20 Jahre Erdogan und die AKP

From a standing start, Recep Tayyip Erdogan's AKP won an absolute majority on 3 November 2002, taking 363 out of 550 seats. The AKP has won all parliamentary elections in Turkey ever since.
From a standing start, Recep Tayyip Erdogan's AKP won an absolute majority on 3 November 2002, taking 363 out of 550 seats. The AKP has won all parliamentary elections in Turkey ever since.

Am 3. November 2002 kam Erdogans neu gegründete AKP, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, in der Türkei an die Macht. Seitdem regiert sie das Land und mit jedem Sieg wurde sie autoritärer. Von Elmas Topcu

Von Elmas Topcu

Galoppierende Inflation, hohe Arbeitslosigkeit, enorme Staatsschulden und Korruption. Dazu eine Dreier-Koalition mit zerstrittenen Parteien, Rücktritte in der Regierung. Dann wurde auch noch der 77-jährige Ministerpräsident Bülent Ecevit krank. 2002 herrschte in der Türkei eine schwere wirtschaftliche und politische Krise. Neuwahlen wurden ausgerufen, bei denen am 3. November das Volk die etablierten Parteien abstrafte.



Nur noch zwei Parteien schafften es ins Parlament. Sieger war die unerfahrenste Partei, die nur ein Jahr zuvor gegründete AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung mit der starken Führungsfigur Recep Tayyip Erdogan.

Aus dem Stand erzielte sie am 3. November 2002 die absolute Mehrheit. Sie bekam 363 von 550 Sitzen im Parlament. Seitdem hat die AKP alle Parlamentswahlen in der Türkei gewonnen.

Nach dem Wahlsieg an jenem Novemberabend sagte Erdogan in einer Rede: "Wie Atatürk es gesagt hat: Die Herrschaft gilt bedingungslos dem Volk. Nach dem 3. November beginnt in der Türkei ein neues Zeitalter. Heute schlagen wir, Inshallah (so Gott will), ein neues Kapitel auf. Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, um die Türkei in eine bessere Zeit zu führen."

Die AKP versprach, die verschiedenen Lebensformen aller Bürger zu respektieren, ein Programm zu verfolgen, das die Arbeit der Verfassungsinstitutionen verbessert und den EU-Beitritt der Türkei vorantreibt. Von Reformen, Gleichheit, Gerechtigkeit und Wohlstand war anfangs die Rede.

Symbolbild der türkischen Lira (Foto: C. McGrath/Getty Images)
Krisenjahr 2002: Galoppierende Inflation, hohe Arbeitslosigkeit, enorme Staatsschulden und Korruption, zerstrittene Parteien in einer Dreierkoalition, Rücktritte in der Regierung. 2002 herrschte in der Türkei eine schwere wirtschaftliche und politische Krise. Neuwahlen wurden ausgerufen, bei denen am 3. November das Volk die etablierten Parteien abstrafte. Nur noch zwei Parteien schafften es ins Parlament. Sieger war die unerfahrenste Partei, die nur ein Jahr zuvor gegründete AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung mit der starken Führungsfigur Recep Tayyip Erdogan. 20 Jahre später steht die Türkei wieder in einer massiven Wirtschaftskrise. Kann sich Erdogan auch bei den Wahlen in 2023 erfolgreich als Retter präsentieren?

Die ersten Erfolge der AKP

In den folgenden Jahren gelang der AKP tatsächlich ein anhaltender Wirtschaftsaufschwung. Bis 2012 hatte sich im zuvor schwer angeschlagenen Land das Bruttoinlandsprodukt mehr als verdreifacht. Die AKP stellte nicht nur ihre Wähler zufrieden, sie bekam auch Unterstützung von Sozialdemokraten, Intellektuellen und Kurden. In den Jahren danach hat die Partei eine eigene Mittelschicht und - durch die Vergabe von staatlichen Aufträgen - auch eine superreiche Elite geschaffen, die sie bis heute trägt.

Durch diverse Verfassungsänderungen setzte sich die AKP gegen den Einfluss des Militärs und der sogenannten etablierten säkulären Elite durch. Der Mitbegründer und Freund von Erdogan, Abdullah Gül, wurde zum Staatspräsidenten gewählt. Eine Zäsur. Nie zuvor hatte ein islamisch-konservativer Politiker, dessen Ehefrau ein Kopftuch trug, diesen Posten innegehabt. 

In der zweiten Hälfte der AKP-Regierungszeit blieb allerdings von den anfänglichen Reformversprechen, von der Stärkung der Demokratie und Modernisierung des Landes kaum noch etwas übrig. Seit den Gezi-Protesten im Frühsommer 2013 zeigt die Führung nur noch ihre brutale Seite.

Nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 geht es Erdogan und seiner AKP nur noch um Machterhalt. Gesetze werden geändert, Erdogans Kompetenzen ausgebaut, das Parlament verliert an Bedeutung. Heute herrscht in der Türkei ein Regime, bei dem alle drei Gewalten in einer Hand liegen: bei Erdogan. Polizei und Staatsanwälte warten nur auf ein Zeichen, um gegen Kritiker, Künstler, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Journalisten und Studenten vorzugehen.

Trotz mehrerer Korruptionsskandale, in die Spitzenpolitiker der AKP verwickelt sind, ist ihre Macht ungebrochen. Es gibt keine Staatsanwälte, die den Mut aufbringen würden, gegen sie zu ermitteln.

Frauen mit Kopftuch in Istanbuls Emononu-Bezirk (Foto: SEDAT SUNA/EPA-EFE)
Wofür steht die AKP? In ihrem Narrativ dominiert weiterhin die islamisch-konservative Ideologie. Sie und ihre Wählerschaft werden stets als Opfer der Republik dargestellt. Nach ihrer Lesart wurden Frauen mit Kopftuch Jahrzehnte lang in der Türkei benachteiligt, gläubige Muslime durch die herrschende säkuläre Elite diskriminiert. Für Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul schwanken Ideologie und Rhetorik der AKP zwischen wirtschaftlichem Modernisierungseifer und nationalistisch-religiös verbrämten Fantasien über die Rückkehr zur einstigen Großmacht. Unklar sei, ob die Beschwörung einstiger Größe wirklich einer ideologischen Überzeugung entspricht oder aber dem Bedürfnis geschuldet ist, einfache Botschaften für die Bevölkerung zu formulieren.

Die AKP wurde zum "Erdogan-Fanclub"

Für Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in der Türkei, hat sich die AKP seit ihrer Gründung radikal verändert. Was vor 20 Jahren als breite konservative Sammlungsbewegung begann, die anfangs durchaus auch Zuspruch von Liberalen bekam, habe sich in den letzten 20 Jahren in einen Erdogan-Fanclub verwandelt, sagt er im Interview mit der Deutschen Welle. Auch wenn die AKP heute noch über beeindruckende Netzwerke an der Basis wie Frauenvereine, Nachbarschaftshilfen, Wirtschaftsverbände oder Jugendgruppen verfüge, sei sie als Partei nur auf Erdogan zugeschnitten.

Brakel betont auch, dass von den durchaus liberal-konservativen Ideen der Anfangszeit nichts mehr übriggeblieben sei. Ideologie und Rhetorik der AKP schwanken seiner Meinung nach zwischen wirtschaftlichem Modernisierungseifer und nationalistisch-religiös verbrämten Fantasien über die Rückkehr zur einstigen Großmacht. Unklar ist, ob das wirklich einer ideologischen Überzeugung entspricht oder aber dem Bedürfnis geschuldet ist, einfache Botschaften für die Bevölkerung zu formulieren.

Opfernarrative der AKP

In der Tat wird es immer schwieriger festzustellen, wofür die AKP steht. In ihrem Narrativ dominiert weiterhin die islamisch-konservative Ideologie. Sie und ihre Wählerschaft werden stets als Opfer der Republik dargestellt. Nach ihrer Lesart wurden Frauen mit Kopftuch Jahrzehnte lang in der Türkei benachteiligt, gläubige Muslime durch die herrschende säkuläre Elite diskriminiert.

Gerade vergangene Woche präsentierte der AKP-Fraktionsvize Mahir Ünal die islamisch-konservative Wählerschaft der Partei als Verlierer von Atatürks Reformen. In Anspielung auf die Einführung des lateinischen Alphabets bei der Gründung der Türkei sagte er: "Die Republik hat unsere Sprache, unseren Wortschatz, unser Alphabet und unsere Denkweise vernichtet."

Nach heftiger Kritik machte er einen Rückzieher. Er sei stolz auf seine türkische Sprache und auf sein Volk, die Türken. Dennoch musste er am Montag sein Amt niederlegen. Wegen der schlechten Umfragewerte für die AKP wurde ihm dieser Schritt von seiner Partei nahegelegt.

Salim Cevik, SWP-Türkei-Experte (Foto: SWP)
Für Salim Cevik von der Stiftung Wissenschaft und Politik ist die "Flexibilität" der AKP ihre große Stärke. Bei der AKP gebe Erdogan den Ton an und die Partei passe sich ihm an. Und Erdogan kann seine Positionen schnell verändern, betont Cevik. "Heute kann er mit Kurden einen Friedensprozess führen, morgen kann er gegen sie militärisch vorgehen. Heute kann er mit der EU verhandeln, am nächsten Tag kann er der schärfste Gegner des Westens sein." Und bei all dem schaffe es Erdogan, seine Anhänger mitzunehmen. Und Erdogan hat noch einen weiteren Trumpf: den russischen Präsident Wladimir Putin, der ihm bereits jetzt politisch und wirtschaftlich unter die Arme greift.



Für Salim Cevik von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ist diese "Flexibilität" der AKP gleichzeitig auch ihre Stärke. Bei der AKP gebe Erdogan den Ton an und die Partei passe sich ihm an. Und Erdogan kann seine Positionen schnell verändern, betont Cevik. "Heute kann er mit Kurden einen Friedensprozess führen, morgen kann er gegen sie militärisch vorgehen.



Heute kann er mit der EU verhandeln, am nächsten Tag kann er der schärfste Gegner des Westens sein." Und bei all dem schaffe es Erdogan, seine Anhänger mitzunehmen. Diese Widersprüche nähmen seine Wähler ihm nicht übel, so der Türkei-Experte.

Auch in Deutschland hat Erdogans AKP eine große Anhängerschaft. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 bekam er 64,8 der Stimmen von den Deutschtürken, die zur Urne gingen.

Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023

Derzeit liegt die AKP laut Umfragen zwischen 30 und 32 Prozent. Zusammen mit ihrem Bündnispartner, der ultranationalistischen MHP kommt sie gerade mal auf knappe 38 Prozent. Allerdings sind Erdogans Zustimmungswerte viel höher als die seiner Partei.

Was neu ist in der Türkei: Zum ersten Mal haben sechs sehr unterschiedliche Oppositionsparteien ein Bündnis gegen die AKP geschmiedet. Kurden und Sozialisten haben eine weitere Allianz gegen Erdogan gegründet.    

Aber werden bei den Wahlen 2023 Präsidentschaft und Parlamentsmehrheit in AKP-Hand bleiben oder wird ihre Alleinherrschaft nach 20 Jahren erschüttert? Für den Fall, dass die Opposition im Parlament die Mehrheit gewinnt, Erdogan aber als Präsident im Amt bleibt, geht der Türkei-Experte Brakel von einer instabilen Regierung aus. Seiner Meinung nach würde dann Erdogan stärker als bisher am Parlament vorbei regieren. Allerdings könne die Opposition ihm dann das Leben schwer machen -  vermutlich wären vorgezogene Neuwahlen dann die Folge.

Sollte aber die Opposition auch den Präsidenten stellen, stünde sie laut Brakel vor der großen Herausforderung, schnell greifbare Verbesserungen bei den wichtigsten Themen wie Migration und Wirtschaft liefern zu müssen, was nicht einfach sei. Das Risiko, dass sich die breite Oppositionsfront an der Macht schnell zerlegt, sei dann hoch, so Brakel. Bei den 2024 anstehenden Kommunalwahlen könnte die AKP dann ein Comeback erleben, sagt der Türkei-Experte voraus.

Salim Cevik von der SWP glaubt, der Westen und ausländische Investoren würden sich bis dahin eher um einen krisenfreien Umgang mit Ankara bemühen, erst danach würden sie ihre Türkei-Politik neu ausrichten. Einer würde sich allerdings nicht zurückhalten, sondern aktiv Erdogan zum Sieg verhelfen: Der russische Präsident Wladimir Putin.



Er leiste jetzt schon Unterstützung, bringe Erdogan stets als Vermittler in der Ukraine-Krise ins Spiel, auch wirtschaftlich greife er ihm unter die Arme, so Cevik weiter. Wie weit Putin gehen würde und ob seine Bemühungen der AKP beim Machterhalt helfen, werden die nächsten Monate zeigen.

Elmas Topcu

© Deutsche Welle 2022