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In der Türkei sehen Umfragen die regierende AKP in der Wählergunst immer noch vorn – trotz Wirtschaftskrise und wachsenden Demokratiedefiziten. Doch was genau macht die Opposition so schwach? Ayşe Karabat berichtet aus Istanbul.

Von Ayşe Karabat

Im März 2022 wurde die amtliche Inflationsrate der Türkei veröffentlicht. Der Anstieg von 61 Prozent gegenüber dem Vorjahr löste bei vielen türkischen Bürgern ungläubiges Staunen aus, so auch bei Baki Ersoy, Abgeordneter der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Ersoy beklagte wie viele andere Türken die jüngsten Preissteigerungen und forderte, die Regierung solle aufhören, die Augen vor der Realität zu verschließen. Daraufhin wurde er zum Austritt aus der MHP, einer ergebenen Verbündeten der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, gedrängt. 

Widerspruch gegen die amtlichen Zahlen zur Inflationsrate des Türkischen Statistikinstituts (TÜİK) kam auch von der unabhängigen Forschungsgruppe Inflation (ENAG). Diese Gruppe prominenter, unabhängiger türkischer Wirtschaftswissenschaftler bezifferte die Teuerungsrate im März auf 142 Prozent. Für die ENAG könnte die Anfechtung der amtlichen Zahlen allerdings gravierende Folgen haben. Denn wer alternative Statistiken veröffentlicht, ohne die von der TÜİK genehmigte Methodik zu verwenden, dem droht künftig eine Haftstrafe. So zumindest sieht es ein Gesetzentwurf der AKP vor, der derzeit auf seine Ratifizierung wartet. 

Auch andere Kennziffern deuten auf eine wachsende Verdrossenheit gegenüber der Regierung Erdoğan. Die amtliche Arbeitslosenquote liegt bei über 10 Prozent. Mehr als 1.400 Ärzte haben das Land wegen schlechter Arbeitsbedingungen verlassen. Die Zahl der Femizide steigt täglich weiter an. Eine kürzlich von der Yeditepe-Universität und dem Meinungsforschungsinstitut MAK durchgeführte Umfrage ergab, dass 64 Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren die Türkei wegen fehlender Zukunftsperspektiven verlassen wollen. 

Andere Umfragen legen dagegen nahe, dass die seit 2002 regierende AKP zwar an Popularität verloren hat, aber immer noch etwa vier bis fünf Punkte vor der Republikanischen Volkspartei (CHP), der größten Oppositionspartei, liegt.

Frauen beim Einkauf auf einem Markt in Ankara, Dezember 2021 (Foto: Adem Altan/AFP)
Viele Gründe für Unzufriedenheit mit der AKP: Laut der unabhängigen Forschungsgruppe Inflation (ENAG) liegt die Inflationsrate in der Türkei bei 142 Prozent und ist damit doppelt so hoch wie offiziell angegeben. Die amtliche Arbeitslosenquote liegt bei über 10 Prozent. Mehr als 1.400 Ärzte haben das Land wegen schlechter Arbeitsbedingungen verlassen. Die Zahl der Femizide steigt täglich weiter an. Eine kürzlich von der Yeditepe-Universität und dem Meinungsforschungsinstitut MAK durchgeführte Umfrage ergab, dass 64 Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren die Türkei wegen fehlender Zukunftsperspektiven verlassen wollen. 

Von der Identitätspolitik zur sozialen Frage

Die türkische Gesellschaft ist hochgradig polarisiert, es gibt große Unterschiede bei Identitäten und Lebenswirklichkeiten der Bürgerinnen und Bürger. Das spiegelt sich auch im Wahlverhalten wider. Trotz unterschiedlicher Einkommensverhältnisse wählen die meisten konservativen und religiösen Bürger sowie einige Nationalisten die AKP und die mit ihr verbündete MHP. Säkular orientierte Bürger mit modernen Lebensentwürfen unterstützen hingegen die von der CHP angeführte Opposition. Diese Spaltung in zwei Lager geht bis auf die Gründung der modernen Türkei im Jahr 1923 zurück. 

Die von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk geformte CHP verfocht in den 1990er und frühen 2000er Jahren ein Kopftuchverbot im öffentlichen Raum und an Universitäten. 2010 hob die AKP das Verbot auf. Die Regierungspartei versteht es nach wie vor, die Öffentlichkeit an frühere Missstände zu erinnern, für die die CHP verantwortlich zeichnet. Selbst Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hat die Fehlentscheidungen seiner eigenen Partei in der Vergangenheit mehrfach beklagt – unter anderem auch das Kopftuchverbot. 

