Zwischen Aufbruch und Perspektivlosigkeit

Nach Entspannung der Corona-Krise hebt die Regierung fast alle Restriktionen auf. Die sozialen Folgen des Lockdowns treffen Tunesien jedoch hart. Während Sozialproteste und Streiks die Regierung unter Druck setzen, sehen immer mehr Menschen in der Flucht nach Italien den einzigen Ausweg. Von Sofian Philip Naceur

Von Sofian Philip Naceur

Die bleiernen Wochen des Corona-Lockdowns sind vorbei, in den Straßen tobt wieder das Leben. Die Erleichterung über das Ende des Gesundheitsnotstands ist förmlich zu spüren. Abstands-, Hygiene- und Quarantänebestimmungen gelten weiterhin, doch angesichts der Lockerung der Bewegungs- und Arbeitsbeschränkungen kehrt die Alltagsroutine nach und nach zurück. Cafés, Restaurants und Moscheen sind wieder geöffnet, das Reisen im Inland ist erlaubt und Betriebe nehmen ihre Arbeit wieder auf. Auch die Ausgangssperre wurde aufgehoben.

Nachdem in der ersten Junihälfte sieben Tage in Folge keine neue Coronainfektion entdeckt worden war, registrierten die Behörden in Tunesien in der letzten Woche 22 neue Fälle – nur vier davon waren aber lokal übertragene Infektionen. Alle anderen wurden bei in Quarantänezentren untergebrachten, aus dem Ausland repatriierten Tunesiern festgestellt. Die strikten Einreise- und Quarantäneregeln scheinen zu wirken. Insgesamt zählten die Behörden 1.110 COVID-19-Fälle und 49 Tote. Derzeit gibt es noch 62 bekannte aktive Fälle.

Erste Corona-Welle überstanden

Damit hat das Land die erste Welle der Pandemie überstanden – zumindest vorerst. Auch dank des proaktiven Krisenmanagements der Regierung stand das schlecht ausgerüstete Gesundheitssystem nie ernsthaft vor dem Kollaps – auch wenn die Krise dessen eklatante Defizite deutlich vor Augen führte. Premierminister Elyes Fakhfakh hatte früh strikte Restriktionen erlassen und deren Einhaltung teils rigoros kontrollieren lassen. Trotz der zeitweise spürbaren Nervosität der Behörden blieb der Gesundheitsnotstand fast durchgängig unter Kontrolle.

Der tunesische Ministerpräsident Elyes Fakhfakh im Parlament in der Hauptstadt Tunis; Foto: picture-alliance/AP
Triumph über das Virus: "Die Regierung hat einen Sieg gegen die Ausbreitung des Coronavirus eingefahren", erklärte jüngst Tunesiens Ministerpräsident Elyes Fakhfakh in einer Fernsehansprache. "Das tunesische Volk sollte stolz sein auf seine Errungenschaften und seinen Beitrag zu diesem Erfolg."

Angesichts neuer bestätigter Fälle ist jedoch weiter Besonnenheit gefragt – auch weil Abstands- und Hygieneregeln längst nicht überall konsequent befolgt werden. Während im öffentlichen Nahverkehr die zuvor geltenden Kapazitätsbeschränkungen aufgehoben sind, operieren die meisten Cafés und Restaurant wie vor der Krise. Nur wenige Betriebe halten sich an die Vorgabe, weniger Tische aufzustellen und Abstandsregeln zu befolgen. Auch Schutzmasken werden seltener getragen.

Hoffnung für Tourismussektor

Im Tourismus- und Hotelgewerbe hingegen schauen die Behörden genauer hin, hofft die Regierung doch darauf, einen Teil der Hochsaison noch retten und ab Juli wieder Touristen aus Europa und dem Nachbarland Algerien empfangen zu können. Am 27. Juni sollen die Grenzen geöffnet werden. Damit der Neustart für Tunesiens Tourismusindustrie auch gelingt, bemüht sich die Regierung, das Gewerbe auf die neuen Realitäten vorzubereiten und macht kräftig Werbung.

Für die Branche wurde ein Gesundheitsprotokoll erlassen, das Abstands- und Hygienevorschriften beinhaltet und nur eine 50prozentige Auslastung gestattet. Tunesiens Tourismusbehörde ONTT veröffentlichte ein Werbevideo, in dem die strengen Kontrollen und Desinfektionsprozeduren an den Flughäfen in Szene gesetzt werden. Das Land sei "bereit und sicher", heißt es in dem Clip. Die Welttourismusorganisation pries Tunesiens Bemühungen, ein "sicheres Umfeld für Reisende und im Tourismussektor Beschäftige zu garantieren", sogar explizit an.

Urlaubsgäste am Strand von Sousse, Tunesien; Foto: picture-alliance/dpa
Anlass zur Besorgnis: Der lang anhaltende Corona-Lockdown hat vor allem der Reisebranche in Tunesien geschadet. Während die Regierung dem kollabierten Tourismusgewerbe – von dem vor allem die reicheren Küstenprovinzen profitieren – Priorität einräumt und versucht, diesem wieder Leben einzuhauchen, gehen die Gewerkschaften zunehmend auf die Barrikaden und lancieren in Süd- und Westtunesien einen Streik nach dem anderen.

Dennoch mahnt die Regierung weiter zur Vorsicht. Die Schlacht sei noch nicht gewonnen, erklärte die Direktorin des staatlichen Observatoriums für neu auftretende Krankheiten (ONMNE), Nissaf Ben Alaya, wiederholt. Vor allem die geplante Öffnung der Grenze zu Algerien ist riskant, ist die Pandemie dort doch längst nicht unter Kontrolle.

Streik- und Protestwelle: Regierung unter Druck

Für die Wirtschaft des Landes und hunderttausende saisonal Beschäftigte ist ein Neustart des Touristengeschäfts derweil bitter nötig. Denn die sozialen und wirtschaftlichen Schattenseiten des Lockdowns sind unübersehbar. Schätzungen zufolge gingen durch die Krise mehr als 43.0000 Jobs temporär verloren – und das bei einer Einwohnerzahl von nur 12 Millionen Menschen.

Die soziale Schieflage hat sich seit Ausbruch der Pandemie enorm verschärft. Die Regierung ergriff zwar Gegenmaßnahmen, pumpte Gelder in die Wirtschaft und legte Sonderhilfen für Einkommensschwache und informell Beschäftigte auf. Die Maßnahmen waren aber bei Weitem nicht ausreichend. Schon seit Wochen intensivieren sich vor allem im systematisch vernachlässigten Süden und Westen des Landes sozioökonomisch motivierte Proteste und Streiks. Im Mai zählte die tunesische Menschenrechtsgruppe FTDES landesweit 516 Proteste – mehr als doppelt so viele wie im April.

Während die Regierung dem kollabierten Tourismusgewerbe – von dem vor allem die reicheren Küstenprovinzen profitieren – Priorität einräumt und versucht, diesem wieder Leben einzuhauchen, gehen die Gewerkschaften zunehmend auf die Barrikaden und lancieren in Süd- und Westtunesien einen Streik nach dem anderen. Stark betroffen ist derzeit vor allem die Öl-, Gas- und Phosphatindustrie, aber auch der Transport- und Gesundheitssektor. Weitere Streiks drohen nun auch im öffentlichen Dienst, lehnt der Gewerkschaftsdachverband UGTT Fakhfakhs Ankündigung, angesichts des klammen Staatsbudgets die Löhne einzufrieren, doch vehement ab.

Flüchtlinge auf Schiff im Mittelmeer; Foto: Getty Images/D.Ramos
Folgen der sich zuspitzenden sozialen Krise Tunesiens: Allein im Mai fingen tunesische Behörden 1.243 Menschen bei dem Versuch ab, per Boot nach Italien überzusetzen. Im April waren es nur 99. Seit Januar zählten die Behörden irreguläre Überfahrtversuche von 2.366 Menschen, im Vorjahreszeitraum waren es 961.

Erst am vergangenen Sonntag eskalierte eine seit vier Wochen andauernde Streikaktion von Minenarbeitern der Phosphatbranche als die Polizei ihren Sit-in in Sidi Bouzid gewaltsam auflöste. Auch die Al-Kamour-Bewegung im südtunesischen Tataouine nahm im Mai ihre Proteste wieder auf. Bei tagelangen Sit-ins forderten hunderte Demonstranten Investitionen in die Entwicklung der Region und Jobs in der Ölindustrie. Die UGTT stellte sich explizit hinter die Bewegung und fordert die Regierung auf, die 2017 zwischen Protestlern und Regierung ausgehandelten Abmachungen endlich umzusetzen, wartet die Bevölkerung darauf doch bis heute.

Soziale Misere befeuert irreguläre Flucht

Jüngstes Anzeichen einer sich massiv verschärfenden sozialen Krise im Land sind die neuen Zahlen zur irregulären Migration. Allein im Mai fingen tunesische Behörden 1.243 Menschen bei dem Versuch ab, per Boot nach Italien überzusetzen. Im April waren es nur 99. Seit Januar zählten die Behörden irreguläre Überfahrtversuche von 2.366 Menschen, im Vorjahreszeitraum waren es 961.

"Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Corona und dem Anstieg sozialer Probleme, inklusive der verstärkten Migration", so Romdhane Ben Amor vom FTDES gegenüber Qantara.de. Von den bereits vor Corona bestehenden strukturellen sozialen Ungleichheiten und den Folgen des Lockdowns betroffen sind dabei nicht nur Tunesier, sondern auch im Land lebende Migranten. Diese traf die Krise besonders hart, sind sie doch fast ausnahmslos prekär beschäftigt und haben keinen Zugang zu staatlichen Hilfen. Mehr als die Hälfte von ihnen hatte Schätzungen zufolge während der Corona-Krise ihren Job verloren.

Ob Fakhfakhs Regierung in der Lage sein wird, diese soziale Sprengkraft im Land kurzfristig zu entschärfen, darf bezweifelt werden. Denn seit sich die Corona-Krise langsam entspannt, treten die Differenzen in seiner auf wackeligen Beinen stehenden Mehr-Parteien-Koalition abermals offen zu Tage. Effektives Regieren dürfte auch deshalb auf absehbare Zeit kaum möglich sein.

Sofian Philip Naceur

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