Anthologie der Satiren und Märchen

Kernstück von Ethan Chorins Buch sind 16 libysche Kurzgeschichten, die erst kürzlich übersetzt wurden. "Translating Libya" stellt eine vielseitige Mischung aus Reisereportagen, wissenschaftlichen Berichten und Beschreibungen persönlicher Erfahrungen dar. Von Susannah Tarbush

Kernstück von Ethan Chorins Buch sind 16 libysche Kurzgeschichten, die erst kürzlich übersetzt wurden. "Translating Libya" stellt eine vielseitige Mischung aus Reisereportagen, wissenschaftlichen Berichten und Beschreibungen persönlicher Erfahrungen dar. Von Susannah Tarbush

​​Nach langen Jahren der internationalen Isolation erscheint Libyen vielen Außenstehenden noch immer als geheimnisvoll und unverständlich. Der Buchtitel "Translating Libya" kann folglich auf zwei Weisen verstanden werden: einerseits als Übersetzung der libyschen Literatur, andererseits als Versuch, Libyen den Lesern näher zu bringen.

In den Geschichten und den ergänzenden Notizen sowie Kommentaren wirft Ethan Chorin Licht auf die unterschiedlichen Facetten der libyschen Vergangenheit und Gegenwart.

Chorin war Mitglied einer kleinen Gruppe von US-Diplomaten, der nach der Wiederaufnahme der amerikanisch-libyschen Beziehungen 2004 nach Tripoli ging. Bis 2006 war er dort als Handels- und Wirtschaftsattaché tätig. Als er seinen Assistenten, den in den USA ausgebildeten Basem Tulti, nach guten einheimischen Autoren fragte, zeigte dieser ihm einen Band, der die Kurzgeschichte "Die Heuschrecke" ("Al-Jarad") von Ahmed Fagih enthielt.

Chorin war von der Geschichte begeistert und übersetzte sie in Englische. Vor lauter Begeisterung war die Idee für das Buchprojekt geboren.

Reise in unbekannte Regionen

Chorin schlug vor, dass sich die entstehende Anthologie auf Erzählungen konzentrieren sollte, die besondere Orte nennen. Er beschreibt die Wahl von "Ort" als organisierendes Prinzip: "Ich wollte eine Ausrede, um Regionen in Libyen besuchen zu können, die nicht in den Touristenführern genannt werden".

So besuchte er z.B. Jalo, eine abgelegene Stadt im Südosten Libyens, die Schauplatz für Sadiq Nayhoums "Die Flottille des Sultan" ist, und Zwara, im Nordosten, die in Kamel Maghurs "Die Geschichte von Miloud und Rubina" genannt wird. Jalo und Zwara sind "zwei sehr interessante Orte voller Geschichte. Ohne das Projekt hätte ich sie vermutlich nie zu sehen bekommen."

Es dauerte zwei Jahre, bis er die Erlaubnis erhielt, die Region im Osten Benghazis zu besuchen und bis er die Grünen Berge (Jibal Achdar) und Derna, das berühmt ist für seine Wasserfälle und die üppige Vegetation, besichtigen konnte.

Abwesenheit von Orten

Nachdem er einige Kurzgeschichten gelesen hatte, bemerkte Chorin, dass die meisten nur wenige, wenn nicht gar keine, Beschreibungen von Orten enthielten. Aber er nahm sich der Herausforderung an: "Die Abwesenheit von Orten wurde zu einer natürlichen Suche nach Werken, die Menschen und Orte explizit nennen."

Diese Erzählungen sind mit Chorins lebendigen, oft amüsanten Berichten seiner Abenteuer, die er auf Reisen zu entlegenen Orten oder auf der Suche nach bestimmten Autoren erlebt hat, durchsetzt. Auf der Suche nach Geschichten durchsuchte er Buchläden, Zeitungen, Magazine, Internetseiten und befragte seine persönlichen Kontakte.

Die Erzählungen sind im Buch in drei Abschnitte unterteilt – Ost-, Süd- und Westlibyen. Die östliche Region steht zu Beginn der Anthologie, aus Achtung für deren "besondere Rolle bei der Ausbildung libyscher Autoren und Intellektueller".

Ethan Chorin; Foto: &copy CSIS
Chorin: "Ich bleibe auf jeden Fall mit meinen libyschen Freunden in Kontakt und ich hoffe, dass ich bald wieder nach Libyen reisen werde."

​​Wie haben die Libyer auf den US-Diplomaten Chorin reagiert? "Ich habe die Libyer – insbesondere die libyschen Autoren und Künstler – als sehr engagiert und großzügig wahrgenommen", so Chorin. "Ich gewann den Eindruck, dass die meisten Libyer Amerikanern gegenüber positiv eingestellt sind, obwohl es in der Vergangenheit offene Spannungen in den Beziehungen gab."

Chorin vermutet, dass dies vielleicht damit zusammenhängt, dass "ältere Libyer oft gute Erinnerungen an die Begegnungen mit Amerikanern in den 60er und 70er Jahren hatten".

Gleichzeitig hat die internationale Isolation Libyens die jüngere Generation einigermaßen von den "heißen Eisen", die den Rest der Region beschäftigen, abgeschirmt. Das ändert sich jetzt und es gibt hohe Erwartungen an die Ergebnisse der Wiederannäherung".

