Arabisch oder muslimisch – wo ist der Unterschied?

In ihrem Essay geht die Aktivistin Myra Al-Rahim ihrer eigenen arabischen Identität auf den Grund und kritisiert die Vorurteile ihrer amerikanischen Kollegen, weshalb Menschen aus islamischen Kulturkreisen zwangsläufig als Muslime wahrgenommen werden.

Von Myra al-Rahim

Oft werde ich gefragt, wo ich herkomme, und die zweite Frage lautet dann fast immer: "Ist deine Familie religiös?" Seitdem ich – als Tochter einer libanesischen Mutter und eines irakischen Vaters – in die USA gezogen bin, muss ich mich damit abfinden, dass Amerikaner, insbesondere weiße Amerikaner, vor allem ein sehr starkes Interesse an meiner Religionszugehörigkeit bekunden, wen man mit ihnen ins Gspräch kommt.

Und nur allzu oft reagieren sie dann schockiert, verwirrt oder gar entsetzt, wenn ich ihnen sage, dass ich, eine Araberin, mit ganzem Herzen progressiv und weltlich eingestellt bin und meine Vorfahren auf eine lange, säkularistische Tradition zurückschauen. Es ist so, als könnten meine amerikanischen Kollegen, obwohl sie ebenso wie ich progressiv eingestellt sind, nicht verstehen, dass es eine arabische Identität gibt, die nicht an religiöse Zugehörigkeiten gekoppelt ist. Eine Araberin ohne islamischen oder religiösen Hintergrund liegt völlig jenseits ihrer Vorstellungskraft.

Bestenfalls könnte ich diese Verwirrung über meine nicht vorhandene Religionszugehörigkeit als Fauxpas abtun. Aber immer öfter frage ich mich, ob die progressiven gesellschaftlichen Kräfte damit nicht einfach zeigen, dass sie keine Ahnung von der arabischen Kultur haben. Diese Einstellungen, Araber als homogene Masse wahrzunehmen, scheinen viele aufgeklärte und progressive Menschen zu teilen.

Kein Sinn für Differenzierung

Oft wird zwischen Arabern und Muslimen gar kein Unterschied gemacht – ohne jeden Sinn für jegliche Differenzierung und Nuancierung. Sowohl die politische Linke als auch die Rechten tendieren dazu, in Schwarz-Weiß-Mustern zu denken. Also müssen wir nichtreligiösen Araber eine undankbare Aufgabe übernehmen, nämlich uns gegen die falschen Wahrnehmungen im Westen und gegen die sektiererische Politik in den arabischen Staaten zu wehren. Aber auch gegen oberflächliche Diskurse rund um das Thema Islam, Einwanderung und Diskriminierung.

An diesem Punkt muss eine schlüssige und eindeutige Definition des Begriffes "Säkularismus" folgen: Das  Oxford Living Dictionary definiert diesen Begriff als "das Prinzip der Trennung des Staates von religiösen Institutionen". Als Beispielsatz dafür steht dort: "Er glaubt, Säkularismus bedeute, dass kein Mensch im Rahmen der Religion diskriminiert wird".

Hier spreche ich über Säkularismus allerdings nicht so sehr in Bezug auf die Verfassung eines Staatsapparats, sondern benutze den Begriff, um das Wertsystem einer Person zu beschreiben. Im Fall des Islam, insbesondere des Islam in der arabischen Welt, reichen die Auswirkungen der Religion weit über die staatlichen Institutionen hinaus und durchdringen das tägliche Leben der Bürger, ob sie nun religiös eingestellt sind oder nicht.

Differenzierung zwischen arabischer Kultur und Islam

Zwischen den 1950er und 1970er Jahren war das intellektuelle Umfeld des Nahen Ostens vom Säkularismus dominiert. Endlich beteiligten sich die Araber, insbesondere diejenigen aus der Levante, an einem globalen Diskurs, der die menschliche Identität von der religiösen Zugehörigkeit unterschied.

Nach dem 11. September 2001, als der damalige US-Präsident Bush den sogenannten "Krieg gegen den Terror" ausrief, wurde es allerdings fast unmöglich, die arabische Identität vom Islam zu trennen. Eine Mitschuld hieran tragen gewiss auch westliche Journalisten und Politiker, die kaum zwischen diesen beiden Identitäten differenzieren. Meist wurden sie von ihnen über einen Kamm geschoren. Entweder weigerten sich die politischen Hardliner schlichtweg, die (nicht-)religiöse Vielfalt der Araber anzuerkennen, oder, schlimmer noch, sie verfolgten das politische Ziel, die arabische Bevölkerung zu verteufeln, um den Nahen Osten oder Nordafrika militärisch angreifen zu können.

