Mit frischem Blick durch Kabul laufen

"Shadow City", ein Buch der indischen Journalistin Taran Khan, ist das willkommene Porträt einer leidgeprüften, vielschichtigen Stadt aus "östlicher" Perspektive. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Zeitgenössische Bücher über Afghanistan nähren sich häufig aus abgedroschenen Klischees: die unterdrückte Burkaträgerin, der kleingeistige Mullah, das kriegsgebeutelte, verarmte und hilfsbedürftige Volk. Bestseller wie die weltbekannten Bücher von Khaled Hosseini  (“Drachenläufer”, “Tausend Strahlende Sonnen”) wurden genau dafür kritisiert, dass sie afghanisches Leid immer wieder ausschöpfen, um dem westlichen Publikum das Bild von einem hoffnungslos desolaten Land aufzutischen, einem Land das gefangen scheint in Monstrositäten wie Terrorismus und Frauenverachtung.

Die simplifizierende Botschaft hinter dieser Perspektive: Afghane zu sein bedeutet, zu leiden. Die westliche Faszination für dieses Afghanistan-Bild schlug sich über Jahre in den Verkaufszahlen solcher Bücher, aber auch im Fokus der internationalen Afghanistan-Berichterstattung nieder und ließ den kritische Leser händeringend nach ausgewogenen Alternativen suchen.

Eine solche Alternative zu sein, verspricht das Anfang des Jahres erschienene Buch “Shadow City. A Woman Walks Kabul” der indischen Journalistin Taran Khan. “Shadow City” ist eine Mischung aus Essay, Reisebericht, Geschichtsbuch und persönlichen Memoiren.

Khan reiste 2006 zum ersten Mal in die afghanische Hauptstadt, um junge afghanische Media Professionals und angehende Filmemacher auszubilden. In den folgenden Jahren kehrte sie mehrmals für längere Aufenthalte zurück, kam der Stadt immer näher und schrieb dabei für Publikationen wie “The Caravan” oder den “Indian Express”. Allerdings wuchs langsam ihre Unzufriedenheit mit den Möglichkeiten des traditionellen Journalismus, ein persönliches und experimentelles Bild der Stadt zu zeichnen. So entstand über Jahre der Recherche die Idee zum eigenen Buch.

Aufspüren von gemeinsamen kulturellen Affinitäten

Buchcover Taran Khan: “Shadow City. A Woman Walks Kabul”, Chatto & Windus 2019
Jenseits abgedroschener Afghanistan-Klischees: Obschon Kabul über die Jahre viel beschrieben wurde und zu so etwas wie einem Spielfeld für ausländische Journalisten geworden ist, die sich mit Berichterstattung aus einem Krisengebiet einen Namen machen wollen, schafft es die Journalistin Taran Khan, der Stadt auf Augenhöhe zu begegnen und nicht zu exotisieren.

Khans Narrativ setzt sich aus Beschreibungen von Kabuler Spaziergängen zusammen, die sie zwischen den Jahren 2006 und 2013 unternahm. Obschon Kabul über die Jahre viel beschrieben wurde und zu so etwas wie einem Spielfeld für ausländische Journalisten geworden ist, die sich mit Berichterstattung aus einem Krisengebiet einen Namen machen wollen, schafft es Khan, der Stadt auf Augenhöhe zu begegnen und nicht zu exotisieren.

Zwar ist Afghanistan auch hier das “zu untersuchende Andere” — wann reist schon mal ein afghanischer Journalist nach Amerika, um dort Hochzeitsfeiern zu beschreiben? —, doch schreibt hier eine Autorin aus einem Land, das seit langem selbst Objekt des post-orientalistischen Blicks ist. Daher ist es erfrischend, Kabul aus dem Blickwinkel einer indischen Muslima zu betrachten und mitzuerleben, wie sie bei ihren Entdeckungsreisen immer wieder gemeinsame kulturelle Affinitäten aufspürt, etwa die südasiatische Leidenschaft für Realitätsflucht mithilfe von Bollywoodfilmen.

“Ich habe eine komplizierte Beziehung zum Laufen”, erklärt Khan gleich zu Beginn ihres Buches. “Das hat, so nehme ich an, viel damit zu tun, dass ich in Aligarh aufgewachsen bin, einer Stadt in Nordindien, in der das Laufen auf der Straße mit intensiver männlicher Kontrolle einherging, sowie mit dem Gefühl, sich in einem verbotenen Raum zu bewegen.” Khans anfängliche Reflexion über weibliche Mobilität im Vorwort setzt den Ton für die sieben Kapitel, in denen sie häufig Parallelen zieht zu ihrer Kindheit in der Universitätsstadt südöstlich von Delhi, die in Indien als eine Art muslimisches Cambridge bekannt ist. 

Khan bezeichnet Kabul als eine “amnesische Stadt”, in der die Spuren der Vergangenheit tief unter der Oberfläche begraben liegen. Wie ein Patient, der unter Gedächtnisverlust leidet, ist Kabul für sie ein Ort, dessen reiche Vergangenheit längst verschüttet wurde vom Lärm der letzten Jahrzehnte. Schnell lernt Khan so zwischen dem Zahir, dem verborgenen Inneren und dem Batin, dem nach außen Sichtbaren, zu unterscheiden — ein philosophisches Gegensatzpaar aus der arabischen Sprache, das tief im Sufismus verankert ist und mit dem sich viele Phänomene im weiteren persischen Kulturraum erklären lassen.

