Der Diktator aus der Kiste

An einer versteckten Kamera scheiden sich in diesem Ramadan in Tunesien die Geister. Im Mittelpunkt: der ehemalige Machthaber Ben Ali. Handelt es sich dabei um eine Banalisierung der Diktatur oder einen intelligenten Weckruf? Aus Tunis informiert Sarah Mersch.

Von Sarah Mersch

Ungläubig schaut Samia Abbou den Moderator an. "Der hat sich ja gar nicht verändert", flüstert sie ihm kopfschüttelnd zu. Die Abgeordnete, Aktivistin zur Zeit Zine El Abidine Ben Alis, glaubt sich dem ehemaligen Diktator gegenüber. Dieser sei live aus seinem Exil im saudi-arabischen Jeddah zugeschaltet. Es folgt eine minutenlange erregte Diskussion. "Jetzt lassen Sie mich mal ausreden. Hören Sie mir doch mal zu!", schleudert sie ihm entgegen. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Der vermeintliche Ben Ali ist eigentlich der Stimmenimitator Migalo und sitzt nicht in Jeddah, sondern in Tunis, nur ein TV-Studio weiter entfernt.

Versteckte Kameras haben in Tunesien während des Fastenmonats Hochkonjunktur. Seit dem politischen Umbruch und der damit einhergehenden Pressefreiheit sind viele neue Sender entstanden, die um die Gunst der Zuschauer buhlen. Schon in den letzten Jahren gab es immer mal wieder Debatten, wie weit Versteckte-Kamera-Formate eigentlich gehen dürften, zum Beispiel als ein Sender eine Flugzeugentführung durch vermeintliche Terroristen simulieren ließ.

Doch keine Sendung sorgte für soviel Aufregung wie "Hallo... Jeddah?" des Privatsenders Attessia. Pünktlich zum Fastenbrechen, wenn in Tunesien traditionell die ganze Familie vor dem Fernseher sitzt, wird einem prominenten Gast vorgespielt, Ben Ali würde sich zum ersten Mal seit seiner Flucht im Januar 2011 in den Medien äußern und sei just in diesem Moment live zugeschaltet. Die Reaktionen der Gäste reichen dabei von Tränen der Rührung bis hin zu Wutausbrüchen und wüsten Beschimpfungen.

Der omnipräsente Diktator

Bis zu ein Viertel der tunesischen Zuschauer erreicht die Sendung und viele Videoaufzeichnungen werden noch mehrere Hundertausendmal zusätzlich im Internet angeklickt. Ahmed sieht sich "Hallo Jeddah" jeden Tag an. "Ich will schließlich wissen, wie die Politiker auf Ben Ali reagieren und was sie von der Diktatur halten", argumentiert der Student. Auch die Historikerin Kmar Bendana verfolgt die Sendung aufmerksam, "denn die Sendung geht etwas auf den Grund, das uns alle beschäftigt. Ben Ali ist in unseren Köpfen nach wie vor so präsent, also sollten wir über ihn reden."

Die tunesische Historikerin Kmar Bendana; Foto: Sarah Mersch
Die Historikerin Kmar Bendana sieht in der semifiktionalen Sendung, in der die Grenzen zwischen Unterhaltung und politischer Talkshow verschwimmen, nicht nur eine Übung, um sich auf den Tag X vorzubereiten, sollte ein ähnlicher Fall tatsächlich eintreten, sondern auch eine Gruppentherapie von Gästen und Zuschauern gleichermaßen

Bendana sieht in der semifiktionalen Sendung, in der die Grenzen zwischen Unterhaltung und politischer Talkshow verschwimmen, nicht nur eine Übung, um sich auf den Tag X vorzubereiten, sollte ein ähnlicher Fall tatsächlich eintreten, sondern auch eine Gruppentherapie von Gästen und Zuschauern gleichermaßen, ein Teil der überfälligen Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte Tunesiens. Wichtig sei es jedoch, das Spektakel dabei nicht für bare Münze zu nehmen.

Thameur El Mekki hat Bedenken, dass genau dieser Fall gerade eintritt. Der Medienjournalist hält die Sendung für geschmacklose Propaganda, denn der Stimmenimitator Migalo entwickle eine ganze Argumentationslinie für den gestürzten Ex-Präsidenten. "Man kann doch nicht über 23 Jahre Diktatur sprechen und behaupten, das sei Unterhaltung." Dies stelle eine Banalisierung der Diktatur dar, die längst noch nicht aufgearbeitet sei. Dass dabei auch Ben Ali-kritische Stimmen zu Wort kommen, sei letztendlich irrelevant, "da den Zuschauern einen Monat lang jeden Tag die Argumente des alten Regimes eingetrichtert werden."

Ben Ali hat Heimweh

Wenn am Ende jeder Sendung der vermeintliche Ben Ali kundtue, dass er Heimweh habe und die traditionellen Speisen des Ramadans vermisse, dann hinterlasse dieser Druck auf die Tränendrüse bei den Zuschauern Spuren. "Selbst wenn wir wissen, dass wir uns eigentlich in einem humoristischen Format befinden verfehlt das seine Wirkung nicht und berührt die Zuschauer."

Bendana appelliert an den kritischen Blick der Zuschauer. Man könne nicht einfach den Medien die Schuld in die Schuhe schieben, sondern der Konsument müsse selbst die Verantwortung übernehmen. "Wir leben endlich in Freiheit, jetzt müssen wir uns auch wie freie Menschen verhalten", sagt die Historikerin.

Neben dem Format dieser ungewöhnlichen Versteckten Kamera sind es auch der Sender selbst sowie die Rolle des Anwalts von Ben Ali, die Fragen aufwerfen. Der Direktor von Attesia stehe dem alten Regime nahe, der wiederkehrende Bezug auf dessen Argumente sei also keineswegs unprätentiös, so El Mekki. Immer wieder werden die Gäste der Sendung dabei vom vermeintlichen Ben Ali mit Details aus ihrer Vergangenheit und ihrem Verhältnis zum ehemaligen Machthaber konfrontiert, teilweise fallen Codes und Tarnnamen aus jener Zeit.

Der tunesische Journalist Thameur El Mekki; Foto: Sarah Mersch
Scharfe Kritik an der Verharmlosung und Profanisierung der Diktatur: "Man kann doch nicht über 23 Jahre Diktatur sprechen und behaupten, das sei Unterhaltung", meint der Journalist Thameur El Mekki.

Ob es sich dabei nur um gute Recherche der Redakteure des Senders handelt, wie Kmar Bendana vermutet, oder um gezielte Informationen durch Ben Ali-nahe Kreise, wie El Mekki argumentiert, ist unklar. Die Verantwortlichen des Sender Attessia werden unterdessen nicht müde zu betonen, es handele sich bei "Hallo... Jeddah" um eine reine Unterhaltungssendung ohne politischen Hintergedanken und ohne geheime politische Agenda.

Ein doppeltes Spiel?

Mounir Ben Salha, tunesischer Anwalt des ehemaligen Machthabers, erstattete im Auftrag Ben Alis, am 10. Juni, nur wenige Tage nach Beginn der Ausstrahlung von "Hallo... Jeddah" Anzeige gegen den Sender wegen Angriffs auf die Würde seines Mandanten und Identitätsmissbrauch und forderte die Medienaufsichtsbehörde (HAICA) zur Einstellung der Sendung auf.

Umso verwunderlicher nur, dass Ben Salha selbst wenige Tage später als Gast in der zuvor aufgezeichneten Sendung zu sehen ist, wo er zunächst selbst reingelegt werden soll und in Folge mehrfach an Seiten anderer Gäste auftritt – mit Wissen, dass es sich um eine versteckte Kamera handelt. Diese Auftritte bestärken in Tunesien all jene in ihrer Überzeugung, dass mit der Sendung ein perfider Versuch unternommen werde, die öffentliche Meinung zu manipulieren.

Kmar Bendana sieht in dieser Hinsicht einmal mehr die Zuschauer selbst in der Verantwortung. "Selbst wenn ein geheimer Plan dahinter stecken würde, ist es an den Konsumenten, diesen außer Kraft zu setzen." Folgen hat die Anzeige des Ben-Ali-Anwalts bis heute übrigens nicht gehabt, so dass der falsche Ben Ali auch weiterhin allabendlich zum Fastenbrechen in die tunesischen Wohnzimmer vordringt.

Sarah Mersch

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