Kutlug Atamans "Küba" in Stuttgart

Vierzig Menschen – Kinder, Frauen, Männer, kurdische Migranten und Flüchtlinge aus Syrien, Iran und dem Irak, die in der Istanbuler Barackensiedlung Küba leben – lässt Kutlug Ataman in seiner Videoinstallation zu Wort kommen. Von Steffen Felger

Vierzig Menschen – Kinder, Frauen und Männer, kurdische Migranten und Flüchtlinge aus Syrien, Iran und dem Irak, die in der Istanbuler Barackensiedlung Küba leben – lässt der türkische Künstler Kutlug Ataman in seiner Videoinstallation am Stuttgarter Hauptbahnhof zu Wort kommen. Steffen Felger hat ihnen zugehört.

"Bist Du glücklich?", fragt der alte Metzger seine junge Frau und bekommt dabei vor Rührung einen schlimmen Hustenanfall. Zwei Minuten früher hätte sie vor laufender Kamera fast noch geweint.

Stockend sprach sie von ihren Kindern aus erster Ehe, die sie nie wieder sehen darf. Aber nun antwortet sie ihrem alten, kranken Mann gefasst und ernst. Liebevoll korrigiert sie ihn: "Wir sind glücklich." Denn sie sind nicht mehr alleine in der Welt. In Küba ist das sehr wichtig.

Ein paar Schritte weiter stellt eine zweite Frau trocken fest: "Alle Menschen aus der Osttürkei sind irgendwie komisch. Sie verlangen von jeder Frau, dass sie vier oder fünf Söhne gebiert." Sie stammt selbst aus dem Osten der Türkei, aus Bitlis.

In Istanbul darf sie ihr Haus seit Monaten nicht mehr verlassen, weil sie nur einen einzigen Sohn zur Welt gebracht hat. Denn wer auf Recht und Ordnung nicht zählen kann, der braucht viele Freunde und vor allem viele Brüder. "Mütter aus dem Osten", sagt diese Frau, "fürchten bis zu ihrem eigenen Tod, dass ihre Söhne umgebracht werden." Nicht nur in Küba.

"Küba" nannte der 41-jährige Kutlug Ataman seine Video-Installation, in der diese und drei Dutzend andere Menschen auf 40 Monitoren ihre Lebensschicksale erzählen. Mord und Verbrechen sind in ihren Geschichten so allgegenwärtig wie die Angst vor Durst und Hunger. Vor 40 Jahren zogen sie oder ihre Eltern aus dem Südosten der Türkei an den Bosporus. Auf einer Brachfläche errichteten sie das Gecekondu "Küba". Seitdem kämpfen die "Kübaner" um einen Platz in der großen Stadt Istanbul und ums Überleben.

Geschichten von Emporkömmlingen und Verlierern

Einige haben es offenbar geschafft. "Ich habe aus Hunger Brot von der Straße aufgelesen und gegessen", erinnert sich ein Mann mittleren Alters gelassen. Heute verkündet sein Wohnzimmer bescheidenen Wohlstand. Stolz schildert er, wie oft er sich auf dem Weg nach oben auf seine Fäuste, auf seine Brüder und auf seine Freunde verlassen konnte. Von was er lebt, sagt er nicht, während wir bei ihm sind.

Die Verlierer scheinen in Küba in der Überzahl zu sein. Ein traumatisierter junger Mann schaudert bei der Erinnerung an seine Militärzeit, als er an der Massenliquidierung politischer Gefangener beteiligt war. Zwei junge Vogelhändler verstehen nichts von Brut und Aufzucht und bedienen sich deshalb nachts aus den Volieren ihrer Konkurrenten. Ein kleines Mädchen erzählt in monotonem Stakkato seine unerträglich traurige Geschichte einer ungeliebten Stieftochter. Ihre Freundin trägt ein verwaschenes "Käpt’n Blaubär"-T-Shirt: Kein Zweifel, die Videos stammen aus der Gegenwart.

Auf Gleis 1A des Stuttgarter Hauptbahnhofs

Das Stuttgarter Festival "Theater der Welt" ist nach dem Carnegy Museum in Pittsburgh die zweite Station von Kutlug Atamans Videoinstallation. Sie portraitiert eine Zwangsgemeinschaft von entwurzelten Menschen, die ihre Angelegenheiten unter sich ausmachen. Bis nach Küba sind Recht und Ordnung noch nicht vorgedrungen. Hier gilt das Faustrecht des Stärkeren.

Die Stuttgarter Festivalorganisatoren übernehmen leider die sozialromantische Interpretation ihrer Pittsburgher Kollegen und preisen den "inzwischen legendären Widerstandsgeist der Bewohner". Asterix und Obelix lassen grüßen. Das rechtsfreie Elend der Migrantenghettos existiert weltweit und hat längst auch wieder in Deutschland Fuß gefasst.

Atamans Leistung, der zwei Jahre lang in Küba gearbeitet hat, ist umso höher zu bewerten. In Stuttgart erstatten die Kübaner in sechs alten Eisenbahnwaggons auf Gleis 1A des Hauptbahnhofs Bericht. Der Ausstellungsort wird Teil der Installation: Bis zu seiner Verwandlung in einen postmodernen Konsumtempel war der Stuttgarter Hauptbahnhof der wichtigste Treffpunkt der anatolischen Arbeitsmigranten. Jetzt stellen ihre Kinder und Enkel einen Großteil der Besucher auf Gleis 1a.

Steffen Felger

© Qantara.de 2005

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Informationen über das Stück auf der Website von Theater der Welt