Kılıçdaroğlu räumte auch Fehler des türkischen Staates ein, darunter die drakonischen Steuern, die den nicht-muslimischen Minderheiten in den ersten Jahrzehnten der Republik auferlegt wurden, ein Vorgang, an dem die CHP nach Ansicht vieler eine Mitschuld trägt. Für den Fall, dass seine Partei die nächsten Wahlen gewinnt, hat Kılıçdaroğlu Versöhnung und Anerkennung des geschehenen Unrechts versprochen. Wie seine Partei diese Ziele umzusetzen gedenkt, ließ er allerdings offen. 

Kılıçdaroğlu zufolge muss Schluss sein mit einer Politik, die Spannungen und Polarisierung fördert. "Sie versuchen, an der Macht zu bleiben, indem sie die Massen mit Hilfe von Spannungen und Polarisierungen an sich binden. Diese Art von Politik muss ein Ende haben“, sagte er in einem Interview

Bekir Ağırdır, Leiter des Meinungsforschungsinstituts KONDA und prominenter türkischer Politikwissenschaftler, erkennt einen Wandel der mit den Lebensumstilen verbundenen politischen Einstellungen und Wahlgewohnheiten. Die von KONDA durchgeführten Umfragen zeigen, dass "mit zunehmender Arbeitslosigkeit, Armut und ungleicher Einkommensverteilung die sozialen Gegensätze in den Vordergrund treten und Identitätskonflikte durch soziale Konflikte ersetzt werden“. 

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der CHP, vor der türkischen Fleisch- und Milchbehörde in Ankara, 08.04.2022 (Foto: Demiroren News Agency)
Wie das Land einen? Die Polarisierung entlang kultureller, religiöser und ideologischer Linien hat in der Türkei eine lange Geschichte. Auch wenn CHP-Chef Kılıçdaroğlu Versöhnung predigt und der polarisierenden Politik ein Ende bereiten will, muss er mehr anbieten als nur Solidarität mit der Arbeiterklasse. Sein Einsatz für die sozial Schwachen und für die "Stärkung des parlamentarischen Systems“ ist aber ein guter Anfang.

Ein möglicher Lagerwechsel einkommensschwacher konservativer Wähler zur CHP und ihrem Vorsitzenden Kılıçdaroğlu erscheint allerdings alles andere als selbstverständlich. Denn Kılıçdaroğlu ist alevitischer Herkunft und damit Angehöriger einer historisch verfolgten, schiitischen Konfession. Er selbst ist darauf bedacht, seine alevitische und kurdische Herkunft nicht zu erwähnen. Er zeigt lieber seine Solidarität mit sozial Schwachen, die ihre Rechnungen immer häufiger nicht mehr bezahlen können, als sich zu Identitätsfragen zu äußern.

Unbezahlte Rechnungen 

Am 20. April 2022 trat Kılıçdaroğlu in einen einwöchigen Stromstreik: Er saß in seiner Wohnung in Ankara im Dunkeln. Ihm war der Strom abgestellt worden. Aus Protest gegen den Anstieg der Strompreise um 127 Prozent hatte er sich geweigert, die Rechnung zu bezahlen. Er sagte, er wolle sich mit den vier Millionen türkischen Haushalten solidarisieren, die Berichten zufolge im vergangenen Jahr außerstande waren, ihre Stromrechnungen zu begleichen. 

Beim Gas ist die Lage auch nicht besser. Die Preise stiegen im vergangenen Jahr um 93 Prozent; mehr als eine Million Haushalte konnte ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Die Regierung reagierte mit einem staatlichen Gastkostenzuschuss. Daraufhin gingen innerhalb von drei Tagen über 200.000 Anträge ein. Diese neue Sozialleistung ist nur die jüngste, neue staatliche Zuwendung. Schätzungen zufolge sind bereits 22 Millionen Menschen auf staatliche Sozialleistungen angewiesen. Die AKP hält sich zugute, die Sozialleistungen seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2002 konsequent ausgebaut zu haben. Die Opposition verweist hingegen darauf, dass die Bürger bei einer vernünftigen Wirtschaftspolitik nicht von staatlichen Leistungen abhängig wären.  

Viele haben Angst vor dem Verlust der staatlichen Unterstützung, sollte die AKP als Regierungspartei abgelöst werden. Auch fürchten sie, ihre Arbeitsplätze bei der öffentlichen Hand zu verlieren. Um einen der begehrten Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor zu ergattern, der sechs Millionen von insgesamt 22 Millionen Arbeitsplätze im Land stellt, braucht man gute Beziehungen, so die allgemeine Überzeugung. 

Die CHP versucht, die Menschen davon zu überzeugen, dass ihre Ängste unbegründet sind. Tatsächlich hat die Oppositionspartei nach ihrem Sieg bei den Kommunalwahlen 2019 in Ankara und Istanbul Mitarbeiter, die unter der AKP eingestellt worden waren, weder entlassen noch ersetzt. CHP-geführte Gemeinden haben durchaus Sozialförderprogramme eingeführt, wie beispielsweise die Website "Ausstehende Rechnungen“, auf der bedürftige Familien ihre Rechnungen hochladen können, die dann von Freiwilligen beglichen werden. 

Derartige Bemühungen fanden in der Öffentlichkeit zwar durchaus Anklang, aber die CHP-geführte Opposition legte bislang noch keine umfassende Wirtschaftsstrategie vor, die ihre Vorstellungen zur Verbesserung der Lage konkret erläutert. Schon deshalb laufen Wähler nicht zur CHP über, auch wenn sie mit der derzeitigen Regierung unzufrieden sind. Etwa 20 Prozent der Wahlberechtigten bleiben Umfragen zufolge unentschlossen.  

Eine Demonstrantin mit einer Regenbogenflagge bei einem Protest gegen eine Attacke auf ein Büro der  kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und den Mord an einer Mitarbeiterin in Istanbul, Türkei am 17. Juni 2021 (Foto: Reuters/Dilara Senkaya)
Zünglein an der Waage: Wer die Kurdenpartei HDP ignoriert, droht die Wahlen zu verlieren. Die führenden Köpfe vom "Bündnis der Nation" versprachen der Öffentlichkeit nach der letzten Wahl zwar, weiterhin gemeinsam alles dafür zu tun, um die regierende AKP zu besiegen. Aber die Demokratische Partei der Völker (HDP), die rund zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinigt und vor allem in den kurdisch besiedelten Gebieten stark ist, lassen sie weiterhin außen vor. Das nimmt dem Bündnis jede Chance, mindestens weitere zehn Prozent der Wähler zu erreichen – eine entscheidende Größe im Kampf gegen die AKP. 



Im "Bündnis der Nation“, dem Wahlbündnis aus CHP und fünf weiteren Oppositionsparteien, ist man sich einig: Hauptgrund für die aktuellen Probleme der Türkei sei das Präsidialsystem, das 2018 nach einem Verfassungsreferendum eingeführt wurde. Das Bündnis will die Präsidialdemokratie in ein "gestärktes parlamentarisches System“ umbauen. 

Dieser Umbau würde die Machtfülle des Präsidenten beschneiden und eine Aufteilung der Exekutive bedeuten. Ein weiteres zentrales Versprechen ist die Einführung einer unabhängigen Justiz mit Kontrollmechanismen, die gewährleisten, dass politisch motivierte Urteile ausgeschlossen sind. 

Ohne die Kurdenpartei und ohne Präsidentschaftskandidat 

Die führenden Köpfe vom "Bündnis der Nation" versprachen der Öffentlichkeit nach der letzten Wahl zwar, weiterhin gemeinsam alles dafür zu tun, um die regierende AKP zu besiegen. Außen vor lassen sie aber weiterhin die Demokratische Partei der Völker (HDP), die rund zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinigt und vor allem in den kurdisch besiedelten Gebieten stark ist. Die Regierung, insbesondere die MHP, versucht, die HDP zu kriminalisieren. Viele ihrer gewählten Bürgermeister und Abgeordneten wurden inhaftiert. Dass die Opposition sich weiterhin weigert, die HDP einzubeziehen, nimmt dem Bündnis jede Chance, mindestens weitere zehn Prozent der Wähler zu erreichen – eine entscheidende Größe im Kampf gegen die AKP. 

Der Krieg in der Ukraine lässt derweil die Zustimmungswerte von Präsident Erdoğan wieder steigen. Diese waren zuvor stetig gesunken. Die Öffentlichkeit glaubt, dass die diplomatischen Bemühungen ihres Präsidenten um Frieden und Stabilität in der Region in diesen turbulenten Zeiten wertvoll sind. 

Die Opposition hat noch keinen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Nach eigenen Angaben will man sich entscheiden, sobald ein Wahltermin bekannt gegeben wird. Doch dann könnte die Opposition mit ihrem Wahlkampf bereits zu spät kommen – und sie hätte ihre Dynamik unwiderruflich verspielt. 

Ayşe Karabat 

© Qantara.de 2022

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers