Verblichener Mythos vom Ziegengott

Kaum eine andere Band blickt auf eine so traditionsreiche Musikkultur zurück, wie die marokkanischen Master Musicians. Doch Moderne und gesellschaftlicher Wandel werfen ihre Schatten auf den ursprünglichen Charakter dieser lebendigen Ritualmusik.

Von Arian Fariborz

 ​​Joujouka – ein kleines unscheinbares 500-Seelen Dorf am Rande des nordmarokkanischen Rifgebirges: Weiß getünchte Häuser mit blau gestrichenen Türen und Fensterläden. Ein steiniger Weg führt über einen Hügel zur Dorfmoschee und zu einer Schule – gesäumt von üppig wuchernden Kakteen-Büschen und schroffen Felsbrocken. Und doch handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Dorf – denn aus Joujouka stammt eine musikalische Elite, deren Vorfahren ursprünglich im 9. und 10. Jahrhundert aus Persien kamen und die bis heute für ihre magischen und heilenden Klänge berühmt sind.

Die Legende von Sidi Ahmed Sheikh

Um die Bewohner des kleinen Dorfes ranken sich zahlreiche Mythen und Legenden. Vor allem um Sidi Ahmed Sheikh, einen Heiligen, der Mitte des 13. Jahrhunderts den Grundstein für das kleine Dorf legte und den Islam nach Joujouka brachte. Doch damit nicht genug: Sidi Ahmed Sheikh galt auch als großer Philosoph und talentierter Poet. Er war es, der zum ersten Mal die Musik für seine Dichtkunst und sein Dorf entdeckte.

Blick auf das Dorf Joujouka; Foto: Arian Fariborz

Im 17. Jahrhundert dienten die Ritualmusiker aus Joujouka am Hofe der Alawiden-Sultane Marokkos. Sie lebten in den Palästen der islamischen Herrscher, spielten zu feierlichen Anlässen und musizierten regelmäßig, bevor die Sultane zum Freitagsgebet in die Moschee gingen. Die Spielkunst dieser Meistermusiker ist dem Sufi-Mystizismus und Paganismus verbunden. Sie spielen auf Tebel und Tarija (Trommeln), Ghaita (Holzblasinstrument, Lira (Flöte) und Gimbri (Saiteninstrument).

In mehrstündigen rituellen Sequenzen entwickelt die Musik einen hypnotischen Sog, der Musiker wie Publikum in einen tranceartigen Zustand versetzt. Von Dorfbewohnern und Außenstehenden wird der Musik eine magische Kraft sowie heilende Wirkung zugesprochen. Der heilende Effekt der Musik sprach sich auch in den umliegenden Dörfern herum: Ob gelähmt, psychisch krank oder unfruchtbar – viele Menschen pilgerten nach Joujouka. Von den mystischen Klängen und dem "Baraka" Sidi Ahmed Sheikhs versprachen sie sich rasche Genesung.

Boujeloud – der Vater des Schreckens

Doch nicht nur die spirituellen und heilenden Klänge sind für die Musik Joujoukas charakteristisch. Auch bei den heidnischen, ländlichen Bräuchen und Tanzspektakeln stehen die Master Musicians im Zentrum des Geschehens. Eine Schlüsselfigur ist hierbei der Ziegengott Boujeloud – auch "Vater des Schreckens" genannt. Boujeloud ist niemand anderes als der aus der Antike stammende Ziegengott Pan – für die Dorfbewohner eine Art Fruchtbarkeitsschöpfer. So sollen Frauen schwanger werden, wenn Boujeloud sie beim Tanzen mit seinen Ruten trifft. Einmal im Jahr, nach dem Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan, wird zu Ehren von Boujeloud auf dem Dorfplatz ein Freudenfeuer errichtet.

Boujeloud, Vater des Schreckens; Foto: Arian Fariborz

Die Master Musicians of Joujouka beginnen zu spielen und jeder wartet gespannt auf die Ankunft des Ziegengottes. Und plötzlich ist er da: eine Furcht einflößende Gestalt, bekleidet mit frischer Ziegenhaut, einem Strohhut und einem schwarz bemalten Gesicht. Zwei Olivenruten hält Boujeloud in den Händen, schwingt sie durch die Luft, während er allmählich beginnt, sich im Takt der Musik zu wiegen.

Begegnungen mit der Beat-Generation

Die Musik der Master Musicians of Joujouka hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder westliche beeinflusst, insbesondere amerikanische Künstler. Die Liste derer, die sich auf die Suche nach musikalischer und spiritueller Inspiration nach Joujouka begaben, liest sich wie ein "Who is Who" popkultureller Forscher, Literaten und Grenzgänger: Angefangen bei den in Tanger lebenden Beat-Poeten Brion Gysin, William S. Burroughs und Paul Bowles, über den Rollig Stones-Gitarrist Brian Jones und den Free Jazz-Pionier Ornette Coleman. In den Vierziger Jahren war der renommierte marokkanische Maler und Mentor der Master Musicians of Joujouka, Mohammed Hamri, die Schlüsselfigur zwischen westlicher Welt und Joujouka.

