Es lebe die Meinungsfreiheit!

Es waren die machtvollsten Demonstrationen in der Geschichte Frankreichs, weit mehr als drei Millionen Menschen gingen auf die Straße. Nach Paris kamen mehr als 40 Staats- und Regierungschefs. Einzelheiten von Barbara Wesel aus Paris

Von Barbara Wesel

Am vergangenen Sonntag Abend (11.01.2015) entstand in der gewaltigen Menschenmenge beinahe eine Art Volksfeststimmung, oder vielleicht ein Hauch von Straßenkarneval. Trommler und Musikgruppen erreichten das Marschziel an der Place de la Nation, Demonstranten stimmten immer wieder die Marseillaise an, andere skandierten "Nous sommes Charlie". Besonderen Beifall bekam eine riesige Gliederpuppe an langen Stöcken, eine weißgekleidete Marianne - Symbolfigur der französischen Republik - die hoch über der Masse balanciert wurde und von weitem ihre Schwester begrüßte, die historische Statue der Marianne in der Mitte des Platzes.

Eine andere Gruppe von jungen Leuten trug einen riesigen Bleistift aus Papier an langen Stöcken durch die Menge, nach dem Modell eines chinesischen Drachens. Überhaupt war der Bleistift als Symbol der Meinungsfreiheit allgegenwärtig: Viele trugen Plakate mit Karikaturen, auf denen er sich stärker zeigt als ein Gewehr. Und abertausende Schilder verkündeten, dass die Franzosen an diesem Tag die Ermordeten des Satiremagazins, aber auch die anderen Opfer der Geiselnahmen gleichermaßen ehren wollten: "Ich bin Charlie, ich bin Polizist, ich bin Jude" wurde da verkündet, um an alle zu erinnern, die bei den Terroranschlägen das Leben verloren.

Wir sind Franzosen und Bürger der Republik!

Kaum ein Bekenntnis schien wichtiger als das zu nationaler Einheit und zu den Werten der Republik: "Ich bin Französin und Jüdin" stand auf dem kleinen Schild, das die über 80-jährige Madame Janine hochhielt. Sie war schon am Mittag zur Place de la Nation gekommen, weil sie die dreieinhalb Kilometer vom Start an der Place de la République nicht mehr laufen kann, und auch weil sie Angst hatte, von der Menge umgerissen zu werden.

Demonstranten in Paris tragen überdimensional großen Stift für die Meinungsfreiheit; Foto: Reuters
Fanal für die Meinungsfreiheit: Demonstrationsteilnehmer tragen in Paris einen überdimensionalen Stift mit der Aufschrift „Not Afraid“ zur Schau: Der „Republikanische Marsch“ mobilisierte allein in Paris 1,5 Million Menschen. In anderen Städten des Landes demonstrierten zusammen mehr als 2,5 Millionen Franzosen.

Dabei war dies die wohl disziplinierteste Großdemonstration aller Zeiten - die Polizei registrierte keinen einzigen Zwischenfall. "Jedenfalls bin ich erst Französin und dann kommt mein Glaube", fügte die alte Dame noch hinzu, und die Religion sei für sie Privatsache. Damit steht sie in der Tradition des Landes mit der Trennung von Staat und Kirche, die tief in der Seele der Bürger verankert scheint.

Ein schwarz gekleideter Mann mit dem Habitus des Pariser Intellektuellen erklärt kurz und bündig den Grund für seine Teilnahme: "Diese Ereignisse sind für uns, was für die Amerikaner der 11. September war. Frankreich muss seine Freiheit und seinen Stolz zurückerobern."

Frankreich fühlt sich einig

Dieser Marsch vereint Menschen aller Schichten, Altersgruppen und Herkunft. Gruppen von Palästinensern tragen ihre Fahnen vorbei, libanesische, syrische, kurdische und türkische Flaggen erscheinen in der Menge. Eine Familie, Vater mit Sohn und Tochter im Teenager Alter zieht vorbei - die Fortbewegung ist langsam, die großen Boulevards sind so vollgestopft mit Menschen, dass der Demonstrationszug immer wieder ganz zum Stehen kommen. "Je suis Charlie" haben die drei auf ihre Jacken geklebt. "Heute gibt es keine Spaltung im Land", sagt das junge Mädchen, "hier sind nicht nur die Pariser aus dem Stadtzentrum, den feinen Bezirken. Wir kommen auch aus einem Vorort. Die Jugendlichen von da draußen sind genauso auf der Demo, weil sie mit Gewalt und Extremismus nichts zu tun haben wollen".

Nur Schritte weiter eine bürgerliche Familie mit zwei kleinen Kindern, alle teuer gekleidet:"Wir sind hier, um an die Opfer zu erinnern und gegen obskure Ideologien und für dieFreiheit zu demonstrieren", formuliert der Vater. "Die französische Republik sieht sich dem Terror gegenüber, und dagegen muss man aufstehen". "Es ist ein Kampf, den unsere Kinder werden weiterführen müssen", wirft ein Familienvater daneben ein, und zeigt auf seinen Sohn.

Hoch die internationale Solidarität!

Am Nachmittag, als der franzöische Präsident, die deutsche Bundeskanzlerin, der britische Premierminister, ihre italienischen und spanischen Kollegen und insgesamt über 40 weitere Staats- und Regierungschefs sich an der Place de la République zum Start des Schweigemarsches aufgestellt hatten, war die Stimmung noch gedämpft. Immerhin hatten die Organisatoren die Monarchen von Jordanien neben Palästinenserpräsident Abbas platziert, sonst hätte er direkt neben Benjamin Netanjahu aus Israel marschieren müssen. Sogar der russische Außenminister Sergej Lawrow war gekommen, um in einer Reihe mit dem ukrainischen Präsidenten, Petro Poroschenko, für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren.

Frankreichs Präsident Hollande sprach zwischendurch mit den Familien der Opfer der Mordanschläge bei dem Satiremagazin "Charlie Hebdo" und dem jüdischen Supermarkt, es flossen Tränen. Die Regierenden hakten sich unter und gingen langsam ein paar hundert Meter weit. Schon an der nächsten Kreuzung wurden sie dann von wartenden Bussen wieder eingesammelt und zurück gefahren in den gut geheizten Elysée Palast, während die zwei Millionen Pariser bis in den Abend hinein im kalten Wind aushielten.

"Da sind ja viele dabei, die sich überhaupt nicht verstehen", sagt eine junge Lehrerin in der Menge. "Aber es ist doch gut, dass sie gekommen sind, um uns zu unterstützen und ihre Solidarität zu zeigen. So etwas hat es doch noch nie gegeben!" Und so wurde es alles in allem ein historischer Tag für Frankreich: Seit langem waren sich seine Bürger nicht so einig, fühlten sich nicht so stark in ihrer Gemeinschaft und der Tradition ihrer Werte.

Erst spät am Abend zerstreute sich die Menge, und nach ebenfalls gutem französischem Brauch strömten sie in die Bistros und Restaurants der Umgebung für ein spätes Abendessen - wohl alle in dem Gefühl, an diesem Sonntag ihre Bürgerpflicht erfüllt zu haben.

Barbara Wesel

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