Mediale Erkundung marokkanischer Stadtlandschaften

Die Mitglieder des Hamburger Projekts "A Wall is a Screen" projizieren internationale Kurzfilme auf Mauern und Wände im innerstädtischen Bereich. Jetzt wurde die "Medien-Guerrilleros" vom Goethe-Institut Marokko nach Tanger eingeladen. Alfred Hackensberger berichtet.

Die Mitglieder des Hamburger Projekts "A Wall is a Screen" projizieren internationale Kurzfilme auf Mauern und Wände im innerstädtischen Bereich. Jetzt wurden die "Medien-Guerrilleros" vom Goethe-Institut Marokko nach Tanger eingeladen. Alfred Hackensberger berichtet.

Leinwandprojektion an einer Wand; Foto: Alfred Hackensberger
"Mit den Filmen greifen wir in die bekannte Umgebung der Menschen ein und verändern sie", beschreibt Kerstin Budde von "A Wall is a Screen" ihr Projekt.

​​ Die Leute sind begeistert. Es wird geklatscht, gelacht, einige tanzen sogar zur Musik des indischen Kurzfilms, der an einer Hauswand hinter dem Mendubia-Garten im Zentrum von Tanger gezeigt wird. Weit über 100 Menschen sind stehen geblieben, sitzen auf der Mauer, im Gras oder auf dem Rand des Gehsteigs. Als der Film nach wenigen Minuten zu Ende ist und die Hauswand dunkel bleibt, sind die Zuschauer etwas enttäuscht. "Kaum angefangen, und schon wieder Schluss", meint Youssef, ein junger Student, für den Kino auf der Straße eine ganz neue Erfahrung ist.

Gerne hätten er und auch alle anderen Zuschauer an Ort und Stelle gleich mehrere Filme gesehen. Aber das Samstagabendspektakel ist noch nicht vorbei. Die Zuschauer müssen nur dem Tross des wandernden Kinos zum nächsten Stopp folgen. Auf dem Socco Grande, dem großen Platz vor der Altstadt, gibt es dann noch einmal Gelegenheit, drei Kurzfilme unter freiem Himmel zu sehen.

Ein Eingriff in vertraute Umgebungen

Das Projekt nennt sich "A Wall is A Screen" (Eine Wand ist eine Leinwand), stammt aus Hamburg und ist auf Einladung des marokkanischen Goethe-Instituts in der marokkanischen Hafenstadt. "Normalerweise sind wir sieben Leute", erklärt Peter Stein, "aber aus Kostengründen reisen wir nur zu Dritt ins Ausland". Personell unterbesetzt sind er und seine beiden Kolleginnen, Kerstin Budde und Sabine Horn, und deshalb auf tatkräftige Hilfe angewiesen. Fast 100 Kilo wiegt ihr Equipment, das sie auf einem Karren von Station zu Station schieben.

Dazu gehören eine große Autobatterie, Verstärker, Lautsprecher und ein Video-Beamer. Insgesamt halten sie sieben Mal an sieben verschiedenen Wänden, die an den Tagen zuvor sorgfältig ausgewählt wurden. Das gesamte Programm dauert etwa eineinhalb Stunden. Im Schlepptau folgen die Zuschauer, die von neuen Orten und spezifisch dazu ausgewählten Kurzfilmen überrascht werden sollen.

Gemälde von Johann Wolfgang von Goethe; Foto: dpa
Das Goethe-Institut in Marroko lud das Projekt "A Wall is a Screen" in die marrokanische Hafenstadt Tanger ein.

​​ "Mit den Filmen greifen wir in die bekannte Umgebung der Menschen ein", sagt Kerstin Budde von "A Wall is a Screen", "und verändern sie." Dabei würden sich auch immer wieder komische Szenen ergeben, fügt ihre Kollegin Sabine Horn an. "In Manchester zeigten wir einen Film über Sicherheitsdienste. Während der Vorführung öffnete sich plötzlich ein Fenster auf unserer Mauer als Leinwand. Wie auf Bestellung war es ein Mann eines Sicherheitsdienstes. Für die Zuschauer war das sehr amüsant, nur der Betroffene wusste nicht, was mit ihm da geschieht."

Beworfen mit Tomaten, Eiern und Hühnerknochen

Ihre Idee vom wandernden Kino, mit der sie bisher weltweit einzigartig sind, brachte "A Wall is a Screen" zahlreiche internationale Auftritte. Sie zeigten ihre Filme unter anderem in Großbritannien, Spanien, in der Türkei, in Indien, Rumänien, der Ukraine und nun eben auch in Marokko.

Die Hamburger traten hier ihm Rahmen der alljährlich stattfindenden internationalen Tanger-Konferenz auf, die diesmal den Themenschwerpunkt "Site-Specific Performance" hatte. Nebenbei stellten die "A Wall is a Screen"-Leute ihr Projekt auch noch Deutschschülern im Dialogpunkt des Goethe-Instituts vor.

"Die Filme und die Umgebung verstärken sich gegenseitig und hinterlassen bei den Zuschauern oft einen unvergesslichen Eindruck", so Budde weiter. "Passanten werden plötzlich ungewollt zu Filmdarstellern, eine Polizeisirene in der Ferne zum Bestandteil des Filmes". Auch in Tanger, als eine Frau ein Fenster unmittelbar neben der Mauerleinwand öffnet und zur Zuschauerin im Filmgeschehen wird. Sie hatte offensichtlich nichts dagegen, was jedoch nicht immer so sei, wie Peter Stein erläutert, der bei "A Wall is a Screen" für den technischen Aufbau verantwortlich ist.

"Wir wurden schon mit Tomaten, Eiern und Hühnerknochen beworfen", erzählt der 51-Jährige. "Die Leute fühlten sich gestört, was man respektieren muss. Dann zieht man eben sofort weiter."

Filme aus aller Welt

Leben können die Mitglieder von ihrem Project "A Wall is a Screen" nicht. Alle sind berufstätig und betreiben das Projekt sozusagen als Hobby in ihrer Freizeit. "Beruf und Filmvorführungen, gerade, wenn sie im Ausland stattfinden, unter einen Hut zu bringen", sagt Peter Stein, "ist nicht immer einfach. Einige haben Familie und sind in ihrem Job schon viel unterwegs". Für die Filme, die "A Wall is a Screen" bei ihren Auftritten zeigen, fallen Lizenzgebühren an.

Passanten in Tanger; Foto: Alfred Hackensberger
Begeisterte und überraschte Passanten in Tanger: "Passanten werden plötzlich ungewollt zu Filmdarstellern", sagt Kerstin Budde vom Filmprojekt.

​​"Wenn wir die nicht korrekt bezahlen würden, bekämen wir keine neue Filme mehr", erklärt Kerstin Budde. So können sie auf das Archiv der Kurzfilmagentur in Hamburg mit rund 15.000 Filmen zurückgreifen, um für jede ihrer Location einen passenden wie auch außergewöhnlichen Streifen parat zu haben.

Zudem fahren sie auf die einschlägig bekannten Kurzfilmfestivals, um über den neusten Stand auf dem Laufenden zu sein. Zu ihrem Repertoire zählen Filme aus Ägypten, dem Senegal, Marokko, genauso wie aus Deutschland, Frankreich oder Polen.

Kulturelle Sensibilität

Bei der Filmauswahl in Tanger musste "islamkompatibel" entschieden werden: Keine Kussszenen, keine nackten Tatsachen, kein Sex und keine Religionskritik. Für "A Wall is a Screen" ist das nichts Neues. In der Türkei gab es dieselben Auflagen, als sie in Istanbul zu Gast waren.

"Das ist normal in muslimisch geprägten Ländern", meint Sabine Horn, "und wir haben damit auch kein Problem." Man müsse eben andere Kulturen respektieren, sonst käme man nicht weit. Im Übrigen könne sie sich auch erinnern, dass es in Rumänien und in der Ukraine ähnliche Bedingungen für Filmvorführungen gab. Moralische Tabus bei öffentlichen Veranstaltungen beschränken sich keineswegs nur auf muslimische Länder, wie man im Westen meistens glaubt.

Mit ihrer Tanger-Reise waren die drei Mitglieder von "A Wall is a Screen" sehr zufrieden. "Schöne Stadt, nette Leute, gute Veranstaltung." Sie würden gerne mehr von Marokko kennen lernen. Wenn möglich, Casablanca und Rabat, die beiden Großstadtmetropolen des Maghreb. Am besten natürlich auf Locationsuche nach geeigneten Mauern für die Projektion ihrer Filme.

Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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Website von "A Wall is a Screen"