Die Entschlüsselung der ersten Schriftsprache

Um etwa 3200 v. Chr. hat sich im Alten Orient die erste Schriftsprache des Menschen entwickelt. 1872 stellt George Smith auf einer Konferenz in London Fragmente des Sintflut-Narratives der altorientalischen Gilgameš-Erzählung vor – das erste Epos des Menschen wird wiederentdeckt. Von Melanie Christina Mohr

Von Melanie Christina Mohr

Rainer Maria Rilke schrieb 1916 in einem Brief an Helen von Nostritz: "Ich habe mich mir der genauen gelehrten Übersetzung eingelassen und an diesen wahrhaft gigantischen Bruchstücken Maaße und Gestalt erlebt, die zu dem Größten gehören, was das zaubernde Wort zu irgendeiner Zeit gegeben hat".

Das altorientalische Gilgameš-Epos, das Rilke in der Bearbeitung Ungnads vorlag, verkörpert das erste Epos des Menschen, setzt sich gegenwärtig aus knapp zweihundert Keilschrifttafeln und Fragmenten zusammen, die zu der sogenannten Standardversion zählen und reicht aus seiner mesopotamischen Entstehungs- und Wirkungsstätte bis in unsere Zeit.

Auch wenn die Autoren der meisten Keilschrifttexte nicht bekannt sind, weiß man aus der babylonischen Tradition, dass Sîn-leqe-unnīnī um 1200 v. Chr. in der antiken Stadt Uruk vermutlich die alt- und mittelbabylonischen Tafeln und Fragmente sammelte, um das zu schaffen, was uns heute so "zaubernd" vorliegt.

Einstiges Gelehrten-Curriculum

Teile des Epos gehörten vor über 3700 Jahren zum Gelehrten-Curriculum, was erklärt weshalb das Narrativ mal mehr mal weniger variiert, sich durch die kreativen Impulse einzelner Kopisten, sowie literarischer Traditionen und Dialekte auszeichnet.

Seit dem 19. Jahrhundert werden die Texte in philologischer Detailarbeit übersetzt und analysiert; immer wieder werden neue Keilschriftfragmente bei Grabungen gefunden oder von anonymen Sammlern an die Forschung übergeben, die Lücken in der Erzählung schließen oder Unsicherheiten klären.

Ebenso wie der Held Gilgameš, sein Gefährte Enkidu und der Wächter des Zedernwaldes, Ḫumbaba, es in unsere Gegenwart geschafft haben, lassen sich auch antike Orte wie die Ruinenstädte Persepolis im Süden des Irans bestaunen, oder das Bergmassiv von Bīsotūn, in der Provinz Kermānshāh, im Westen des Landes besuchen. Letzteres ist der Ort, der die Entzifferung der wundersamen Keilschrift möglich machte.

Behistun Inscription, Mount Behistun, Kermanshah Province, Iran; Foto: Wikipedia
Die "Trilingue von Bīsotūn": In einem Bergmassiv in großer Höhe ließ Achämenidenkönig Dareios I. die Bildnisse der Könige vor gefesselten Gefangenen einmeißeln. Über der Darstellung schwebt Faravahar, das Symbol des altpersischen Zoroastrismus.

Reise in uralte und zugleich neue Sphären

Für Johannes Friedrich (1954) gehört die Entschlüsselung alter Sprachen und Schriften während des 19. und 20. Jahrhunderts "zu den hervorragendsten Leistungen des menschlichen Geistes". Das mangelnde Interesse an diesen bahnbrechenden, wissenschaftlichen Errungenschaften erklärt er sich mit dem wenig greifbaren Charakter, dem für die Gegenwart nicht immer erkennbaren Nutzen und Wert dieser alten Schriften und Texte.

Über die Schriftlichkeit und den Ursprung der geschriebenen Sprache wissen wir mit Sicherheit, dass sich ihre visuelle Gestalt aus den Tiefen des Alten Orients – in Mesopotamien – im Zuge von Landwirtschaft und Handel um 3200 v. Chr. entwickelte. Die elamische, altpersische und babylonische Inschrift, die in das Bergmassiv von Bīsotūn gefasst sind, ermöglichten die Entzifferung der Keilschrift und markierten den Beginn einer Reise in uralte und zugleich neue Sphären.