Er war auch der einzige marokkanische Künstler, der mit Burroughs und Gysin von gleich zu gleich verkehrte. Von Kindheit an hatte Hamri viel Zeit in dem Dorf verbracht, aus dem seine Mutter stammte. Die Magie der Musik ergriff den Jungen, der fortan sein ganzes Leben hindurch versuchte, die Musiker und Bewohner Joujoukas zu unterstützen. Da während der Vierziger Jahre in Joujouka und den umliegenden Dörfern des Rifgebirges eine ständige Hungersnot herrschte, schlug Hamri vor, die faszinierende Musik einem größeren Publikum zugänglich zu machen, auf öffentlichen Plätzen der großen Städte zu spielen und Geld zu verdienen, um damit die Armut im Dorf zu beseitigen.

Das 1001 Nacht in Tanger

Kurze Zeit darauf lernte Hamri in Tanger Paul Bowles und Brion Gysin kennen, die sein außergewöhnliches, malerisches Talent erkannten und förderten. 1950 führte Hamri die beiden zum ersten Mal nach Joujouka, wo sie die Master Musicians erlebten. Brion Gysin war überwältigt. Er meinte, dies sei die Musik, die er für den Rest seines Lebens hören wolle. Gysin übernahm, wie zuvor bereits Hamri, die Rolle eines Mentors für die Musiker. Fortan bemühten sie sich, die Musiker zu fördern und dadurch die Hungernot im Dorf zu bekämpfen. Zu diesem Zweck eröffneten Gysin und Hamri 1952 in der Kasbah von Tanger das Restaurant 1001 Nacht.

Foto: Arian Fariborz
Sufi-Mystizismus und Paganismus verpflichtet - The Master Musicians of Joujouka.

Der Musikjournalist Joe Ambrose berichtet, dass Hamri für die Küche und die Gastronomie zuständig war und Brion Gysin für die anspruchsvolle Kundschaft: "Bohemiens, Botschaftsangehörige, diplomatischer Dienst – er kümmerte sich darum, dass das Ambiente stimmte. Die Musiker rotierten in kleinen Besetzungen: Jeweils sechs von ihnen kamen für eine Woche, gingen dann mit ihrem Geld zurück und schickten die nächste Gruppe.

Die Frauen aus Joujouka arbeiteten in der Küche und machten sauber." Gäste des 1001 Nacht waren neben der lokalen Prominenz und Halbwelt, Protagonisten der westlichen Subkultur, wie der Timothy Leary oder der Beat-Literat William Burroughs, der die Master Musicians so sehr schätzte, dass er sie einmal als 4000 Jahre alte Rock & Roll-Band bezeichnete.

Musikalische Experimente mit westlichen Musikern

In den Sechziger Jahren markierte Brian Jones Besuch bei den Master Musicians den Anfang einer bis heute nicht abreißenden Serie von Pilgerfahrten westlicher Musiker nach Joujouka. Die Master Musicians inszenierten 1968 für Brian Jones ein Musikspektakel der besonderen Art. Aus den Aufnahmen entstand das Album "Brian Jones meets the Pipes Of Pan at Joujouka", das als eines der ersten Weltmusik-Alben gilt. Im Januar 1973 folgte der Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman. Zu der Reise nach Marokko hatte ihn der Musikjournalist Robert Palmer angeregt, der Joujouka zuvor besucht hatte.

Anders als Brian Jones, der die Musik der Master Musicians lediglich aufgenommen hatte, will Coleman mit den Musikern zusammen spielen. Die Verbindung der beiden musikalischen Welten gestaltete sich jedoch weit schwieriger als angenommen. Das rituell festgelegte Spielsystem der Meistermusiker ließ sich mit Colemans eigenwilligen Improvisationen nicht ohne weiteres verbinden. Coleman soll schließlich eine Musik entwickelt haben, die beiden Seiten gerecht wurde. Sie blieben jedoch unveröffentlicht, weil Coleman kurz vor Fertigstellung seines Joujouka-Albums von seiner Plattenfirma gefeuert wurde.

Brian Jones' Joujouka LP-Cover

Das Erlebnis in Joujouka prägte die Musik Ornette Colemans langfristig. Dank seiner Erfahrungen entwickelte der Freejazzer den Sound seines Gitarren-Ensembles "Prime Time", der für ihn über Jahre hinweg charakteristisch bleiben sollte. Und auch in spiritueller Hinsicht hinterließ die Reise nach Marokko einen tiefen Eindruck bei dem Ausnahmemusiker. Die transzendentalen Kräfte der Ritualmusik waren für ihn Beweis für die Existenz von Magie, an die er vorher nur hatte glauben können. Nach Joujouka vermochte sich Ornette Coleman endgültig von den Restriktionen der westlichen Musikkultur zu befreien.

