Erdoğans Kampf gegen Amerika

Der türkische Präsident und seine Partei AKP sind Meister darin, die Seiten zu wechseln. Nun umarmen sie Putin und verdammen die Vereinigten Staaten. Wieso? Weil dort ein für Erdoğan gefährlicher Prozess beginnt. Von Bülent Mumay

Von Bülent Mumay

Zu den größten Geheimnissen des langen Atems der AKP, die seit fünfzehn Jahren die Türkei regiert, gehört es, flink Koalitionen zu schließen und, sobald der Job erledigt ist, sie ebenso flott wieder aufzulösen. Erdoğan schafft es, bei jedem Schritt mit diversen Propagandamethoden seine Kader wie auch seine Wähler zu überzeugen. Es gelingt immer wieder, eine aufgelöste Koalition vergessen zu machen und darzulegen, wie ungeheuer wichtig die neue sei. Die AKP stellt es ähnlich an, sowohl bei der Selbstbeschreibung als auch bei der Bildung innerer und äußerer Koalitionen.

Vor den Wahlen von 2002, mit denen die AKP an die Macht kam, sagte Erdoğan zu der jahrelang verfolgten islamistischen Linie: "Wir haben das Hemd der Milli Görüs (Nationale Sicht) abgelegt." Er wusste, dass der Westen nach dem 11. September einen demokratisch angehauchten gemäßigten Islam brauchte. So bezeichnete er nach dem Vorbild der "Christdemokraten" in Europa die AKP als "muslimdemokratisch", als er 2002 in die Wahl ging. Als man sich nach der Regierungsübernahme mit der EU an den Tisch setzte, zog man das Hemd "Liberale" über.

Jede Form von Nationalismus zermalmt?

2005 verdeckte man den Konservatismus und stellte die Zuschreibung "demokratisch" in den Vordergrund. Als Erdoğan sich 2012 auf dem Gipfel seiner Macht wähnte, rückte sein Konservatismus abermals nach vorn. In liberalen Zeiten hatte er gesagt: "Wir haben jede Form von Nationalismus zermalmt", dann kippte er die Verhandlungen mit den Kurden, die er selbst eingeleitet hatte, und wurde wieder "Nationalist". Dieser Tage umarmt er den Kemalismus, dem er im Grunde sehr fernsteht.

Recep Tayyip Erdoğan nach dem Wahlsieg seiner AKP im Jahr 2002; Foto: picture-alliance
Vor den Wahlen von 2002, mit denen die AKP an die Macht kam, sagte Erdoğan zu der jahrelang verfolgten islamistischen Linie: „Wir haben das Hemd der Milli Görüs (Nationale Sicht) abgelegt.“ Er wusste, dass der Westen nach dem 11. September einen demokratisch angehauchten gemäßigten Islam brauchte. So bezeichnete er nach dem Vorbild der „Christdemokraten“ in Europa die AKP als "muslimdemokratisch", als er 2002 in die Wahl ging.

In der Außenpolitik zeigen sich machiavellistische Koalitionen nicht anders als in der Innenpolitik. In "liberalen" und "demokratischen" Tagen waren Kooperationen mit den Vereinigten Staaten und Europa gängig. Von "strategischer Partnerschaft" war die Rede. Als man sich an "Konservatismus" und "Nationalismus" hielt, war die Rede davon, sich Eurasien zuzuwenden, der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit anzuschließen und eine regionale Allianz mit Russland und Iran zu bilden.

Bis vor ein, zwei Jahren war Russland nahezu Feindesland. Ankara hatte einen russischen Kampfjet bei dessen Grenzverletzung abgeschossen. Der Jet war in der Region, um Assad zu schützen, den Erdoğan erst als Freund bezeichnet und dann zum Gegner erklärt hatte. Putin beschuldigte die Türkei und die Erdoğan-Familie, mit dem IS Öl-Geschäfte zu machen. Die syrisch-kurdische PYD, von der Türkei als terroristisch eingestuft, eröffnete ein Büro in Moskau.

Am Jahrestag des Abschusses des russischen Fliegers tötete eine von einem russischen Piloten gesteuerte syrische Maschine drei Soldaten, die an der "Operation Schutzschild Euphrat", der türkischen Offensive in Nordsyrien, teilnahmen. Noch als es zur Annäherung mit Russland kam, wurden drei türkische Soldaten "versehentlich" von russischen Kräften getötet. Russland ließ keine Touristen in die Türkei und stoppte den Import türkischer Tomaten.