Der dritte Achämenidenkönig Darius der Große (522-486 v.Chr.) nimmt die Urheberschaft für sich in Anspruch, beruft sich auf das Erbe Kyros des Großen und feiert seinen Triumph über Gaumāta, dem Oberhaupt der Zarathustra-Priester.

Die "Trilingue von Bīsotūn" wurde bereits von den ersten Orientfahrern im 17. Jahrhundert wahrgenommen. Als es Georg Friedrich Grotefend (1775 – 1853) gelang, einen ersten grundlegenden Schritt in die Richtung der Entzifferung der Keilschrift zu unternehmen, hatte Carsten Niebuhr bereits (1733 -1815) zweiundvierzig verschiedene Zeichen der altpersischen Fassung der "Trilingue" benennen können, Oluf Gerhard Tychsen (1734 – 1815) die Bedeutung des diagonalen Keils in seiner Funktion als Worttrennungszeichen identifiziert und Friedrich Münter (1761 -1830) richtig festgehalten, dass die Schrift von links nach rechts geschrieben und dementsprechend auch zu lesen ist.

Grotefends herausragende Leistung lag in der Entschlüsselung der persischen Königsnamen Xerxes, Darius und Hystaspes. Auch und ganz besonders Sir Henry Rawlinson, machte sich einen Namen; ab 1835 begann er die Inschriften der "Trilingue von Bīsotūn" zu kopieren und hinterließ seinen Nachkommen detaillierte Schilderungen über das zum Teil lebensgefährliche Unterfangen.

Die ersten Sprachen des Menschen

Jagdszene zeigt assyrischen König Aššurbanipal; Quelle: Wikipedia
Der letzte assyrische Herrscher, König Aššurbanipal, galt als sehr gebildet. In seiner Regierungszeit entstand die Bibliothek in Niniveh t, die bedeutendste Bibliothek des Alten Orients. . Allein dort wurden rund 28.000 Schrifttafeln und Fragmente gefunden.

Das isolierte Sumerisch – die Sprache, in der die ersten literarischen Produktionen unserer Zivilisation niedergeschrieben wurden –  verkörperte die Vorstufe des Akkadischen, das sich über Epochen entwickelte, bis es irgendwann dem Aramäischen weichen musste; die letzten literarischen Keilschrifttexte stammen aus den letzten beiden Jahrhunderten vor Christus.

Der Keilschriftkorpus ist ausufernd reich und zeichnet sich durch eine Vielzahl an Dialekten und (literarischen) Traditionen aus.

Unter den Texten finden sich Rechtsurkunden, Briefe, Omina, Epen, Hymnen, Gebete und Gesänge, Beschwörungs- und Zauberformeln, Talismane und natürlich Erzeugnisse der wissenschaftlichen Literatur, zum Beispiel grammatikalische und lexigraphische Sammlungen, geographische Listen, Aufzeichnungen über Mathematik, Astronomie und Astrologie.

Was wir heute über den Alten Orient im Kernland zwischen Euphrat und Tigris und darüber hinaus wissen, stammt aus den Tontafeln und Inschriften die in Stelen, Palästen oder wie in Bīsotūn einem Bergmassiv festgehalten wurden. Allein in der Bibliothek des assyrischen Königs Aššurbanipals in Niniveh wurden rund 28.000 Tafeln und Fragmente gefunden.

1964 wird in Nordsyrien das Ebla-Archiv freigelegt, das einen Einblick in die Organisation von Literatur ermöglicht und nicht weit von unserem modernen System entfernt scheint. Manche antiken Texte enthalten "Klappentexte", die einen Überblick über den Inhalt liefern. Auch die Art der Texte kann stellenweise an der Form und Größe einer Tontafel abgelesen werden; administrative Texte und Rationslisten waren beispielsweise relativ lang und fassten bis zu 60 Kolumnen, manchmal 3000 Zeilen pro Tafel.

Die altorientalische Literatur möchte gelesen werden; neben dem Helden Gilgameš, der auf der Suche nach der Unsterblichkeit ist, erzählt das Atraḫasis-Epos die Geschichte von der Flut und der Vernichtung der Menschheit durch die Götter und der altorientalische Schöpfungsmythus Enūma eliš, berichtet davon wie die Erde geschaffen wurde.

Melanie Christina Mohr

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