Keine Integration ohne Anerkennung

In seinem Buch "Der ewige Gast" beschreibt der Journalist Can Merey am Beispiel seines Vaters, warum viele türkische Einwanderer in Deutschland nie ganz heimisch geworden sind. Damit erklärt er auch, warum am 24. Juni wohl erneut so viele Deutsch-Türken für Erdoğan stimmen werden. Von Ulrich von Schwerin

Von Ulrich von Schwerin

"Wir sind glücklich über die Geburt unseres Sohnes Can (Sprich: Dschan)", schrieben Can Mereys Eltern in seiner Geburtsanzeige. Sein Vater Tosun und seine Mutter Maria wollten einen türkischen Vornamen, da ihnen ein deutscher bei einem türkischen Nachnamen merkwürdig erschien. Auch wurde der kleine Can als Türke geboren und hatte zum Zeitpunkt seiner Geburt 1972 wenig Aussicht auf einen deutschen Pass. Allerdings war die Aussprache des Vornamens in Deutschland nicht nur erklärungsbedürftig, sondern kennzeichnete ihn sein Leben lang auch als "Türken".

Ein türkischer Name würde in Deutschland nicht nur chronische Irritationen wegen der falschen Aussprache mit sich bringen, sondern auch die Arbeits- und Wohnungssuche erschweren und so "die Zukunftschancen messbar verschlechtern", schreibt der heutige Istanbul Korrespondent Merey in seinem Buch "Der ewige Gast", in dem er sich vor dem Hintergrund seiner eigenen Familie mit der Geschichte der Migration und Integration in Deutschland auseinandersetzt.

Der Untertitel "Wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden" lässt bereits ahnen, wie es seinem Vater Tosun erging. Der Sohn eines Istanbuler Papierfabrikanten war 1958 als Sprachschüler erstmals nach Deutschland gekommen und hatte 1961 in München ein Studium der Betriebswissenschaft begonnen – in eben dem Jahr, als Deutschland ein Anwerbeabkommen mit der Türkei traf, um dem Arbeitskräftemangel im Wirtschaftswunderland zu begegnen.

"Mehr Integration geht kaum"

Später heiratete Tosun die katholische Bauerntochter Maria und gründete mit ihr eine Familie, in der von Anbeginn nur Deutsch gesprochen wurde. Die Hochzeit des Türken mit der oberbayerischen Katholikin war zwar ungewöhnlich, wurde aber von beiden Familien akzeptiert. Größere interkulturelle Schwierigkeiten gab es nicht, übernahm der säkulare Muslim Tosun doch ohne weiteres die bayerische Liebe zu Weißbier und Schweinebraten.

[embed:render:embedded:node:16868]"Mehr Integration geht kaum", schreibt sein Sohn heute. "Dennoch steht Tosun an seinem Lebensabend vor der bitteren Erkenntnis: Sein Versuch, in Deutschland eine neue Heimat zu finden, ist gescheitert." In seinem Buch versucht Merey nun zu verstehen, warum es seinem Vater nicht gelungen ist, "Deutscher zu werden", und warum er, zum Unverständnis seines Sohnes, in seinen späteren Jahren zum Bewunderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan wurde.

Merey verknüpft in seinem Buch die Lebensgeschichte seines Vaters geschickt mit der Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen und der oft qualvollen Debatte um den Umgang mit den türkischen Gastarbeitern, die erst willkommen, bald aber nicht mehr erwünscht waren. Er zeigt eindrücklich, dass Integration nicht allein Sache der Einwanderer ist, sondern es dafür auch notwendig ist, dass die Einheimischen sie als Teil der Gesellschaft anerkennen.

Der, der nicht ganz dazugehört

Wie schwer dies den Deutschen bei den türkischen Migranten gefallen ist, zeigt das Beispiel von Tosun. Denn trotz seines deutschen Studiums, seiner deutschen Frau und seines Jobs als leitender Angestellter eines deutschen Konzerns blieb er bis zuletzt der "Türke". Obwohl er die Sprache, die Sitten und die Lebensweise der Deutschen praktisch vollständig übernahm, wurde ihm immer wieder bedeutet, dass er nicht ganz dazugehört.

War er zu Beginn als Türke noch mit Neugier empfangen worden, wurden seit Anfang der 1970er Jahre die türkischen Arbeiter zunehmend als Belastung gesehen. "Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen", schrieb der Spiegel 1973 unter dem Titel "Die Türken kommen – rette sich, wer kann" mit Worten wie aus dem Krieg. Binnen zwölf Monaten sei "Kreuzbergs Türken-Kolonie" um "eine ganze Brigade" angewachsen.

Als die Türkenfeindschaft immer deutlicher wurde, versuchte Tosun sich zunächst noch weiß zu machen, dass dies den einfachen Arbeitern, nicht aber ihm als Akademiker gelte. Auch als sich der Ausländerhass in Mölln und Solingen in tödlichen Brandanschlägen niederschlug, wollte er dies nicht auf sich beziehen. Zugleich merkte er aber, dass er im Beruf an eine "gläserne Decke" stieß, da ihm als "Türken" gewisse Aufgaben nicht zugetraut wurden.

Anhänger Erdoğans in Köln; Foto: dpa/picture-alliance
Nie ganz angekommen: Mereys Vater Tosun hat sich infolge dieser ständigen Zurückweisung von Deutschland abgewandt. „Ich müsste meine Sympathien mit wehenden Fahnen nach Deutschland tragen“, sagte er seinem Sohn. „Das kann ich aber nicht, weil ich irgendwie nicht als gleichwertiger Menschen betrachtet werde.“ Mit diesem „gebrochenen Stolz“ erklärt Merey es, dass sein Vater sich zum Unverständnis seiner Familie im Alter Erdoğan zugewandt hat.

Um den Ressentiments in Deutschland zu entgehen, ging er für seinen deutschen Arbeitgeber ins Ausland – erst nach Teheran, dann nach Kairo. Aber auch dort wurde er in der Firma nicht komplett akzeptiert, während seine Söhne in der deutschen Schule als Ausländer diskriminiert wurden. Mit 56 Jahren ließ er sich schließlich frustriert in den Vorruhestand versetzen und baute in den folgenden Jahren mit seiner Frau Maria im Süden der Türkei ein kleines Hotel auf.

Von Deutschland abgewandt

Merey zeigt anhand seines Vaters, wie essenziell es für die Integration ist, dass Einwanderer als Teil der Gemeinschaft akzeptiert werden. Wie selbstverständlich dies sein kann, zeigt das Beispiel von Mereys Tante, die statt nach Deutschland in die USA ausgewandert ist. Kein einziges Mal, sagte sie ihrem Neffen, sei sie wegen ihrer türkischen Wurzeln diskriminiert worden. "Egal, woher du stammst, du kannst ein vollwertiger Amerikaner werden", sagte sie.

In Deutschland dagegen reicht ein fremd klingender Vorname, um als Ausländer zu gelten. Noch als bundespolitischer Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur, schreibt Merey, sei er regelmäßig gelobt worden, wie gut er Deutsch spreche. Böse sei dies nicht gemeint, doch sei es "ein Indiz dafür, wie tief im Unterbewusstsein sogar von weltoffenen Mitbürgern verankert ist, dass Menschen wie ich eigentlich nicht so richtig dazugehören können".

Mereys Vater Tosun hat sich infolge dieser ständigen Zurückweisung von Deutschland abgewandt. "Ich müsste meine Sympathien mit wehenden Fahnen nach Deutschland tragen", sagte er seinem Sohn. "Das kann ich aber nicht, weil ich irgendwie nicht als gleichwertiger Menschen betrachtet werde." Mit diesem "gebrochenen Stolz" erklärt Merey es, dass sein Vater sich zum Unverständnis seiner Familie im Alter Erdoğan zugewandt hat.

Wenn Erdoğan in Deutschland kritisiert wurde, stellte sich Tosun erst recht hinter ihn. "Ich glaube, ich habe Erdoğan oft aus Trotz verteidigt", sagt er heute. Als Erdoğans autoritäre Tendenzen unübersehbar wurden, brach Tosun schließlich mit ihm. Viele Deutschtürken werden aber wohl auch bei den anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni für Erdoğan stimmen. Wer verstehen will warum, sollte Mereys Buch lesen.

Ulrich von Schwerin

© Qantara.de 2018

Can Merey: "Der ewige Gast – Wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden", Verlag Blessing, 2018, 320 Seiten, ISBN: 9783896676054