Diese Unterteilung lässt sich auch auf die Diskrepanz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen übertragen, woraus sich diverse soziale Kodizes ergeben. Mit anderen Worten ausgedrückt: Selten ist etwas so, wie es erscheint.

Tiefes Graben in den Alltagsrealitäten der Kabulis

Auf ihren Spaziergängen gräbt Khan tief in den Alltagsrealitäten der Kabulis und interviewt dabei etwa einen Hochzeitsfilmer, der sehr vorsichtig sein muss, dass sein Filmmaterial nicht in andere Hände als die seiner Klienten gelangt, einen Bibliothekar, der seine Arbeit in den leeren, dem Verfall preisgegebenen Lesesälen von Kabuls einziger öffentlicher Bibliothek verrichtet und einen Taxifahrer, der behauptet, nicht eine Nacht in seinem Leben an einem anderen Ort als in Kabul geschlafen zu haben. Sie konversiert mit frommen Pilgerinnen in einem Sufi-Schrein, trifft Afghanistans exzentrischen Filmstar Saleem Shaheen und schreibt über die Hindernisse junger Liebespaare auf dem Weg zur romantischen Erfüllung.

Khan besucht oft Orte, an denen das Schicksal der Stadt greifbar wird, zum Beispiel Kabuls einzigen christlichen Friedhof, auf dem ausländische Archäologen und Priester die Erde teilen mit gestrandeten Hippies, die auf dem Überlandtrail nach Indien ihr Leben am Hindukusch zurückließen. Khans literarischer Schreibstil fügt sich gut mit ihrer soliden Beobachtungsgabe und einem fundiert recherchiertem Geschichtswissen, besonders was die historischen Schnittpunkte zwischen Afghanistan und ihrer Heimat, dem indischen Subkontinent, anbetrifft.

Zum Beispiel besucht Khan das Grab Baburs und versucht die Stadt — so schwierig das heute auch sein mag — durch die Augen des Gründers der Mughal-Dynastie, die über mehr als drei Jahrhunderte indische Geschichte prägte, zu sehen. Als Navigationshilfe dient ihr dabei das kulturelle Gedächtnis ihres belesenen Großvaters in Aligarh, der Kabul zwar nie besucht hat, die Stadt jedoch in seiner Vorstellungskraft kennt, die sich aus dem gemeinsamen Kulturerbe der Region nährt.

[embed:render:embedded:node:14465]“Baba” schlägt ihr vor, doch den Dichter Abdul-Qadir Bedil aus dem 17. Jahrhundert in Kabul zu suchen. Denn dieser liegt zwar in Delhi begraben, wird aber heute viel mehr noch in Afghanistan verehrt. So kommt es, dass Khan sich in einem Kabuler Buchladen auf die Suche nach einem Gedichtband Bedils begibt, dessen Schrift groß genug sein muss für Babas allmählich schwächelnde Augen.

Gleichzeitig beschreibt Khan auch die boomende Expat-Welt, von der sie als indische Journalistin zwar ein Teil ist, die sie aber zurecht kritisiert. So schreibt sie etwa über die Mitarbeiter von NGOs, die im Wiederaufbau arbeiten: “Ironischerweise bekamen sie nur selten viel von dem Ort zu sehen, den wiederaufzubauen sie gekommen waren. Für viele von ihnen war Kabul einfach nur das verschwommene Bild der Straßen, das sie von ihren fahrenden Fahrzeugen aus erblickten, und ihnen wurde wie mir gesagt, sie sollten niemals zu Fuß laufen.”

Eine Stadt, mit der es beständig bergab ging

Khan besuchte Kabul ein letztes Mal 2013, im Jahr bevor die internationale Koalition ISAF offiziell ihre Kampfhandlungen in Afghanistan einstellte. Sie sah dabei eine Stadt, die sich verändert hatte und mit der es beständig bergab ging. Von der Goldrausch-Atmosphäre, die nach dem Fall der Taliban die Luft der Metropole erfüllt hatte, war wenig übrig geblieben. Mit dem Wiedererstarken der aufständischen Angriffe nahmen auch die Betonmauern, Stacheldrähte und Straßenbarrikaden im Stadtbild exponentiell zu.

“Shadow City” zeigt also auch Kabuls Entwicklungsphasen auf und verschweigt dabei nie seine dunkelsten Kapitel, zu denen besonders die Jahre des Bürgerkriegs in den Neunzigern gehören. Wenn es auch nicht im Mittelpunkt des Buches steht, so blendet Khan das Leid der Kabulis nicht aus. So schreibt Khan an einer Stelle: “Der Krieg kam nicht nach Kabul und er verließ es auch nicht. Er verebbte und floss, und die Menschen lernten, darauf zu achten wie er sich auf sie auswirkte.”

Und so ist Khans Darstellung ein wichtiger Beitrag jenseits der Blase der Krisenreporter, nachdenklich, neugierig und wohlreflektiert. Nicht zuletzt lässt sich “Shadow City” auch lesen als Loblied auf das Laufen an sich, das Laufen in Freiheit, mit offenen Augen und einem offenen Herzen.

Marian Brehmer

© Qantara.de 2020

Taran Khan: “Shadow City. A Woman Walks Kabul”, Chatto & Windus 2019, 304 Seiten, ISBN 978-1-7847-4228-7