Kein Zwang zum Kopftuch

Respekt und Toleranz werden in der marokkanischen Familie Bechari aus Frankfurt am Main groß geschrieben, obwohl das Kopftuch Mutter und Tochter trennt. Einblicke von Canan Topçu

Von Canan Topçu

Rabia Bechari trägt ihr Haar stets verhüllt. Sie mag Abwechslungen und trägt mal ein buntes, mal ein schwarzes Kopftuch. Ihre Garderobe ist immer so ausgewählt, dass die Konturen ihres Körpers nicht betont sind. Mal zieht sie ein langes Kleid an, mal Hosen und Tunika.

Rabia Bechari ist eine fromme Frau. Sie betet und fastet und sie beschäftigt sich intensiv mit ihrer Religion, besucht Vorträge und Veranstaltungen, in denen über den Islam diskutiert wird. Und sie liest Bücher über den Islam. Den Glauben praktizieren, das bedeutet für Rabia Bechari, nicht nur an sich zu denken, sondern auch für andere da zu sein. Daher engagiert sie sich ehrenamtlich als Seelsorgerin in einem Frankfurter Krankenhaus.

Rabias Tochter Nadia ist anders. Nadia trägt ihre Haare mal gelockt, mal glatt. Sie trägt enge Klamotten und schminkt sich gerne grell. Auf ihre Lippen trägt sie knallroten Lippenstift, ihre Augen verwandelt sie mit farbigen Kontaktlinsen von dunkelbraun zu grün.

Gerne provozierend

Nadia provoziert gern. Deswegen kleidet sie sich so, "wie sich Mädchen nicht kleiden sollten". Dass die Verwandten und Leute aus dem Bekanntenkreis ihrer Mutter dieser Ansicht sind, weiß Nadia von ihrer Mutter. "Was hinter meinem Rücken geredet wird, ist mir egal", erklärt die 18-Jährige mit trotziger Stimme. Rabia Bechari ist das nicht egal. Trotzdem kommentiert sie nicht die Garderobe ihrer Tochter. Weil sie der Ansicht ist, dass Druck als Erziehungsmethode zu nichts führt.

Mutter und Tochter wohnen unter einem Dach. Um des friedlichen Zusammenlebens willen halten sie sich an stillschweigend vereinbarte Abkommen. Dazu gehört beispielsweise, dass sich Nadia ihrer Mutter nicht im Minirock zeigen würde. "Das hat was mit meinem Respekt vor ihr zu tun", sagt Nadia. Wenn sie Lust habe, einen Minirock zu tragen, dann nehme sie ihre Garderobe mit zu ihrer Freundin und ziehe sich dort um.

Symbolbild Kopftuch; Foto: picture-alliance/Godong
Toleranz trotz vieler Vorbehalte: "Rabia und Nadia sind gegensätzlich – im Bezug auf ihr Äußeres, ihren Lebensstil und ihre Lebenseinstellungen. Trotzdem mögen sich Mutter und Tochter und respektieren einander, auch wenn sie 'ein sehr kompliziertes Verhältnis' haben", so Canan Topçu..

Anders als ihre Tochter möchte Rabia Bechari aber ganz und gar nicht provozieren. Und sie tut es trotzdem – unbeabsichtigt. Fremde Menschen äußern sich immer wieder und ungefragt zu ihrem Äußeren. An Fragen zu ihrer Religion hat sich die 39-Jährige mittlerweile gewöhnt. Sie lässt sich auf Gespräche ein und erklärt ihre Auffassung, dass das Tragen des Kopftuchs ein religiöses Gebot und eine "gottesdienstliche Handlung" ist.

Sie weiß um die unterschiedlichen Interpretationen des Islams und vor allem auch um Auslegungen der Koran-Sure, in der es um das Verhüllen weiblicher Reize geht. Sich zu verhüllen, ohne die innere Haltung zu haben, sei Unsinn, meint Rabia Bechari. Und deswegen habe sie auch ihre Tochter nie gedrängt, ein Kopftuch zu tragen. "Mit Druck erreicht man doch nicht das Ziel, gottgefällig zu leben."

Ganz unterschiedliche Lebensstile

Rabia und Nadia sind gegensätzlich – in Bezug auf ihr Äußeres, ihren Lebensstil und ihre Lebenseinstellungen. Trotzdem mögen sich Mutter und Tochter und respektieren einander, auch wenn sie "ein sehr kompliziertes Verhältnis" haben. Rabia Bechari sagt, sie schätze die "aufrichtige und direkte Art" ihrer Tochter.

Nadia wiederum gefällt an ihrer Mutter, dass sie trotz der vielen Vorbehalte in dieser Gesellschaft das Kopftuch nicht ablegt. Nadia findet ihre Mutter auch mit Kopftuch "sehr schön". Und sie mag an ihrer Mutter deren Überzeugung, dass es "keinen Zwang im Islam gibt".

Rabia Bechari war nicht immer so fromm. Als sie ein Kind war und ihre Mutter nach ihrer Religion befragte, konnte die Mutter ihr nicht erklären, was es mit den Geboten und Verboten im Islam auf sich hat. "Sie hat mir zwar immer gesagt, dass sie aus religiösen Gründen ein Kopftuch trägt, doch warum das so ist, wusste sie selbst nicht", sagt Rabia Bechari, die als zweites von acht Kindern marokkanischer Eltern in Frankfurt zur Welt kam und aufwuchs.

Wahl des Kopftuchs nach der Scheidung

Die Entscheidung, ihr Haar zu verhüllen, traf sie vor etwa zehn Jahren, kurz nachdem sie sich von ihrem Ehemann getrennt hatte. Damals arbeitete sie noch als Bankkauffrau und sorgte für Irritationen bei ihren Kollegen und auch bei ihrem früheren Mann, der sie während der Ehe nicht vom Kopftuchtragen hatte überzeugen können.

Inzwischen hat Rabia eine zweite Trennung hinter sich, arbeitet als Tagesmutter und lebt als alleinerziehende und dreifache Mutter in Dreieich bei Frankfurt. Sie hat außer der Tochter noch zwei Söhne im Alter von sechs und 17 Jahren.

Mann liest im Koran; Foto: picture-alliance/ dpa
Rabia Bechari weiß um die unterschiedlichen Interpretationen des Islams und um Auslegungen der Koran-Sure, in der es um das Verhüllen weiblicher Reize geht. Sich zu verhüllen, ohne die innere Haltung zu haben, sei Unsinn, meint sie.

"Ich bin erst mit der Zeit frommer geworden und habe angefangen, mich über den Islam kundig zu machen", erzählt Rabia Bechari. Und weil sie wollte, dass ihre Tochter – anders als sie selbst in ihrer Kindheit – eine religiöse Unterweisung erhält, die nicht im Auswendiglernen von Koransuren besteht, schickte sie Nadia zu deutschsprachigen Kursen, unter anderem in einer pakistanischen Gemeinde. "Das war alles schon interessant", sagt Nadia. Überzeugend klingt es aber nicht.

Kopftuch unpassend zum Lebenswandel

Auch Nadia trug eine Zeitlang ein Kopftuch. Weil sie es schön fand, wie ihre Mutter aussah. Nadia wollte aber nicht nur ein Kopftuch tragen, sondern sich auch schminken. Ein Deal, den Mutter und Tochter eingingen: Das Mädchen trug ein Kopftuch und durfte sich schminken. Da war Nadia etwa dreizehn Jahre alt und Siebtklässlerin an einer Hauptschule.

Dass Nadia von heute auf morgen mit dem Kopftuch zur Schule kam, habe die Klassenlehrerin nicht verstanden, sagt Rabia. "Sie hat mir unterstellt, ich hätte meine Tochter dazu gezwungen." Wer Nadia kenne, der müsse eigentlich wissen, dass sie ihren eigenen Kopf habe und zu nichts gezwungen werden könne. "Eigentlich wollte ich die Lehrer und die Klassenkameraden provozieren", meint Nadia rückblickend.

Das sei ihr gelungen, habe ihr aber nicht gut getan. Ab dem Zeitpunkt bekam die gute Beziehung zu ihrer Klassenlehrerin einen Riss. Nach ein paar Monaten legte Nadia das Tuch ab, weil sie feststellte, dass es "doch nicht" zu ihr passe. Dabei ist es geblieben. Mit ihrem Lebenswandel sei das Tuch nicht kompatibel, sagt die 18-Jährige. "Vielleicht kommt ja auch die Zeit, in der ich es mir anders überlege."

Canan Topçu

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