektiere Eure Religion und Euren Propheten."

Sarrouj ist dankbar, dass Muslime den Weihnachtsbaum aufgestellt haben. Er kennt die beiden Seiten Tripolis gut. Als Leiter der berühmten Maktabat al-Sa’eh, der "Bücherei des Pilgers", in einem verfallenen Gebäude, in dem Bücher bis an die Decke gestapelt liegen, hat er Kunden aller Glaubensrichtungen. Das Zusammenleben verschiedener Konfessionen auf engem Raum, das macht den Libanon aus.

Wenn Muslime Weihnachten feiern, ist das also eigentlich normal. Eigentlich. Denn auch wenn sie nur eine Minderheit darstellen - radikale Personen schaffen es immer wieder, die friedlichen Stimmen zu torpedieren.

Auch in Tripoli: In der Nacht auf den 18. Dezember brannten Unbekannte einen weiteren Weihnachtsbaum, der auf dem Kreisverkehr nahe dem Al-Nini-Krankenhaus in Tripoli stand, ab. Außerdem wurde das Büro des Sheikhs Malik Al-Shaar, Tripolis Mufti aufgebrochen und auf den Kopf gestellt. Ob beide Taten in Zusammenhang stehen, ist bisher noch ungeklärt.

Doch der abgebrannte Christbaum ist inzwischen schon wiederaufgebaut. Und laut Aussage einiger Tripolitaner soll er jetzt sogar noch schöner als zuvor sein.

Hanna Resch

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