Die 16 Geschichten sind in einer klaren, flüssigen Sprache übersetzt. Die Auswahl der Autoren reicht von Wahbi Bouri, der 1961 geboren wurde und als "das Original" der libyschen Kurzgeschichten-Autoren betrachtet wird, über die nächste Schriftsteller-Generation mit Ahmed Fagih, Ramadan Abdalla Bukheit, Ali Mustapha Misrati , Sadiq Nayhoum und Kamel Maghur, bis zu den jungen Autoren wie Abdullah Ali Al-Gazal, Maryam Ahmed Salama and Najwa Ben Shetwan.

Unter männlichem Pseudonym

Chorin merkt an, dass ein beachtlicher Anteil der jüngeren Schriftsteller Libyens aus 20-30 jährigen Frauen besteht, während in den letzten zwei Jahrzehnten männliche Autoren das Bild bestimmten. Einige Frauen schreiben unter männlichen Pseudonymen, weil sie die Schriftstellerei noch nicht als eine sozial akzeptierte Aktivität für Frauen wahrnehmen.

Die Anthologie beinhaltet Märchen, wie Sadiq Nayhoums "Der gutherzige Salzverkäufer" und "Die Flotilla des Sultan" ("Markab As-Sultan"), und Sozialsatiren, wie Ali Mustapha Misratis "Special Edition" – eine Schmähschrift auf den arabischen Jounalismus. Lamia al-Makkis bisher unveröffentlichte "Tripoli Story" spielt in der heutigen Konsumgesellschaft und porträtiert eine nahezu monströse, materialistische Ehefrau.

Sie enthält mehrere unglückliche Liebesgeschichten: In Bouris "Hotel Wien" verliebt sich zur Zeit des 2. Weltkriegs ein junger Mann in eine polnische Grafentochter, die ein Hotel in Benghasi betreibt.

In Kamel Maghurs Erzählungen "Das alte Hotel" und "Die Geschichte von Miloud und Rubina" steht die Beziehung zwischen einem muslimischen Einwanderer aus der "hoffnungslosen Stadt" Zwara und einer jüdischen Frau im Mittelpunkt. In Mayam Salama's "Von Tür zu Tür" ("Min bab illa bab") verliebt sich in Ghadames eine Krankenschwester in einen ukrainischen Arzt.

Zwei bestechend poetische Erzählungen spielen an der ostlibyschen Küste. Najwa Ben Shtewan beschreibt in "Der spontane Geliebte" wie eine junge Frau, die mit ihrer Familie die Ferien in Bauhareshma verbringt, einen Brief, der in einer Flaschenpost ins Meer geworfen werden soll, an ihren Geliebten schreibt. "Die Stumme" von Abdullah Ali Al-Gazal spielt in einer grünen Bergregion, in der ein missbrauchtes stummes Mädchen dem Ruf der Natur erliegt.

Die vielfältigen Feinheiten der Geschichten werden durch den Gehalt von Chorins Begleitmaterial ergänzt. Sechs abschließende Kapitel widmen sich der Geschichte der libyschen Kurzgeschichte, "Drei Generationen wirtschaftlichen Schockzustandes", Migration, Minderheiten, der libyschen Psyche und den libyschen Frauen

Inneres Exil

Die Erzählungen konfrontieren die politischen Realitäten der vier Jahrzehnte Gaddafi nicht direkt. Chorin bemerkt, dass man während der "Revolutionsjahre" von 1969 bis 1986, vom realistischen Stil der 1960er Jahre abkam. Einige der engagierten Schriftsteller flohen, soweit sie die Mittel dazu hatten.

Diejenigen, die blieben, "pflegten ihre Hobbys mehr oder minder im privaten Raum". Schriftsteller arrangierten sich mit der Zensur, entweder durch die Nutzung von Allegorien oder durch "offene Vermeidung" heikler Themen. Einige Arbeiten erreichen erst jetzt, bis zu 20 Jahre nach ihrer Entstehung, die Öffentlichkeit.

"Es gibt Zeichen dafür, dass durch die ökonomische und kulturelle Öffnung wieder mehr Menschen in Libyen lesen – vor allem die Kurzgeschichten", schreibt Chorin. Durch die Aufhebung der Einschränkungen für bestimmte Ausdrucksformen und das neue Pressegesetz "wird es interessant sein zu sehen, wer die nächste Generation libyscher Autoren bildet und woher sie ihre Inspirationen beziehen wird".

Chorin hofft, dass es einen Trend zu größerer Offenheit und Kreativität geben wird. "Den Großteil meiner Information über Libyen erhalte ich durch libysche Freunde oder über das Internet.

Einzelne, wie Laila Neihoum (eine Kusine von Sadiq Nayhoum), haben der libyschen Kunstszene einen enormen Gefallen getan, als sie damit begannen, Blogs zu veröffentlichen, in denen sie beschreiben, was sich in der Kunst- und Literaturszene Libyens tut. Hoffentlich wird in Zukunft mehr davon auf Englisch erscheinen".

In seinem Buch beschreibt er den ermutigenden Einfluss, den das Internet auf junge Autoren haben kann. "Es gibt da einen eindeutigen positiven Effekt auf den Austausch libyscher Kunst mit dem Rest der Welt."

Susannah Tarbush

© Qantara.de 2008

Übersetzung aus dem Englischen von Hannah Labonté

Gegenwärtig arbeitet Chorin nicht im diplomatischen Dienst, sondern als Senior Fellow des Middle East Program des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington.

Qantara.de

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