Verantwortlich für das Problem ist aber auch die Neigung der Gesellschaft, bereitwillig überkommene Klischees zu bedienen und komplexe Sachverhalte stark zu vereinfachen. Arabische und muslimische Identitäten wurden insbesondere in Konfliktlagen durch die westliche Berichterstattung in den Massenmedien zumeist verwässert und unauflöslich miteinander verschmolzen. So ist es heute für Araber wie mich, die keiner Religion anhängen, kaum mehr möglich, eine eigene, unabhängige Identität zu entwickeln bzw. diese zu behaupten.

Die Unausweichlichkeit der Religion

Diejenigen, die sich als Araber betrachten, sind mit der Religion und speziell mit dem Islam unausweichlich in Kontakt gekommen. Das erste Mal, dass ich dies erkennen musste, war im Jahr 2011, als ich 16 Jahre alt war und mein Vater plötzlich starb. Er war irakischer Schiit, aber nur auf dem Papier. Er widersetzte sich den monotheistischen Dogmen und interessierte sich stattdessen vielmehr für die Lehren östlicher Philosophen wie Konfuzius und Lao Tse.

Aber weil er das Unglück hatte, im Nahen Osten zu sterben, waren die Umstände seines Begräbnisses laut islamischer Rechtsprechung eben nicht verhandelbar. Er konnte nur im Rahmen der Religion begraben werden, die ihm von Staats wegen zugeschrieben war. Dies bedeutete, dass er innerhalb von 24 Stunden nach seinem Tod unter die Erde musste – was für mich, meine Mutter und meine zwei Schwestern, die wir damals nicht im Libanon lebten, ein Schlag ins Gesicht bedeutete. Als seien die Umstände seines plötzlichen Todes nicht aufwühlend genug gewesen, mussten wir uns nun mit einem winzigen Zeitfenster zufrieden geben – in dem wir in einen anderen Kontinent reisen, unsere Trauer bewältigen und Abschied nehmen mussten.

Als Familie bestehend aus vier Frauen (mein Vater war der einzige Mann) war es uns verboten, an der Beerdigung teilzunehmen. Stattdessen mussten wir seinen Tod während der drei Tage dauernden sogenannten Aza beweinen. Diese Tradition reicht bis in die vorislamische Zeit zurück, die von Muslimen als Jahiliyah oder die Zeit der Unwissenheit bezeichnet wird. Seit damals gehört es sich für trauernde Frauen, während der Prozession und der anschließenden Beerdigung Klagelieder anzustimmen.

Darüber, dass meiner Familie, deren Mitglieder nie praktizierende Muslime waren, religiöse Konventionen aufgezwungen wurden, war ich sehr wütend. Und noch heute bin ich empört darüber, dass mir  ein richtiger Abschied von meinem Vater verweigert wurde – nur aufgrund grotesker Vorschriften einer Religion, der weder ich noch die anderen Angehörigen meiner Familie angehören.

Jenseits von "Framing" und Kulturkampf

Gegenwärtig erlebe ich, dass meine Erfahrung als Araberin von vielen Menschen auf ein paar religiöse Dogmen reduziert wird. Dass ich diese strikt ablehne, hat sicher auch persönliche Gründe. Doch Fakt ist, dass sich meine progressiven Kollegen in ihrer Ignoranz genauso verhalten wie die politische Rechte – deren Absicht es ist, einen Kulturkampf zu führen, der gegen arabische und muslimische Gemeinschaften inner- oder außerhalb der Vereinigten Staaten gerichtet ist.

Ich möchte meine amerikanischen Kollegen deshalb dazu einladen, gemeinsam mit mir zu versuchen, sich arabische Menschen jenseits des islamischen oder religiösen Deutungsrahmens vorzustellen. So können wir die stark vereinfachenden Wahrnehmungsmuster beseitigen, die dazu beigetragen haben, die arabische und muslimische Bevölkerung in Misskredit zu bringen und zu verleumden. Zwar wurden die Araber bereits in der Zeit vor der Trump-Regierung angefeindet, aber nach der Wahl von 2016 ist das gesellschaftspolitische Klima noch viel niederträchtiger geworden. Und deshalb steht heute wohl mehr auf dem Spiel als jemals zuvor.

Myra Al-Rahim

© Raseef22

Myra Al-Rahim lebt in New York und ist Schriftstellerin, Aktivistin und Radioproduzentin.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff