Armut im Denken und Konformismus

Der Philosoph Tariq Ramadan wirft Globalisierungskritikern im Westen vor, einem eurozentrischen Weltbild verhaftet zu sein. Er mahnt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Islam und den Konflikten des Nahen Ostens an.

Die globalisierungskritische Bürgerbewegung erlebte in den letzten Jahren einen unvergleichlichen Aufschwung.

Und die Demonstrationen gegen das jüngste Gipfeltreffen der G 8 in Evian reihen sich in eine immer länger werdende Kette von Protesten, in denen die radikale Ablehnung des neoliberalen Kapitalismus zum Ausdruck kommt, getragen von der Hoffnung auf eine andere, gerechtere, menschlichere und würdevollere Globalisierung. Denn wir alle sind zutiefst davon überzeugt: "Eine andere Welt ist möglich!"

Ein genauerer Blick in die Schriften der Akteure dieser internationalen Bewegung zeigt allerdings, auf welcher inneren Logik dieser Kampf gründet.

Angesichts eines seelenlosen Kapitalismus, der alles zur Ware macht, regt sich das Gewissen und erhebt die Forderung nach Achtung vor Gerechtigkeit und Menschenwürde, Umwelt und genetischem Gleichgewicht, dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung und Demokratie.

Abgesehen davon, dass die althergebrachten Losungen der verschiedenen Fraktionen der Linken darin fortleben, drängt sich der Eindruck auf, dass die kritische Betrachtung der Weltlage und die angebotenen Antworten auf einer einseitig strukturell ausgerichteten Analyse basieren.

Den Ausgeburten des kapitalistischen Wahnsinns wird eine humanisierende und humanistische ökonomische Logik entgegengesetzt, die allerdings weitgehend einer eurozentrischen Sichtweise verhaftet bleibt.

Man bedient sich dabei des Modells einer demokratischen Gesellschaft (das hiesigen Wunschvorstellungen entspricht), um die Fehlentwicklungen und Auswüchse der Systeme zu kritisieren, die Tag für Tag gegen dessen Grundregeln verstoßen (allermeist dort): Die Rationalität der Ethik widerstreitet der Rationalität des Geldes. Die Konfrontationslinien sind damit klar.

Koloniale Klischees

Wer allerdings nach einer ernsthaften Berücksichtigung der kulturellen und religiösen Vielfalt jenseits der üblichen "Mahnung zur Toleranz" sucht, kann nur befremdet Fehlanzeige konstatieren. Die Globalisierungskritiker denken nur allzu oft, dass der kulturellen wie religiösen Vielfalt durch die Bekundung guten Willens schon Genüge getan sei, und erkennen diese kaum als Realität an, auf die man sich einlassen muss.

Nicht selten begegnet man daher Frauen und Männern, die in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht die fortschrittlichsten Ideen vertreten, deren Diskurs auf kultureller Ebene aber von alten kolonialen Klischees durchsetzt ist.

Von Forum zu Forum gewöhnt man sich zunehmend an die Erscheinung dieses neuen Typus eines Aktivisten - der lebendige Widerspruch der aktuellen Linken, der ökonomisch fortschrittlich und zugleich kulturimperialistisch denkt, der für soziale Gleichheit kämpft und mit größter, mitunter an Überheblichkeit grenzender Selbstgewissheit von seinem vermeintlichen Recht Gebrauch gemacht, universelle Werte für alle zu bestimmen.

Da jedoch offensichtlich Brüche und Spannungen zwischen den Zivilisationen und Religionen immer heftiger zu Tage treten, kommt die globalisierungskritische Bewegung nicht umhin, sich mit der zentralen Frage der Pluralität von Kulturen und Religionen zu befassen.

Einerseits eine andere Globalisierung zu erstreben und andererseits sich im Kampf gegen die Einheitsvermarktung der Welt lediglich westlicher Rationalität zu bedienen ist mehr als ein Widerspruch, nämlich blanker Nonsens.

Recht auf Vielfalt

Wünschenswert wäre, Recht und Anspruch auf Vielfalt inmitten dieser Hoffnung auf Veränderung der Welt zu leben: Wo nicht zumindest ansatzweise was gesagt wird, auch gelebt wird, entsteht die Gefahr, dass sich das Gelebte ins Gegenteil des Geforderten verkehrt.

Das Defizit an Demokratie und Offenheit in der globalisierungskritischen Bewegung ist offenkundig. Die Bewegung, so heißt es, ist offen für Individuen wie für Ideen, für Berühmtheiten wie für Namenlose.

Doch hinter der Fassade des Informellen verbergen sich alte Seilschaften und in den Jahren des Kampfes eingeschliffene Praktiken. Es herrscht ein bestimmtes, vorgefasstes Bild der Symbole und Konzepte des einzig wahren Kampfes, das mitunter dazu verleitet, all jene, die sich nicht bruchlos dareinfügen, ob ihrer Irrungen zu verurteilen.

Betroffene nicht vertreten

Stillschweigend ist ein großer Teil der Bewegung dabei, sich zu institutionalisieren und einen Diskurs um Forderungen herum zu entwickeln, die doch nur alter Wein in neuen Schläuchen sind und weder aus der Basis, für die zu sprechen man vorgibt, hervorgegangen sind noch je mit ihr diskutiert wurden.

Man spricht von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Kampf gegen Rassismus, Judäophobie und Islamophobie, während die in erster Linie Betroffenen in den verschiedenen Foren, wo für sie und ohne sie gedacht wird, praktisch nicht vertreten sind.

Und wenn sie gelegentlich doch teilnehmen, werden zunächst einmal ihre Absichten in Zweifel gezogen, werden sie verdächtigt: "Was wollen die denn?"

In dieser einen Frage kommt bereits der ganze Widerspruch zum Ausdruck. Schlimmer noch: Wer sich in der Bewegung tatsächlich die Freiheit nimmt, Negativklischees zu überwinden und partnerschaftliche Beziehungen mit muslimischen Aktivisten anzuknüpfen, muss gegen starken Gegenwind ankämpfen und wird bestenfalls der Naivität geziehen, schlimmerenfalls des Verrats bezichtigt.

Unwissenheit über den Islam

Im internationalen Kontext tun sich die gleichen Widersprüche auf. Der globalisierungskritische Diskurs hinsichtlich des Nahen Ostens und des Islam ist von erschreckender Armut im Denken und von Konformismus gekennzeichnet.

Hier muss die Frage erlaubt sein, was dem US-amerikanischen Unilateralismus und dessen Projekt einer Demokratie unter Aufsicht (jenseits der Losung "Nein zum Krieg!") tatsächlich entgegengesetzt wurde.

Das Unwissen über den Islam sowie die in einem Westen, dessen Selbstbild in eurozentrischen Klischees befangen bleibt, gegen den Islam geschürte Angst verleiten auch die Akteure der anderen Globalisierung zu einem oberflächlichen, wenn nicht gar gefährlichen Diskurs über den Islam.

Wo sind die arabischen und muslimischen Globalisierungskritiker? Wie kann der Kontakt aufgenommen werden zu den Millionen Akteuren im Nahen Osten, in Afrika und Asien? Die Furcht vor ihnen ist so groß, dass die Vorstellung, Muslime könnten auf dem Boden ihrer Überzeugungen und Werte Kräfte der Veränderung sein, gar nicht aufkommen kann.

Auf Grund ihrer Blindheit gegenüber den Dynamiken der Befreiung im Großteil der muslimischen Länder (die zumeist in und durch den Islam Ausdruck finden) und ihres Unverständnisses gegenüber den Kämpfen, welche die europäischen und nordamerikanischen Bürger muslimischen Glaubens führen, bleibt das Denken der Globalisierungskritiker mit allzu vielen Vorurteilen behaftet.

Von ihrer Fortschrittlichkeit überzeugt, nehmen sie sich nach eigenem Gutdünken das Recht heraus, Religionen als unwiderruflich reaktionär zu verdammen. Daher wird schließlich nur eine Hand voll "Muslime-die-so-denken-wie-wir" als legitime Mitstreiter im Kampf akzeptiert. Damit wird der Dialog mit dem Islam zu einem interaktiven Monolog entstellt, der "unsere ideologischen Gewissheiten" bestätigt.

Offener Dialog gefordert

Die Globalisierung, der wir uns entgegenstemmen, nährt sich aber gerade aus diesen alten Reflexen selbstgefälliger Überheblichkeit. Und wer die Entwicklung der Welt mit offenen Augen betrachtet, wird wohl zustimmen, dass die globalisierungskritische Bewegung, die schließlich eine andere Globalisierung erstrebt, nur dann eine Zukunft haben wird, wenn sie in einen fruchtbaren und offenen Dialog mit der Welt des Islam eintritt.

Mehr noch als die ersten beiden Widersprüche könnte dieser dritte Widerspruch den Lebensnerv der Bewegung treffen. Denn so droht sie sich ihr eigenes Grab zu schaufeln: Gegenwärtig wird mit der Angst vor dem Islam eine Psychose zu erzeugen versucht, um eine internationale "Sicherheitspolitik" zu rechtfertigen, deren repressive Maßnahmen die Freiheitsrechte aller Bürger bedrohen.

Eine globale Widerstandsbewegung, die sich nicht zum Ziel setzt, diese Angst kritisch zu hinterfragen und mit dem Anderen, dem Muslim, Gemeinsamkeiten zu erkunden, läuft Gefahr, in Gegensatz zu ihren eigenen Ansprüchen zu geraten und ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Bei jedem weiteren verabscheuenswürdigen terroristischen Akt werden die Globalisierungskritiker naiver Träumerei geziehen werden; und das wäre für uns alle verheerend, denn dieser Kampf ist doch schließlich unser Kampf.

Das Engagement für den Pluralismus ist unser gemeinsames Anliegen, und alle sind dazu aufgerufen, ihre jeweiligen Widersprüche zu erkennen und zu überwinden.

Nur dauerhafte und anspruchsvolle Partnerschaften werden uns die Kraft verleihen können, Antworten auf diese Herausforderungen zu finden: Um freie Bürger zu bleiben, müssen wir lernen, aus unserer Unterschiedlichkeit und Vielfalt heraus gemeinsam zu handeln!

Und wir haben ja bereits damit begonnen. Hie und da finden, wenn auch noch viel zu selten, Gespräche und Begegnungen statt. Die globalisierungskritische Bewegung in ihrer großen Mehrheit hat sich indes noch nicht klar dafür entschieden, das, was sie erhofft, bereits heute zu leben.

Aus dem Französischen von Yusuf Kuhn

Quelle: Frankfurter Rundschau, 11.8.2003

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

Tariq Ramadan ist Professor für Islamische Studien an der Universität Fribourg (Schweiz) und Professor für Philosophie am Collège von Genf. Als Experte gehörte er mehreren Kommissionen des Europaparlamentes an, und er ist Mitglied der "Gruppe der Weisen für den Dialog der Völker und Kulturen" bei der Europäischen Kommission unter Vorsitz von Romano Prodi.

Mehr zu Tariq Ramadan finden Sie auf seiner Website www.tariq-ramadan.org