Ein Türke in Preußens Museum

In der Türkei erzielen seine Gemälde Rekordpreise in Millionenhöhe. Nun lockt Osman Hamdi Bey neue Besucherströme in die Alte Nationalgalerie: ein Glücksfall gelungener Integration. Von Julia Voss

Von Julia Voss

Manchmal kann ein einziges Bild alles ändern. Diese Erfahrung machte Philipp Demandt, der Leiter der Alten Nationalgalerie in Berlin, als er sich vor zwei Jahren dafür entschied, in das Foyer seines Hauses ein Gemälde zu hängen, das die längste Zeit im Ausland verbracht hatte, in  der Türkei, in Istanbul, als Leihgabe an das deutsche Generalkonsulat.

"Lesender  Araber" heißt das lebensgroße Gemälde, das zwei Meter in  der  Höhe misst. Wahrscheinlich ist es ein Selbstporträt des Künstlers Osman Hamdi Bey (1842 bis 1910), der  sich auf dem Gemälde von 1904 in orientalischen Gewändern zeigte und drumherum eine ganz und gar surreale Szene schuf. Dazu gleich mehr. Philipp Demandt jedenfalls holte das Bild aus einem einzigen Grund zurück nach Berlin in das pulsierende Herz seines Hauses: "Der Lesende Araber" begeisterte ihn auf den ersten Blick.

Das Bild ist das, was man einen Hingucker nennt. Das leuchtende Hellgrün vor azurblauem Hintergrund, die gleißenden Goldtöne, die grellroten Akzente bringen das Gemälde zum Glühen. Sie lenken, wie ein Signal, den Blick mitten hinein in den Bildraum, den Hamdi Bey mit großer künstlerischer Hingabe schildert. Und eben deshalb, weil es ein großartiges Gemälde ist, empfängt dieses Bild eines türkischen Malers die Besucher  der  Alten Nationalgalerie. Was dann passierte, hätte sich Demandt nicht träumen lassen.

Eine erfreuliche Nachricht neben den "Döner-Morden"

Das erste Medium, das über die spektakuläre Neuhängung in der Alten Nationalgalerie berichtete, war die "Hürriyet", die größte türkischsprachige Tageszeitung in Europa. Der Artikel erschien im Mai 2013. Es war eine denkwürdige Ausgabe. Oben auf der Seite stand ein Bild der grinsenden Beate Zschäpe, in München liefen gerade die Prozesse zu den NSU-Morden, die als "Döner-Morde" verharmlost worden waren. "Für die Pressekonferenz wird ein Platz neu verlost" lautete die Schlagzeile. Das war die hässliche Seite der Bundesrepublik.

Eine kleine erfreuliche Nachricht, die es aus Deutschland zu berichten gab, stand darunter. "Besucherzustrom für den Koran lesenden Mann" lautete hier die Überschrift des "Hürryiet"-Reporters Ali Varli. Zur Abbildung erläuterte ein kurzer Text die wichtigsten Hintergründe: Das Ölbild des türkischen Malers Osman Hamdi Bey sei nun in einem der beliebtesten Kunstmuseen von Berlin ausgestellt, sein Wert werde auf mehrere Millionen Euro geschätzt und über künstlerische Fragen hinaus gebe es Auskunft über den osmanischen Kleidungsstil.

Vielleicht war es Zufall, dass diese beiden Nachrichten zusammentrafen. Vielleicht war es Absicht. Tatsache ist: Das Besucherbild der Alten Nationalgalerie änderte sich schlagartig. Seitdem trifft Philipp Demandt im Museumsfoyer auf Gruppen von Damen mit Kopftüchern, die mit ihren i-Phones Fotos von Hamdi Beys Gemälde schießen. Oder er grüßt türkisch sprechende Hochzeitspaare, die sich davor ablichten lassen. Und das sind nur die offensichtlichsten Fälle von sogenannten "Besuchern mit Migrationshintergrund".

Osman Hamdi Beys "Schildkrötenerzieher"; Foto: gemeinfrei
Osman Hamdi Beys berühmtestes Werk "Schildkrötenerzieher" hatte 2004 auf einer Aktion fünf Billionen türkische Lira (ca. 3,5 Millionen Dollar) erzielt und war damit das teuerste Gemälde, das je auf einer türkischen Auktion verkauft wurde.

Wie viele solcher Besucher die Alte Nationalgalerie seit der Hängung hinzugewonnen hat, lässt sich in Zahlen nicht beziffern. Wer eine Eintrittskarte löst, wird nach seiner Postleitzahl befragt, aber nicht nach der Lebensgeschichte und dem Familienhintergrund. Aber auch ohne Zahlen kann, wer das Haus kennt und die Entwicklungen darin beobachtet, feststellen, dass ein einziges Gemälde das bewirkt hat, worum viele Museen in Deutschland seit einigen Jahren ringen: einen wachsenden Zustrom von Bürgern mit Migrationshintergrund.

Insofern ist Osman Hamdi Beys "Lesender Araber" im Foyer der Alten Nationalgalerie mehr als nur ein Beispiel eines Bildes, das in Vergessenheit geraten war und nun einen prominenten Platz im Museum erobert hat.

Ein Lehrstück des kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und der Türkei

Als die Bundesregierung nämlich 2007 einen Nationalen Integrationsplan verabschiedete, forderte sie darin auch eine stärkere interkulturelle Öffnung der Museen. Zwei Jahre später, 2009 gründete der Deutsche Museumsbund den Arbeitskreis "Migration", der eine Handreichung zum Thema "Museen, Migration und kulturelle Vielfalt" erarbeitet hat. Die Zahlen sind bekannt: In Deutschland leben fünfzehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, das sind etwa neunzehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese Vielfalt spiegelt das Museumspublikum allerdings bisher kaum wider.

Was tun? In Deutschlands Museen gibt es eine Vielzahl von Projekten. Ein paar Beispiele: Im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden hat gerade die Ausstellung "Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt" eröffnet. Die Staatsgalerie Stuttgart bietet für Besucher Kunstgespräche auf Türkisch, Griechisch und Russisch an. Die Hamburger Kunsthalle versucht mit Religionswissenschaftlern, die Bilder der Sammlung aus christlicher, jüdischer und islamischer Perspektive zu betrachten. Museumsübergreifend gibt es das Projekt "Kulturelle Vielfalt im Museum: Sammeln, Ausstellen und Vermitteln" das sich die erfolgreiche englische Initiative "Revisiting Collections" zum Vorbild genommen hat. Und noch bis Anfang April sucht das Bundesministerium des Inneren unter dem Titel "Alle Welt: Im Museum" Bewerber, die in Teams aus Museen und Migrantenselbstorganisationen Ideen einbringen, "die zur Stärkung der Teilhabe von bisherigen ,Nicht-Besuchern' mit Migrationshintergrund am Museum" führen."

Der Fall der Alten Nationalgalerie ist allerdings besonders. Als Philipp Demandt den "Lesenden Araber" in seinen Beständen entdeckte und sich dafür begeisterte, galt Hamdi Bey nur in Deutschland als Unbekannter. In der Türkei war er längst zum Star aufgestiegen: Sein berühmtestes Werk, der "Schildkrötenerzieher", hatte 2004 auf einer Auktion fünf Billionen türkische Lira erzielt, umgerechnet 3,5 Millionen Dollar (F.A.Z. vom 5. Juli 2013). Es war das teuerste Gemälde, das je auf einer türkischen Auktion verkauft wurde und gehört seitdem der "Suna und Inan Kiraç-Stiftung", die das private Pera-Museum in Istanbul betreibt.

Alte Nationalgalerie Berlin; Foto: Fotolia/mkrberlin
Die Werke von Osman Hamdi Bey als spektakuläre Neuhängungen in der Alten Nationalgalerie in Berlin bewirkten einen wachsenden Zustrom von Bürgern mit Migrationshintergrund.

Das Rekordergebnis katapultierte Osman Hamdi Bey ins öffentliche Bewusstsein. Den Platz hatte er sich längst verdient: Osman Hamdi Bey, geboren 1842, war Maler, Politiker, Historiker, Archäologe und Museumsdirektor. Er gründete das Archäologische Museum in Istanbul, dessen Direktor er 1881 wurde. Er, der in Paris unter anderem bei Historienmalern wie Jean-Léon Gérôme gelernt hatte, leitete außerdem eine eigene Malschule. Auf sein Betreiben hin wurde 1884 das erste Antikengesetz in der Türkei verabschiedet, das dem Schutz antiker Kulturgüter galt. In seiner Malerei setzte er sich vor allem für eines ein: das nationale Kulturerbe, seine Wahrung und Erforschung.

Ein Glücksfall für alle Museumsbesucher - mit und ohne Migrationshintergrund

Auch  der  " Lesende   Araber " ist ein Ausdruck davon. Was nämlich macht  der   Araber  außer zu lesen? Er lehnt sich, als wäre nichts dabei, an die kunstvoll mit Perlmutt verzierte Schmuckkiste, einen sogenannten "Korankasten",  der  zur Aufbewahrung  der  Heiligen Schrift des Islam dient. Das von Hamdi Bey gemalte Objekt stammt aus  der Sammlung des Topkapi-Palastes, ein Prachtstück also, an das sich niemand einfach hätte anlehnen dürfen. Die Szene ist demnach vollkommen fiktiv.

Die Geste ist aber natürlich nicht herablassend gemeint, im Gegenteil, Hamdi Bey drückt seine Verbundenheit aus. Mit Blick auf seinen Einsatz für den Verbleib nationaler Kulturgüter im eigenen Land spricht aus dem Gemälde ein wehrhafter Stolz. Im Jahr 1888, wenige Jahre, nachdem große Teile des Pergamon-Altars aus dem Osmanischen Reich nach Berlin verbracht worden waren, hatte Osman Hamdi Bey dem Berliner Museumsdirektor Wilhelm Bode ein erstes Gemälde geschenkt: Es trägt den Titel "Der Teppichhändler auf der Straße". Gezeigt wird der florierende Antiquitätenhandel Istanbuls. Die Käufer sind Touristen - mit Tropenhelm und Sonnenschirm. Seit kurzem hängt auch dieses Gemälde in der Alten Nationalgalerie.

Die Alte Nationalgalerie ist eines der bestbesuchten Museen Berlins. Jährlich kommen bis zu 400 000 Besucher, um Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer" oder Adolph von Menzels "Eisenwalzwerk" zu sehen. "Osman Hamdi Bey", sagt Philipp Demandt, "hat für die Türkei eine ähnliche Bedeutung wie Caspar David Friedrich für Deutschland. Seine Bilder entspringen ebenfalls einer großen historischen Phantasie, sie sind Sehnsuchtsbilder, die eine symbolische Bedeutung haben."

Seit 2012 leitet Philipp Demandt die Alte Nationalgalerie. Seitdem ist das Museum mehr als nur ein Wächter des überlieferten Kanons. Der junge Museumsdirektor, Jahrgang 1971, nutzt das Haus als eine Bühne für Überraschungen. Osman Hamdi Bey in der Alten Nationalgalerie ist ein Glücksfall für alle Museumsbesucher - mit und ohne Migrationshintergrund.

Julia Voss

© F.A.Z.

Redaktion: Loay Mudhoon/Qantara.de