Abschied von der Militärverfassung

Die Türkei hat sich mehrheitlich für die Verfassungsreform ausgesprochen. Gegner und Beobachter sehen darin eine Zurechtweisung von regierungskritischen Organen des Militärs und der Justiz, doch was bedeuten die Veränderungen für den EU-Beitritt der Türkei? Dieter Sauter berichtet aus Istanbul.

Stimmzettel beim türkischen Verfassungsreferendum; Foto: dpa
Nicht besonders weitreichend, aber ein Schritt in Richtung Demokratisierung: 58 Prozent stimmten mit "Ja", 42 Prozent mit "Nein" zur Verfassungsreform.

​​ Die gute Nachricht für die AKP-Regierung von Tayyip Erdogan: 58 Prozent stimmten für die Verfassungsreform. Es wurde reichlich gejubelt vor der Zentrale der Regierungspartei, denn viele hatten ein knapperes Ergebnis befürchtet.

Der amerikanischen Präsident Barack Obama gratulierte dem türkischen Regierungschef persönlich am Telefon. Die EU-Außenminister zeigten sich zufrieden und erleichtert. Politische Instabilität am Bosporus ist das letzte, was in der großen Krisenregion Naher und Mittlerer Osten gefragt ist.

Was man dem Ergebnis jedoch nicht sofort ansieht: Die Türkei ist tief gespalten, ist dreigeteilt: Die Städte im Westen, an der Ägäis-Küste und an der Mittelmeerküste (19 von 81 Bezirken) sind die Hochburgen der alten Staatselite in der Bürokratie, der Justiz und Armee. Hier wurde auch mehrheitlich mit Nein gestimmt.

Neun Bezirke im Südosten der Türkei, die vor allem von Kurden bewohnt sind, boykottierten mehrheitlich die Abstimmung. In der Stadt Hakkari an der iranisch-irakischen Grenze gingen gerade mal knapp 6 Prozent der Wähler an die Urnen. Die übrigen 53 Bezirke stimmten mehrheitlich mit Ja.

Missbrauch der Verfassung

Die Verfassung, die als Werteordnung das verbindende Element eines Landes sein sollte, wurde von allen Parteien für politische Muskelspiele missbraucht. Jede Seite wollte vor allem ihren Einfluss demonstrieren. Um die Verfassung selbst ging es dabei oft nur am Rande.

​​ Die wurde seit 1982 übrigens bereits 16 Mal geändert. Fast die Hälfte der 177 Artikel wurde schon einmal umformuliert. Die neueste Reform ist nicht einmal besonders weit reichend.

Rechte für den türkischen Staatsbürger sind in den 26 geänderten Artikeln eher gering dosiert: Ein bisschen Datenschutz , im öffentlichen Dienst soll es ab jetzt auch Tarifverträge geben – aber kein Streikrecht; jeder Bürger soll sich an das Verfassungsgericht wenden können; es wird eine unabhängige Beschwerdestelle für den Bürger (Ombudsmann) eingerichtet; auch hochrangige Militärs müssen sich ab jetzt vor zivilen Gerichten verantworten.

Jedoch ist jeder kleine Schritt besser als das Verharren in einer Rechtsordnung, die 1982 die Putschgeneräle in Ankara ausarbeiten ließen. Dass dies nun zu einer schleichenden Islamisierung des Landes führen könnte, war selbst bei hartnäckigen Gegnern der Reform kaum ein Thema.

Antrittstest für Kilicdaroglu

Die Nein-Sager waren eine schillernde Koalition vom linksradikalen Parteienrand bis zu ultrarechten Grüppchen. Jeder hatte seine eigenen Motive. Sie einte nicht das Nein zur Verfassungsreform, sondern das Nein zur AKP. Nur wenige argumentierten gegen die Verfassungsänderungen selbst. Von keiner Seite gab es zum vorgelegten Verfassungstext auch nur eine alternative Formulierung.

Der Chef der größten Oppositionspartei, Kemal Kilicdaroglu (CHP) erklärte das Referendum gar zum "Befreiungskrieg" gegen die Regierungspartei AKP. Kilicdaroglu ist gerade vier Monate Oppositionsführer, nachdem sein Vorgänger Deniz Baykal durch eine Parteiintrige gestürzt wurde. Er musste beweisen, dass man mit ihm besser Wahlen gewinnen kann als mit seinem Vorgänger.

Türkische Militärs; Foto: AP
1982 verabschiedeten fünf Generäle nach dem Putsch von 1980 eine neue Verfassung, die danach 16 Mal geändert wurde. Die aktuellen Änderungen stärken den persönlichen Schutz von Bürgern und die Rechte von Minderheiten. Die Befugnisse der Militärjustiz werden eingeschränkt; die politische Immunität der Militärjunta von 1980 wird aufgehoben.

​​ Das Abstimmungsergebnis in seinen Hochburgen zeigt: Er ist mit einem blauen Auge davongekommen – wenn es da nicht ein peinliches Missgeschick gegeben hätte: Er selbst konnte an der Abstimmung gar nicht teilnehmen, weil er nicht ordentlich zur Wahl angemeldet war.

Die Kurdenpartei BDP hatte – wie der inhaftierte PKK Führer Abdullah Öcalan – zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Auch den Kurdenpolitikern ging es vor allem darum, zu demonstrieren: An der BDP geht im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten kein Weg vorbei. Das ist ihnen gelungen.

Abstimmung ohne Debatte

Tayyip Erdogan hatte es seinen Gegnern leicht gemacht. Er verzichtete darauf, einen gesellschaftlichen Konsens über die Verfassungsreform herzustellen. Er ließ die neuen Artikel aufschreiben – und forderte das Land auf, dem zuzustimmen.

Selbst Debatten in der eigenen Partei wurden unterbunden. Als vor einigen Monaten 20 Abgeordnete der AKP Kritik äußerten, reagierte der hitzköpfige Premier unwirsch: Wenn sie nicht einverstanden seien, dann sollten sie eben aus der Partei austreten.

Abstimmung im Wahllokal; Foto: dpa
Während sich die Anhänger der nationalistischen MHP nicht überall an ihr Boykottaufruf gegen das Referendum hielten und mit "Ja" stimmten, blieben in den Kurdengebieten viele Stimmberechtigte zu Hause - auch aus Angst vor Anschlägen der PKK auf Wahllokale.

​​ So stimmten im Parlament nicht einmal alle AKP Abgeordneten für seine Verfassungsreform. Der Artikel, der das Verbot von Parteien neu regeln sollte, musste deshalb aus dem Reformpaket gestrichen werden.

Bei seiner Rede zum Ergebnis des Referendums gab sich Erdogan schließlich wieder staatsmännisch versöhnlich. Die jetzige Verfassungsreform reiche nicht. Seine Partei wolle dem Land eine ganz neue Verfassung geben. Auch dazu benötigt der Premierminister die umstrittene Justizreform, die nach dem Referendum nun in Kraft treten kann.

Bisher war die Justiz eine Hochburg der alten Staatseliten, die eine umfassende Verfassungsreform jederzeit blockieren konnten. Nun wird die Zahl der Verfassungsrichter und der Mitglieder des "Obersten Rates der Richter und Staatsanwälte" (HSYK) erhöht und der Wahlmodus zugunsten des Parlamentes und des Staatspräsidenten leicht geändert. Das kann den politischen Einfluss zugunsten der AKP verschieben – ohne dass bereits amtierende Richter oder Staatsanwälte entlassen werden müssen.

Vertagung der Probleme

Doch allzu rasch wird sich in Ankara nichts ändern. 2011 sind Wahlen – und Wahlkampfzeiten sind Zeiten für Forderungen und Versprechungen, nicht für die Lösung schwieriger Probleme, über denen das Land tief gespalten ist. So wird die Aussöhnung mit Armenien oder die Lösung der Kurdenfrage zunächst vertagt werden.

Da die AKP durch das Referendum gestärkt in diesen Wahlkampf zieht, kann sie zumindest aber auf populistisches Störfeuer gegen die Friedensgespräche im Nahen Osten verzichten.

Wer immer in Europa das Gerücht aufgebracht haben mag, die Zustimmung zu dieser Verfassungsreform werde die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU voranbringen: Das Thema EU spielte in den letzten Wochen praktisch keine Rolle am Bosporus.

Auch Tayyip Erdogan erwähnt in seiner knapp einstündigen Rede zum Ausgang des Referendums die EU mit keinem Wort. Selbst die Konferenz der EU-Außenminister zu den Beziehungen der EU zur Türkei, die nur wenige Stunden vor dem Referendum in Brüssel abgehalten wurde, fand in den meisten Tageszeitungen kaum Beachtung.

EU-Beitrittsprozess in der Sackgasse

Auch wenn keiner offen darüber spricht: Ankara fasst schon seit einiger Zeit Plan B – eine Zukunft ohne EU-Mitgliedschaft – ins Auge. Tayyip Erdogan weiß: Demnächst werden die Verhandlungen vielleicht sogar zum Stillstand kommen.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton warnte am Wochenende in Brüssel, die Verhandlungen mit Ankara könnten ins Stocken geraten, wenn es nicht gelinge, eine Einigung zwischen der Türkei und dem EU-Mitglied Zypern über die wechselseitigen Beziehungen zu finden.

Premier Erdogan im Wahllokal; Foto: AP
"Tayyip Erdogan hatte es seinen Gegnern leicht gemacht: Selbst Debatten in der eigenen Partei wurden unterbunden", schreibt Sauter.

​​ Tatsächlich gehen den Unterhändlern demnächst die Themen aus. Von 35 Verhandlungskapiteln ist nach 5 Jahren erst eines abgeschlossen. Rund ein Dutzend Verhandlungskapitel sind blockiert, vor allem wegen Zypern. Der Beitrittsprozess steckt in einer Sackgasse – oder wie der ehemalige türkische Chefunterhändler Babacan kürzlich erklärte: Wir werden die EU niemals für Zypern aufgeben – und wir geben Zypern niemals wegen der EU auf. Fazit: Nichts geht mehr.

Nun probieren selbst (ehemalige) Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei neue Formulierungen für die Beziehungen zur Türkei. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle erklärt, die Debatte über einen Beitritt der Türkei zur EU sei "zu kurz gegriffen", darum "geht es ja zurzeit nicht".

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton meint, man müsse "den strategischen Dialog zwischen der Türkei und der EU und die Beitrittsverhandlungen gleichzeitig führen".

Doch worin genau besteht der Unterschied zwischen einem "strategischem Dialog" und den Beitrittsverhandlungen? Catherine Ashton weiß: Die EU-Staaten sind sich uneins, wie es mit dem Beitrittskandidaten am Bosporus weitergehen soll, und es ist unwahrscheinlich, dass sich die 27 Mitgliedsländer bis Jahresende verständigen werden, wie ein Plan B im Verhältnis zur Türkei konkret aussehen könnte.

Dieter Sauter

© Qantara.de 2010

Dieter Sauter lebt seit 1991 in Istanbul und ist als freier Autor, Journalist und Fotograf tätig.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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