Eine heftige Reaktion

Trotz der Spannungen näherte sich Erdoğan Russland weiter an, je mehr er sich von Amerika und Europa entfernte. In diesem Jahr traf er Putin viermal persönlich. Es wurde ein von der Nato heftig kritisiertes Abkommen zum Kauf russischer Raketen unterzeichnet und beschlossen, dass Russland unser erstes Atomkraftwerk bauen soll.

Die Entfernung vom Westen und Annäherung an Russland geschah nicht ohne Grund. Der Protest der Vereinigten Staaten und der EU gegen Erdoğans zunehmend autoritäre Haltung spielte eine Rolle dabei, aber auch, dass die EU ihr Wort nicht hielt.

Statt sich Kritik aus dem Club anzuhören, der ihn seiner Meinung nach gar nicht wollte, wandte Erdoğan sich Russland zu. Dass er nach dem Putschversuch vom 15. Juli keine Unterstützung vom Westen erhielt, erhöhte die Spannungen. Dann verweigerten die Vereinigten Staaten und europäische Länder die Auslieferung von Gülenisten, die mutmaßlich hinter dem Coup steckten, Erdoğan verschärfte den antiwestlichen Diskurs. Die Unterstützung Amerikas für die mit der Terrororganisation PKK verbundene PYD führte zum Bruch.

Dennoch hat kein Ereignis der letzten fünfzehn Jahre die anti-amerikanische Stimmung in der AKP derart angeheizt wie die Verhaftung des Geschäftsmanns Reza Zarrab. Der Doppelstaatler mit türkischem und iranischem Pass war im vergangenen Jahr im Urlaub in Miami verhaftet worden. Die Amerikaner werfen ihm vor, "mit Wissen der türkischen Regierung" das Iran-Embargo verletzt zu haben.

Der Hintergrund ist kompliziert: Ende 2013 hatten gülenistische Polizisten und Staatsanwälte eine größere Anti-Korruptionsoperation durchgeführt, von der vier Minister Erdoğans betroffen waren. Es drangen Telefonate von Erdoğan und Familienangehörigen an die Öffentlichkeit, Erdoğan reagierte heftig. Die Söhne der Minister und der Geschäftsmann Zarrab, die in diesem Zusammenhang festgenommen worden waren, wurden unverzüglich aus der Haft geholt, die für die Operation verantwortlichen gülenistischen Kader abgesetzt, einige von ihnen wegen "Zivilputschs gegen die Regierung" ihrerseits hinter Gitter gebracht.

Erdoğan weiß, was ihm innenpolitisch nützt

Diese Anti-Korruptionsoperation, die erste offene Auseinandersetzung zwischen Erdoğan und seinem früheren Partner Gülen, ist nun wieder auf der Agenda. Nach Zarrab wurde der Vize-Chef einer staatlichen Bank, der zu einer Sitzung nach Amerika reiste, dort verhaftet.

Festgenommener Reza Zarrab am 17. Dezember 2013 in Istanbul; Foto: picture-alliance/AA/S. Coskun
Gerichtsverfahren mit politischer Sprengkraft: Dem Milliardär und Geschäftsmann Reza Zarrab wird unter anderem die Umgehung von US-Sanktionen gegen den Iran und Geldwäsche vorgeworfen. Ihm wird der Prozess in den USA gemach. Neben Zarrab sind der türkische Bankier Mehmet Hakan Atilla und in Abwesenheit der ehemalige türkische Wirtschaftsminister Zafer Caglayan angeklagt. Gegen den Sohn Caglayans und gegen zwei weitere türkische Ministersöhne war im Zuge einer Korruptionsaffäre 2013 ermittelt worden. Auch der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Erdoğan musste sich gegen Korruptionsvorwürfe verteidigen.

Auch gegen einen ehemaligen Minister aus Erdoğans Kabinett, der in die Operation von 2013 verwickelt war, wurde in Amerika Haftbefehl erlassen. Der Prozess beginnt Anfang Dezember. Amerikanische Medien berichten, Zarrab werde auspacken und die "Kollaborateure in Ankara" benennen.

Die Verhandlung rückt näher, Regierung und loyale Medien ergehen sich in Anti-Amerikanismus. Die These lautet, Amerika plane eine "neue Intrige". Die Staatsanwälte könnten sich der Beweise und Abhörmitschnitte bedienen, die von gülenistischen Polizisten bei der Operation von 2013 vorgelegt wurden. Ankara schnaubt vor Wut.

Als Zarrab im März 2016 in Miami festgenommen wurde, war Erdoğans erste Reaktion: "Das interessiert uns nicht, die Sache hat nichts mit unserem Land zu tun." Doch nun sickerte durch, dass Zarrab, für den 95 Jahre Haft gefordert werden, bereit sein soll, mit den Staatsanwälten zu kooperieren, und Erdoğan wütet: "Sie wollen unseren Bürger zum Kronzeugen machen, wir wissen, wie wir die Welt dann zum Aufstand bringen. Wir legen alles offen."

Ein Skandal beim Cyber-Manöver der Nato in der vergangenen Woche nährt die Feindschaft zu Amerika weiter. Dass zwei Offiziere Erdogan und Atatürk beim Cyber-Manöver als virtuelle Ziele nutzten, liefert nun angeblich "den letzten Beweis für die Inszenierung gegen die Türkei". Unsere Regierung versteht sich darauf, Spannungen mit dem Ausland in Stimmen im Inland umzuwandeln.

Die vor dem Referendum vom April dieses Jahres wegen Auftrittsverboten von Politikern in Deutschland und den Niederlanden bewusst angeheizte Krise sorgte für einen Stimmenzuwachs von zwei Punkten für Erdoğan. Es sei daran erinnert, dass er das Referendum mit nur 51,4 Prozent gewann.

Erdoğan weiß, dass Krach mit der Welt ihm innenpolitisch nützt, also reagierte er extrem auf das Nato-Manöver: "Wir haben die Brücken abgebrochen, die Schiffe verbrannt. Was auch immer der Preis sein mag, wir werden nicht aufhören, unsere Ziele anzustreben. Mit Allahs Hilfe werden wir ihre Pläne und Karten zerfetzen."

Anhänger Erdoğans feiern die Annahme des türksichen Präsidialsystems; Foto: picture-alliance/AP
Denkbar knapper Sieg Erdoğans: Am 16. April hatte der türkische Präsident das Referendum über ein Präsidialsystem mit nur 51,4 Prozent gewonnen. Mit dem Referendum hatte er eine Verfassungsreform durchgesetzt, die ihm mehr Macht verschaffte.

Empfehlung zur nuklearen Aufrüstung

Selbstverständlich änderte sich im Nu auch der Diskurs der Regierungsmedien, die den Geschäftsmann Zarrab zuvor als "heldenhaften Unternehmer, der das Haushaltsdefizit der Türkei verringerte", gerühmt hatten.

Der AKP-Abgeordnete Mehmet Metiner schrieb in seiner Kolumne in einer regierungsnahen Zeitung: "Hole Zarrab der Teufel! Das ist keiner, der für uns von Bedeutung wäre." Auch die Schlagzeilen, die vor wenigen Monaten den Tenor "Nie waren wir enger mit den Vereinigten Staaten" hatten, drehten sich. Jetzt heißt es: "Kappen wir die Verbindungen zu den Amerikanern", "Raus aus der Nato", "Schließen wir die Stützpunkte". Die Überschriften mancher Kolumnen lauten: "Die Nato ist nun unser Widersacher", "Die Türkei und ihr Führer (Erdoğan) stehen im Fokus der Imperialisten", "Seid bereit zum Kampf für die Unabhängigkeit".

Andere gehen noch weiter und schreiben, wir würden Amerika den Krieg erklären. Der bekannte Autor Ardan Zentürk titelte: "Gegen diese USA kämpfen wir, wer 'ohne mich' sagt, geht am besten sofort" und beendete seinen Text mit: "'Versöhnungsinitiativen' haben keinen Sinn mehr. Es ist klar, wir werden eines Tages (gegen die USA) kämpfen. Meine Empfehlung an alle, die sagen: 'Ohne mich, mir sind mein Besitz und meine Bequemlichkeit wichtiger als mein Land', lautet, noch heute das Land zu verlassen."

Ibrahim Karagül, Chefredakteur der Zeitung "Yeni Safak", nennt sogar ein Datum und empfiehlt der Türkei, sich nuklear aufzurüsten: "Es ist dringend notwendig, 2018 außergewöhnliche Verteidigungsmaßnahmen zu treffen, wenn nötig auch nukleare Bewaffnung."

Unsere Staatsanwälte stehen nicht zurück und sagen Amerika den "Justizkampf" an. Die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul leitete Ermittlungen gegen die New Yorker Staatsanwälte ein, die Zarrab verhaften ließen. Sollten sie türkischen Boden betreten, werden sie hier verhaftet. Da müssen sie also auf der Hut sein!

Bülent Mumay

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2017

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe