Die demokratische Dividende fehlt

Kundgebung zum 10. Jahrestag der Revolution in Tunesien, Dezember 2020
Kundgebung zum 10. Jahrestag der Revolution in Tunesien, Dezember 2020

Tunesien hat einen erfolgreichen Übergang zur Demokratie eingeleitet, steht aber wirtschaftlich und sozial vor schwierigen Zeiten. Europa sollte in der Zusammenarbeit die gemeinsamen Interessen stärker ins Zentrum der Zusammenarbeit rücken, sagt der Politikwissenschaftler Said AlDailami im Gespräch mit Claudia Mende.

Von Claudia Mende

Herr AlDailami, halten Sie Tunesien für ein Beispiel gelungener Demokratisierung?

Said AlDailami: Tunesien ist ein gutes Beispiel für einen insgesamt erfolgreichen Übergangsprozess. Anders als die Nachbarländer hat sich Tunesien ernsthaft, authentisch und durchaus mit beachtlichem Erfolg auf den Weg der Demokratie eingelassen.

Nach den Wahlen in 2014 und 2019 gab es jeweils eine friedliche Übergabe der Macht, was im Vergleich zu allen anderen arabischen Staaten keine Selbstverständlichkeit ist. Die neue Verfassung von 2014 spricht für diesen Aufbruch genauso wie der eingeleitete Prozess der Dezentralisierung.

Bei den sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieses Transformationsprozesses fällt die Bilanz eher durchwachsen aus. Hier haben wir es mit einer Malaise zu tun, die die Legitimität des demokratischen Aufbruchs unterhöhlt. Die Menschen sagen sich, was nützt mir die Demokratie, wenn es keinen Wohlstand gibt? Die demokratische Dividende fehlt im Bereich der Wirtschaft komplett. Wir können von einer fehlenden Output-Legitimität der Demokratie in Tunesien sprechen.

Warum kommt die Wirtschaft nicht voran?

AlDailami: Wir erwarten in diesem Jahr aufgrund der Pandemie eine Rezession von minus sieben Prozent. Der Tourismus konnte sich nach den Terrorattentaten von 2015 nie wieder erholen, obwohl es seit 2016 keine gravierenden terroristischen Akte mehr gab. Bei wichtigen Exportgütern wie Phosphat gibt es große soziale und gewerkschaftliche Probleme.

Die Verwaltung, orientiert am französischen Verwaltungsaufbau der siebziger Jahre, ist verknöchert. Die internen Widerstandskräfte gegen jegliche Strukturreform sind seit Jahrzehnten enorm. So wird verhindert, dass Investitionen flexibler gehandhabt werden und die Korruption grassiert weiterhin. Das schwächt die Umsetzung von großen Wirtschaftsprojekten. Wenn wir das zu Ende denken, dann ist die Krise in den nächsten Jahren vorprogrammiert.

Denkmal für den jungen Gemüsehändler Mohammed Bouzizi in Sidi Bouzid. Foto: Reese Erlich
Das Mutterland der Arabellion kommt ins Schlingern: Tunesien leidet unter einer tiefen Wirtschaftskrise, die vor allem die Jüngeren trifft. In einigen Regionen liegt die Jugendarbeitslosenquote bei rund 30 Prozent. Tausende junger Menschen fliehen daher aus dem verarmten Landesinneren in die Vororte der Hauptstadt Tunis und in die großen Küstenstädte. Die Corona-Pandemie hat die Lage verschärft.

Tunesien bleibt sozial und wirtschaftlich fragil

Was heißt das konkret?

AlDailami: Die sozialen Unruhen, die es immer im Dezember und Januar gibt, werden diesmal wohl heftiger ausfallen. In den Wintermonaten entlädt sich meist der angestaute Frust vor allem im Süden Tunesiens, der sich von der Zentralregierung in Tunis abgehängt fühlt. Die meisten Menschen dort leben vom Schmuggel. Wenn der Handel mit Schmuggelware wetterbedingt abnimmt, machen sie mit Straßenblockaden und gewaltsamen Ausschreitungen auf ihre perspektivlose Situation aufmerksam.

Tunesien hat leider kein geeignetes Gegenkonzept zu Problemen wie einem wachsenden Haushaltsdefizit und steigender Abhängigkeit von ausländischen Krediten und Geldgebern gefunden. Die hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und Akademikern verbunden mit einer Perspektivlosigkeit, auch in absehbarer Zukunft keine Arbeit zu finden, frustriert die Menschen ungemein. 

Es gibt bereits Befürchtungen, das Land könnte angesichts der hohen Staatsverschuldung in der Corona-Pandemie in die Insolvenz abdriften.

AlDailami: Ja, Tunesien hängt am Tropf. Horrende Summen fließen in die Gehälter der Staatsbediensteten und das abzubauen, ist eine Herausforderung, mit der Tunesien bis heute noch kämpft. Aber es gibt ein großes Interesse seitens der Europäer, dass Tunesien keine Insolvenz anmelden muss. Deswegen werden wohl auch weiterhin Kredite ins Land fließen.

Hat Tunesien seine Vergangenheit unter Ben Ali angemessen aufgearbeitet?

AlDailami: Das Gros der Tunesier verspürt heute nach meinem Eindruck nicht mehr die große Lust, die Vergangenheit bis in die einzelnen Details aufzuarbeiten. Vielleicht ist es eher eine deutsche Tugend, möglichst gründlich alles aufzuarbeiten. Wir sollten unsere Sichtweise der Dinge nicht auf das tunesische Volk projizieren. 

Insgesamt hat sich in den letzten zehn Jahren der Grundsatz der politischen Inklusion verfestigt. Die Koalition aus islamisch-konservativen und laizistisch-konservativen Parteien war prägend für die letzten zehn Jahre und führte zur Erkenntnis, dass nur ein Miteinander den sozialen und politischen Frieden im Land sichert.

Aber es gab im Herbst 2020 Proteste gegen ein geplantes Gesetz zur Straffreiheit für ehemalige Sicherheitskräfte.

AlDailami: Diejenigen, die dagegen protestieren, sind aber in der Minderheit. Die meisten Tunesier vertreten den Standpunkt, man habe nach der Revolution öffentliche Sicherheit eingebüßt, weil der Sicherheitsapparat komplett aufgelöst wurde, aber ein Staat braucht Sicherheitskräfte. In den letzten zehn Jahren, so beschreiben es die Menschen in Tunesien, ist ihr allgemeines Sicherheitsgefühl deutlich geringer als unter Ben Ali.



Was ist mit dem Vermögen von Ben Ali und seiner Familie passiert?

AlDailami: Es gibt noch keine Einigung über das Vermögen von Ben Ali, das im Ausland, vor allem in der Schweiz, deponiert ist. Das gilt für die Vermögenswerte aller arabischen Diktatoren bei Schweizer Banken. Bankkonten in Tunesien selbst und in der Region wurden beschlagnahmt, aber die Verwaltung dieser Gelder und Vermögenswerte wird im Land stark kritisiert, denn die Transparenz lässt noch zu wünschen übrig.

Die Schweizer Banken mauern?

AlDailami: Es wurden schon Verhandlungen geführt und die Banken waren bereit, einen Teil der Vermögenswerte zurück zu transferieren. Aber die Streitfälle werden wohl am Ende nur gerichtlich zu lösen sein. Und wie wir wissen, kann sich so etwas ziemlich lang hinziehen.

In der Zange zwischen Emiraten und Türkei

Seit 2011 hat sich die geopolitische Lage in der Region grundlegend verändert. Wie wirkt sich das auf Tunesien aus?

AlDailami: Der politische und teilweise militärische Rückzug der US-Amerikaner aus der Region hat zu einem machtpolitischen Vakuum geführt, in das Iran, die Türkei, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate hineinstoßen wollen. Diese Veränderungen – sowie der Bürgerkrieg in Libyen und die Situation in Mali – wirken sich auch auf die Realität Tunesiens aus. So sieht sich das Land in einer Zange zwischen den Regionalmachtambitionen der Golfstaaten auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite.

Vor allem die Emirate üben großen Druck auf die Staatsführung in Tunis aus, die Zusammenarbeit mit der islamisch-konservativen Partei Ennahda zu beenden. Sie bekämpfen die Muslimbrüder, wo sie können. Die Türkei dagegen unterstützt Ennahda und wittert darüber hinaus große Investitionsprojekte im Nachbarland Libyen, wo sie ihre Präsenz verstärkt hat.

Bisher hat es Tunesien diplomatisch geschickt geschafft, sich aus diesem Dilemma  herauszuwinden. Der Druck von beiden Lagern wird aber zusehends stärker, zumal Tunesien auf Finanzspritzen aus diesen Ländern angewiesen ist.

Deshalb ist die Beziehung zu Europa für Tunesien heute wichtiger denn je. Es hofft darauf, dass Europa das genauso sieht, bevor es zu spät ist. 

Die EU ist gut beraten, Tunesien auch weiterhin zu stabilisieren und eine Kooperation auf Augenhöhe zu etablieren. Man sollte Tunesien vermitteln, dass Europa nicht nur Migration eindämmen und Fluchtursachen bekämpfen, sondern die gemeinsamen Interessen beiderseits des Mittelmeeres ernsthaft voranbringen will.

 

Die Domestizierung des politischen Islam

Wie hat sich die Partei des politischen Islam, Ennahda, in diesen zehn Jahren entwickelt?

AlDailami: Die Ennahda hat sich genauso einem Wandlungsprozess unterzogen wie das Land Tunesien, mit einem offenen Ausgang. Die Ennahda konzentrierte sich zunächst um eine Gruppe, die noch stark geprägt war vom politischen Islam der ägyptischen Muslimbrüder. Dieser Kern von Aktivisten, die unter Ben Ali im Exil oder im Gefängnis waren, hat mit der Zeit gelernt, dass der Kontext in Tunesien den politischen Islam – wie er anderswo in arabischen Ländern gepredigt wird –  nicht zulassen würde. Das säkulare, weltoffene Tunesien hat zu einer Domestizierung und einer teilweisen Säkularisierung der Ennahda geführt. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich diesem Wandel zu unterziehen, um nicht ins politische Abseits gerückt zu werden. Maßgeblich unterstützt und getragen wird dieser Wandel von einer jungen Parteielite, die sich gerne als muslimisch-demokratisch-weltoffen bezeichnet und in der Frauen eine wichtige Rolle spielen.  

Politikwissenschaftler Said AlDailami leitete von 2014 bis 2020 das Büro der Hanns-Seidel‐Stiftung in Tunis. Foto: Said AlDailmi
Politikwissenschaftler Said AlDailami leitete von 2014 bis 2020 das Büro der Hanns-Seidel‐Stiftung in Tunis, verantwortete zivilgesellschaftliche und politische Projektarbeit zum Aufbau von Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

 

Woran machen Sie den Wandel bei der Ennahda fest?

AlDailami: Man sieht es daran, dass es heute keinen Heiligenkult mehr um den Parteivorsitzenden Rashed Ghannouchi gibt. Eine neue Generation ist herangewachsen, die sich nicht mehr auf ihn konzentriert. Anfangs ist Ennahda als geschlossene Einheit aufgetreten. Interne Probleme wurden geheim diskutiert und man trat mit einer Stimme nach außen. Ghannouchi hat diesen demokratischen Aufbruch in seinem Führungshandeln nach innen nicht verkörpert und das hat vor allem in den letzten beiden Jahren für große Spannungen innerhalb der Partei gesorgt.

Ist die Ennahda dann heute eine Art islamische CDU?

AlDailami: Es gibt in der Partei noch Strömungen, die sich nicht mit der Moderne und dem Säkularismus versöhnen wollen. Jene also, die noch nicht „tunisifiziert“ wurden. Diese innere Auseinandersetzung mit den „Fundis“ innerhalb der Partei muss geführt werden. Der Vergleich mit der CDU wurde von Ghannouchi selbst mehrfach bemüht.  Die Genese der beiden Parteien ist aber völlig unterschiedlich verlaufen, daher sind Vergleiche dieser Art mit Vorsicht zu genießen.

Wie schätzen Sie die Zukunftsaussichten Tunesiens ein?

AlDailami: Kurzfristig sehen die Aussichten nicht so gut aus, weil die wirtschaftliche und soziale Lage schlecht ist und die politische Stabilität dadurch ins Wanken geraten könnte. Wir erleben zehn Jahre nach den Umbrüchen den Höhepunkt eines Entfremdungsprozesses zwischen der Bevölkerung und der politischen Elite, der sich bald in landesweiten, heftigen Protesten manifestieren könnte.  Die Folgen der Pandemie werden diese Gefahr um einiges potenzieren.

Mit Blick auf die fernere Zukunft bin ich aber eher optimistisch. Europa durchläuft gerade den Lernprozess, dass man sich nicht komplett von China abhängig machen sollte. Tunesien hat viele Trümpfe in der Hand, wenn es darum geht, Produktionsstandorte von China nach Nordafrika zu verlagern. Es könnte in den nächsten zehn Jahren seinen Platz im Bereich der Industrieproduktion bei den erneuerbaren Energien und den Dienstleistungen finden und so zu einem wichtigen Partner der EU am anderen Ufer des Mittelmeeres werden.

Interview: Claudia Mende

© Qantara.de 2021

Said AlDailami wurde 1978 in Sanaa, Jemen, geboren und kam als Kind mit seiner Familie ins politische Exil nach Deutschland. Er studierte Staats- und Sozialwissenschaften an der Universität der Bundeswehr in München und promovierte 2011 mit einer Arbeit über «Erneuerungsdenken in der islamischen Welt ». Nach Jahren der Lehrtätigkeit an der Bundeswehrhochschule leitete er von 2014 bis 2020 das Büro der Hanns-Seidel‐Stiftung in Tunis. Heute arbeitet er in der Stiftungszentrale in München.

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