Kommerz und musikalischer Wandel

Allerdings hat sich die Situation der "Master Musicians of Joujouka" vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch verändert. Die ökonomischen Zwänge lassen ein Leben kaum mehr zu, das ausschließlich der Musik gewidmet ist. Die traditionelle Lebensweise erodiert auch in Joujouka immer mehr. Viele Musiker verlassen das Dorf und opfern ihre musikalische Kunst, auf der Suche nach Broterwerb und moderner Lebensweise.

Doch nicht nur der gesellschaftliche Wandel, sondern auch der Tod des einstigen Leiters der Musiker, Hadj Abdessalam Attar, im Jahre 1982 waren entscheidend für den Bruch der traditionellen Spielkunst der Master Musicians. Denn fortan erhob Hadj Abdessalams Sohn Bachir Attar den Anspruch auf die Leitung der Gruppe. Der Musikjournalist Ambrose berichtet, dass Bachir Attar zu den Master Musicians ins Dorf ging und sagte, sein Vater wäre Leiter der Musiker gewesen und dass dies nun sein Privileg sei.

Sie sollten anfangen, ein paar elektronische Instrumente in die Musik einzuführen, um sie kommerzieller zu machen: "Er war sehr jung zu dieser Zeit, ich glaube, er war in seinen frühen Zwanzigern. Die anderen Musiker, von denen viele auf dem Brian-Jones-Album mitgespielt haben und seit dieser Zeit dabei waren, haben ihn daraufhin einfach ausgelacht und gesagt: 'Du kannst vielleicht Leiter der Musiker werden, wenn deine Zeit gekommen ist, aber du bist noch nicht soweit, und du bekommst nicht die Leitung, nur weil dein Vater der Leiter war. Außerdem ist dieses Zeug mit den modernen Instrumenten einfach Schwachsinn!'"

Fragwürdige Weltmusikprojekte

Tatsächlich ging Bachir Attar mit seinem Ehrgeiz, die Musik aus Joujouka mit seinem Namen zu verbinden und in die Welt hinaus zu tragen, sehr weit. Er kooperierte mit hochkarätigen westlichen Popstars, wobei er derart hohe Konzessionen machte, dass von der ursprünglichen Gestalt der Musik der Master Musicians nur noch wenig übrig blieb. Gänzlich anders als Hamri hat Bachir Attar von seinen beträchtlichen Einnahmen aus der kommerziellen Vermarktung Joujoukas niemals etwas zum Wohl des Dorfes und seiner Bewohner abgegeben. Auch begann er Leute zu rekrutieren, die in keiner Hinsicht etwas mit Joujouka zu tun hatten – kommerzielle Musiker aus der nahe gelegenen Stadt Ksar El-Kebir oder Tanger.

"The Music of Joujouka featuring Bachir Attar", das letzte Album, das Attar vor einigen Jahren zusammen mit dem indischen DJ Talvin Singh aufnahm, lässt denn auch jedweden faszinierenden musikalischen Gehalt der traditionellen Master Musicians missen. Andere Kooperationen führten Attar mit dem Funk-Saxophonisten Maceo Parker, und den Rolling Stones zusammen – Weltmusik-Crossoverprojekte, die mit der Musikkultur Joujoukas kaum etwas zu tun haben.

Doch nicht alle Musiker aus Joujouka waren und sind mit der Art, wie Bachir Attar die religiöse und rituelle Musik ihres Dorfes kommerziell verwertet, einverstanden und folgen dem selbst ernannten Leiter der Master Musicians auf seinem Weg durch das internationale Musikbusiness. Die Attar-Gegner bilden bis heute eine Gruppe, die sich dem Geist verbunden fühlt, mit dem Hamri die Master Musicians bekannt machte. Sie spielen die Musik in einer Form, die sich wohl gegenüber dem Sound von vor 20 Jahren unterscheidet, aber sich nicht dem Ansprüchen von Musikstars oder kommerziellen Produzenten anpasst.

Somit existieren heute zwei Fraktionen, die beide als Master Musicians auftreten, untereinander aber nichts miteinander zu tun haben wollen. Die immer wieder auftretenden Spannungen zwischen den beiden Lagern sind dem Zusammenleben im Dorf natürlich mehr als abträglich, zumal die Grenze teilweise zwischen Brüdern und Cousins verläuft. Die Spaltung der Master Musicians of Joujouka ist ein tragischer Vorgang. Ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn Musik aus Entwicklungsländern in den Sog der Musikindustrie gerät.

Nichtsdestotrotz hat sich in Joujouka bis heute eine hoch organisierte Musikkultur erhalten, die in vieler Hinsicht einzigartig ist. Eine Musik, die künstlerische Visionäre und Grenzgänger immer wieder anzog – auf der Suche nach Experiment und Befreiung in Verbindung mit uralten magischen Kräften.

Arian Fariborz

© Qantara.de 2005