Ankaras Stunde schlägt im Maghreb

Nachdem eine türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union erst einmal auf Eis liegt, orientiert sich Präsident Erdogan verstärkt in Richtung Maghreb. Dort baut er konsequent den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einfluss der Türkei aus. Von Dalia Ghanem

Von Dalia Ghanem

Algerische Medien berichteten jüngst über Spannungen zwischen Algerien und der Türkei. Thema war die mutmaßliche türkische Unterstützung der islamistischen Rashad-Bewegung. Rashad besteht aus ehemaligen Mitgliedern der Islamischen Heilsfront, einer verbotenen islamistischen Partei in Algerien. In einer Erklärung wies die türkische Botschaft die Berichte als „Anschuldigungen“ und „falsche Gerüchte“ zurück. Die algerischen Behörden haben sich in dieser Angelegenheit bislang noch nicht offiziell geäußert. Inoffizielle diplomatische Quellen sowohl in Algier als auch in Ankara bemühten sich allerdings, die Vorwürfe zu entkräften.

Wie dem auch sei, eine Konfrontation zwischen beiden Staaten ist unwahrscheinlich, denn seit etwa fünfzehn Jahren gewinnt die Türkei in Nordafrika erheblich an Einfluss, insbesondere in Algerien. Die Länder des Maghreb an der Schnittstelle zwischen Subsahara-Afrika, dem Nahen Osten, Südeuropa und dem Mittelmeerraum werden zunehmend Teil einer größeren türkischen Einflusszone. Die Türkei erweitert gezielt ihren Einflussbereich, um ihre wirtschaftlichen, energiepolitischen und militärischen Ziele voranzubringen, die sie als Eckpfeiler einer wachsenden Rolle in Afrika und im Mittelmeerraum ansieht. 

Der Maghreb als Tor zu Afrika

Der Maghreb ist für die wirtschaftlichen Ziele der Türkei das Tor zu den aufstrebenden afrikanischen Märkten. Das beginnt mit den Ländern der Sahelzone. Türkische Investitionen in Afrika sind in den letzten Jahren stetig gestiegen. Das Handelsvolumen der Türkei mit dem afrikanischen Kontinent betrug im Jahr 2020 geschätzte 25,3 Milliarden Dollar. Mit dem Turkey-Africa Economic and Business Forum werden diese Wirtschaftsaktivitäten noch weiter vorangebracht.

Archiv-Foto: Dieses Foto des Presidential Press Service zeigt den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (li) bei einem Treffen mit Algeriens damaligem Präsidenten Abdel Aziz Bouteflika (re) am 27.02.2018; Foto: Kayan Ozer/Pool Presidential Press Service
Auf der Suche nach neuen Märkten in Afrika. Von allen Maghreb-Ländern ist Algerien für die Türkei am wichtigsten. Mit einem Handelsvolumen von 4,2 Milliarden Dollar im Jahr 2020 ist Algerien nach Ägypten der zweitgrößte Handelspartner der Türkei in Afrika. Beide Seiten möchten den Handel im laufenden Jahr auf 5 Milliarden Dollar ausweiten, womit das Land mehr Geschäfte mit der Türkei als mit Ägypten machen würde. 3,5 Milliarden Dollar hat die Türkei in Algerien investiert. Damit ist die Türkei heute der führende ausländische Investor außerhalb des Erdöl- und Erdgassektors und hat inzwischen Frankreich überholt.

Nachdem sich die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Maghreb-Staaten in den letzten anderthalb Jahrzehnten deutlich verbessert haben, lassen sich türkische Produkte in diesen Ländern gut verkaufen. So unterzeichnete die Türkei 2005 ein Assoziierungsabkommen mit Tunesien. Ein Jahr später folgte ein Handelsabkommen mit Marokko und ein Freundschafts- und Kooperationsabkommen mit Algerien.

Von diesen drei Ländern ist Algerien für die Türkei am wichtigsten. Mit einem Handelsvolumen von 4,2 Milliarden Dollar im Jahr 2020 ist Algerien nach Ägypten der zweitgrößte Handelspartner der Türkei in Afrika. Beide Seiten möchten den Handel im laufenden Jahr auf 5 Milliarden Dollar ausweiten, womit das Handelsvolumen mit Ägypten übertroffen wäre. Die Türkei hat 3,5 Milliarden Dollar in Algerien investiert. Damit ist sie heute der führende ausländische Investor außerhalb des Erdöl- und Erdgassektors und hat inzwischen Frankreich überholt.



Auch in den Branchen Baugewerbe, Textilien, Stahl, Lebensmittel und Energie ist die Türkei präsent. Mehr als 1.200 türkische Unternehmen sind in Algerien tätig, die über 10.000 Menschen beschäftigen. So erhielten beispielsweise im vergangenen Januar drei türkische Baukonzerne – Atlas Grup, Ozgur San und Doruk Construction – den Zuschlag für den Bau von  4.400 Sozialwohnungen in verschiedenen Regionen Algeriens mit einem Vertragswert von 1,2 Milliarden Dollar.

Gemeinsame Interessen mit Algerien

Die starke Stellung der Türkei in Algerien dürfte von Dauer sein, zumal die Beziehungen mit der Unterzeichnung von sieben Kooperationsabkommen in den Bereichen Energie, Landwirtschaft und Tourismus erst kürzlich gestärkt wurden.

Auch im Energiesektor verfolgt die Türkei in Algerien nationale Interessen, denn der nordafrikanische Staat ist viertgrößter Gaslieferant der Türkei. So verlängerten der algerische Staatskonzern Sonatrach und die Turkish Petroleum Pipeline Corporation ihren Vertrag über die Lieferung von jährlich 5,4 Milliarden Kubikmeter Gas an die Türkei bis zum Jahr 2024. Sonatrach baut zudem mit der türkischen Rönesans Holding einen petrochemischen Komplex in Ceyhan in der südtürkischen Provinz Adana. Die Investition beläuft sich auf 1,2 Milliarden Dollar.

TDer türkische Staatspräsident Recep Rayyip Erdogan (li) und Abdul Hamid Dbeiba, Chef der lybischen Regierung der Nationalen Einheit (re) laufen die Ehrengarde ab vor ihrem Treffen in Ankara am 12. April 2021; Foto: Adem Altan/AFP
Wachsender türkischer Einfluss im Mittelmeerraum: „Auch wenn die europäischen Länder und insbesondere Frankreich diesem Engagement in einer Region kritisch gegenüberstehen, die traditionell unter dem Einfluss von Paris steht, werden sie sich darauf einstellen müssen,“ schreibt Dalia Ghanem in ihrer Analyse. „Ankaras Bemühen, sich als Alternative zu Frankreich anzubieten, die Europäer zu konfrontieren und sich als Verteidiger der muslimischen Welt zu inszenieren, wird in einer Region begrüßt, die der langjährigen Beziehung zu ihrer ehemaligen Kolonialmacht überdrüssig ist.“

Im benachbarten Libyen, das über die größten Ölreserven Afrikas verfügt, verhandeln die Türkei und die „Regierung der Nationalen Einheit“ (GNA) in Tripolis über Onshore- und Offshore-Förderung. Vergangenen September kamen türkische Regierungsvertreter mit der libyschen National Oil Corporation zu Gesprächen über Stromerzeugung und den Betrieb von Pipelines zusammen.

Türkische Präsenz in Libyen

Am 12. April diesen Jahres empfing der türkische Präsident Erdogan den Ministerpräsidenten der „Regierung der Nationalen Einheit“, Abdul Hamid Dbeiba, zu Gesprächen über eine Zusammenarbeit im Öl- und Gassektor. Die Türkei und Libyen hatten sich zuvor über den Verlauf ihrer Seegrenzen verständigt.

Das türkisch-libysche Seeabkommen würde es beiden Ländern theoretisch erlauben, einen Korridor vom Südwesten der Türkei bis zum Nordosten Libyens zu ziehen und dort Bohrrechte in einer exklusiven Wirtschaftszone zu beanspruchen. Das Abkommen verursachte allerdings Streit mit Griechenland und Zypern. Diese Länder sehen ihre international anerkannten Rechte in dem Seegebiet verletzt.

Gezielt festigt die Türkei ihren militärischen Einfluss in ganz Nordafrika. Libyen ist dafür ein gutes Beispiel. Im Januar 2020 entsandte Erdogan militärisches Personal nach Libyen und setzte dort bewaffnete TB2-Drohnen ein, um den Vormarsch des Milizenführers Chalifa Haftar gegen die libysche Einheitsregierung zu stoppen und ihn zum Rückzug zu zwingen.



Die Türkei setzt konsequent darauf, ihre wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen abzusichern, wie das Seeabkommen mit Libyen zeigt. Algerien hat mit Libyen eine fast 1.000 Kilometer lange gemeinsame Grenze und betrachtet das türkische Engagement in Libyen mit Skepsis, verurteilt es aber nicht offen. Die algerische Regierung wahrt in dem Konflikt nach außen hin Neutralität, steht aber eher hinter der „Regierung der Nationalen Einheit“. Damit wird sie in Libyen praktisch zum Verbündeten der Türkei.

 

 

Ohne die Türkei bliebe Algerien im Konflikt aber nur Zaungast und wäre marginalisiert. Die Türkei kann ihrerseits nicht auf die Unterstützung aus Algerien und Tunesien verzichten. Beide Länder können Ankara wegen ihrer gemeinsamen Grenzen mit Libyen bei Bedarf den Zugang zu dem Land ermöglichen. Dessen ungeachtet arbeitet Algier im Libyenkonflikt weiter mit diplomatischen Mitteln an einer politischen Lösung, die alle Akteure einbezieht und ein Eingreifen ausländischer Akteure verhindern soll.

Rüstungskooperation mit Tunesien



Jenseits von Algerien und Libyen zeigen die Entwicklungen in anderen Teilen des Maghreb, wie Ankaras Militärpolitik der Türkei mehr Einfluss in der Region verschafft. Langfristig will die Türkei den afrikanischen Markt für Rüstungsgüter dominieren. So unterzeichneten Tunesien und die Türkei im Dezember 2020 ein Militärabkommen, das Tunesien zinslose Kredite für den Kauf von türkischer Militärausrüstung im Wert von 150 Millionen Dollar einräumt. Das Abkommen sieht auch die militärisch-industrielle Zusammenarbeit vor, die Schaffung gemeinsamer Kooperationen für Forschung, Entwicklung, die Produktion von Ersatzteilen sowie den Export von militärischen Gütern.

Dieses Abkommen sollte es Ankara ermöglichen, eine solide industrielle Basis in Tunesien aufzubauen, um von dort aus militärisches Material in den gesamten Maghreb und nach Afrika zu exportieren. Mit 37 Militärbüros ist die Türkei in Afrika militärisch so breit vertreten wie kein anderes Land. In den letzten drei Jahren schloss Ankara zudem Abkommen über militärische Zusammenarbeit mit dem Tschad (2019), mit Niger (2020) und Somalia (2021). Die Kooperationen sollen auf weitere afrikanische Staaten ausgedehnt werden.

Die Türkei wirbt auf dem afrikanischen Kontinent auch um politische Unterstützung. Als Reaktion auf die zögerliche Haltung der Europäischen Union bei der Aufnahme der Türkei wendet sich Erdogan dem Maghreb und Afrika zu, um über diesen Weg stärker im Mittelmeerraum präsent zu sein. Es ist absehbar, dass der türkische Einfluss dort weiter zunehmen wird.

Auch wenn die europäischen Länder und insbesondere Frankreich diesem Engagement in einer Region kritisch gegenüberstehen, die traditionell unter dem Einfluss von Paris steht, werden sie sich darauf einstellen müssen. Ankaras Bemühen, sich als Alternative zu Frankreich anzubieten, die Europäer zu konfrontieren und sich als Verteidiger der muslimischen Welt zu inszenieren, wird in einer Region begrüßt, die der langjährigen Beziehung zu ihrer ehemaligen Kolonialmacht überdrüssig ist.

Dalia Ghanem

© Carnegie Middle East Center 2021

Dalia Ghanem ist Resident Scholar am Carnegie Middle East Center in Beirut. Sie forscht und arbeitet dort zu politischer und extremistischer Gewalt, Radikalisierung, Islamismus und Dschihadismus mit dem Schwerpunkt Algerien.

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers