Warum der Irak für die USA kein Afghanistan ist

Die USA ziehen bis Jahresende ihre Kampftruppen aus dem Irak ab. Zur Terrorbekämpfung soll die Zusammenarbeit aber fortbestehen. Keine Seite kann öffentlich zugeben, wie sehr sie die andere braucht. Hintergründe von Cathrin Schaer

Von Cathrin Schaer

Bis Ende 2021 werden die USA ihren Kampfeinsatz im Irak beenden. Darauf haben sich US-Präsident Joe Biden und der irakische Premierminister Mustafa al-Kadhimi in einem "Strategischen Dialog" in Washington verständigt. Anders als in Afghanistan wird dies aber nicht das Ende der US-Präsenz in dem Nahostland bedeuten.

In einer gemeinsamen Stellungnahme hieß es, die künftige Rolle des US-Militärs werde es sein, "verfügbar zu sein, weiter auszubilden, zu unterstützen, zu helfen und mit dem IS umzugehen". Die von den USA genutzten Stützpunkte, betont das Schreiben, seien irakische Stützpunkte und unterlägen irakischem Recht.

Parlament in Bagdad fordert Truppenabzug

Für Beobachter ist die Ankündigung keine Überraschung, sondern eine Konsequenz aus den Ereignissen von Anfang vergangenen Jahres: Am 3. Januar 2020 töteten die USA bei einem Drohnenangriff nahe dem Flughafen von Bagdad den iranischen Top-General Ghassem Soleimani und den irakischen Milizenführer Abu Mahdi al-Muhandis. Beide galten als Kommandeure der Volksmobilmachungskräfte (PMF), einer paramilitärischen Organisation, die vom Iran unterstützt wird, mittlerweile aber im Irak als halb-offizielle Sicherheitskraft fungiert.

Die außergerichtliche Exekution durch die USA auf irakischem Boden erzürnte viele Iraker. In einer nicht-bindenden Abstimmung forderte die Mehrheit der Abgeordneten, das US-Militär aus dem Irak zu verbannen. Mit der nun geschlossenen Einigung trägt der irakische Regierungschef also dem Abstimmungsergebnis Rechnung.

 US-Präsident Joe Biden (r.) und Iraks Premierminister Mustafa al-Kadhimi haben sich auf ein Ende des Kampfeinsatzes der USA im Irak verständigt. (Foto: Saul Loeb/AFP/Getty Images)
US-Präsident Joe Biden (r.) und Iraks Premierminister Mustafa al-Kasimi haben sich auf ein Ende des Kampfeinsatzes der USA im Irak verständigt. (Foto: Saul Loeb/AFP/Getty Images)

Doch anders als in Afghanistan steht dem Irak kein vollständiger Abzug der US-Truppen bevor. Hier geht es wohl eher darum, Soldaten auszutauschen oder ihre Rolle neu zu definieren, als darum ihre Anzahl effektiv zu reduzieren.

Eine diplomatische Show-Einlage?

Die New York Times hat die Vereinbarung deshalb als "diplomatisches Theaterstück" bezeichnet. Sabereen News ist ein Kanal in der Kurznachrichten-App "Telegram", der sich an die PMF-Milizen wendet. Darin heißt es: "Kein amerikanischer Soldat wird abgezogen … lediglich ihre Beschreibung wird auf dem Papier geändert!" Unter dem Hashtag "#withdrawal on our terms" (dt.: Rückzug nach unseren Regeln) propagiert Sabereen den Kampf gegen die US-Truppen. Wozu also das ganze "Theater"?

Renad Mansour meint, es gehe darum, ein offenes Geheimnis zu pflegen, wonach viele Politiker im Irak die US-Präsenz hinter vorgehaltener Hand tolerierten: "Die meisten irakischen Anführer, auch wenn sie es nicht offen sagen, wissen, wie wichtig es ist, die USA dort zu haben", sagt der Leiter der Irak-Initiative des Londoner Think Tanks Chatham House. "Sehr wenige von ihnen wollen wirklich einen vollständigen Abzug der US-Truppen", sagt Mansour mit Blick auf die PMF, die mutmaßlich hinter den anhaltenden Drohnenangriffen auf Stützpunkte und Nachschub-Konvois der US-Armee stecken.

Nicht einmal der Iran will den Truppenabzug

Die US-Präsenz biete aber auch Schutz für die meisten westlichen Akteure im Irak, erklärt Mansour weiter. Wenn die USA sich ganz zurückziehen würden, sei es wahrscheinlich, dass Großbritannien und Deutschland folgen würden. Der Irak würde dann zum "Pariastaat", meint Mansour, "abgeschottet von der Welt".

Und das würde nicht einmal der Iran - der selbsterklärte Feind der USA - wirklich wollen, ist Mansour überzeugt. Der Iran profitiere nämlich davon, dass das Nachbarland Verbindungen zum Rest der Welt unterhält, während man selbst durch Sanktionen vom größten Teil der internationalen Gemeinschaft abgeschnitten ist. Der Irak gehört - offiziell und inoffiziell - zu den wichtigsten Handelspartnern des Iran.

 Seit ihrer außergerichtlichen Exekution gelten die Milizen-Kommandeure al-Muhandis und Soleimani vielen Irakern als Volkshelden. (Ahmad Al-Rubaye/AFP/Getty Images)
Seit ihrer außergerichtlichen Exekution gelten die Milizen-Kommandeure al-Muhandis und Soleimani vielen Irakern als Volkshelden.

US-Truppen für die Balance im Irak

Die USA stabilisieren den Irak aber auch innenpolitisch und insbesondere die aktuelle politische Balance zwischen den drei großen Bevölkerungsgruppen. Diese könnte, so fürchten Sunniten und Kurden, nach einem vollständigen Abzug der USA zugunsten der Iran-gestützten Schiiten kippen. "Die US-Kräfte werden als Ausgleich und Abschreckung gegen den Iran gesehen", teilte eine Regierungsquelle der Deutschen Welle unter der Bedingung mit, anonym zu bleiben.

Die Regierungsquelle teilt die von Premierminister Kadhimi geäußerte Einschätzung, dass der Irak keine US-Kampftruppen am Boden mehr braucht. Für die Luftabwehr, etwa gegen Drohnenangriffe, und für Luftunterstützung im Kampf gegen den IS sei man aber auf die US Air Force angewiesen. Das irakische Militär braucht außerdem die Informationen der US-Geheimdienste über die Terroristen, so die Quelle. Am wichtigsten sei aber vielleicht das Training: "Wir müssen sicherstellen, dass unsere Armee neutral, stark und professionell ist." Alles andere würde den Paramilitärs in die Hände spielen, die eher dem Iran als dem Irak gegenüber loyal sind.

Den Einfluss der USA erhalten

Aber auch den Interessen der USA würde ein vollständiger Truppenabzug entgegenstehen, erklären Analysten der Denkfabrik RAND Corporation in Kalifornien. In einem Report von Mai 2020 haben sie verschiedene Möglichkeiten untersucht und kommen zu dem Schluss, dass eine kleine Militärdelegation mit Beratern und Trainern die beste Option wäre.

"Einen stabilen und befreundeten Irak zu unterstützen, ist weiterhin im langfristigen Interesse der USA", schreiben die kalifornischen Militärexperten. "Eine langfristige Präsenz erhält den US-Einfluss im Irak, der im Gegenzug iranischen, russischen oder anderen schädlichen Einfluss mindert."

ie viel gelobte Anti-Terrorismus-Einheit des Irak wurde vom US-Militär trainiert. (Foto: Sabah Arar/AFP/Getty Images)
ie viel gelobte Anti-Terrorismus-Einheit des Irak wurde vom US-Militär trainiert.

US-Truppen sind seit 2003 durchgehend im Irak stationiert. Damals griffen die USA unter Präsident George W. Bush das Land mit rund 125.000 Soldaten an - vorgeblich, um Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Die Invasion führte zum Sturz des langjährigen Diktators Saddam Hussein.

Für Iraker ändert sich nichts

Nachdem der neue US-Präsident Barack Obama 2009 den Rückzug aus dem Irak angekündigt hatte, reduzierten die USA ihre Truppenpräsenz kontinuierlich. Und verschiedenen Beobachtern zufolge haben die US-Soldaten längst begonnen, in die Rolle von Beratern zu wechseln. Davon ist jedenfalls schon seit 2007 die Rede.

Nach dem Erstarken der Terrorgruppe "Islamischer Staat" in Irak und Syrien im Jahr 2014 stockten die USA ihre Truppen noch einmal auf. Die irakische Armee und die kurdischen Kampfeinheiten im Irak brauchten dringend die Luftunterstützung der Amerikaner, um die Extremisten effektiv zu bekämpfen. Rund 5000 US-Soldaten waren zu der Zeit im Irak stationiert. Im vergangenen Jahr reduzierte der damalige US-Präsident Donald Trump ihre Zahl dann auf die aktuellen 2500.

Insofern dürfte die Übereinkunft vom Montag das Leben der meisten Menschen im Irak also kaum verändern. Die einst allgegenwärtigen Kontrollpunkte der Amerikaner sind längst passé. Heute sind sie von der irakischen Armee besetzt - oder von Mitgliedern der PMF. Einen US-Soldaten haben die meisten Menschen im Irak seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen.

Cathrin Schaer

© Deutsche Welle 2021

Aus dem Englischen adaptiert von Jan D. Walter