"Nicht verrückt, nur verreist"

Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun begleitet seine alzheimerkranke Mutter durch ihre Biographie von der ersten kurzen Ehe bis zum Lebensabend, an dem sie das Bett nicht mehr zu verlassen vermag und sich selbst nicht mehr erkennt. Angela Schader hat das Buch gelesen.

Autor Tahar Ben Jelloun; Foto: AP
Eine der wichtigsten literarischen Stimmen des Maghreb und seit einiger Zeit Kandidat für den Literaturnobelpreis: Ben Jelloun

​​Tahar Ben Jellouns Aufzeichnungen über Krankheit und Sterben seiner Mutter hätten eigentlich alle Voraussetzungen, um eine grosse Leserschaft anzusprechen.

Ein universales Grundthema - den quälenden Verlust eines geliebten Menschen, dessen Präsenz in unserem Leben eine Selbstverständlichkeit war. Eine Gewissensfrage -diejenige nach dem Umgang mit der langjährigen und zunehmend schweren Krankheit eines Angehörigen.

Einen Gang durchs Labyrinth der Demenz, wo die Patientin - nach eigenem Bekunden "nicht verrückt, nur verreist" - Verstorbenen wiederbegegnet und die Stätten ihres früheren Lebens aufsucht.

Eine interkulturelle Dimension - Ben Jellouns Mutter ist eine tief gläubige Muslimin ohne jede Schulbildung, deren Schicksal der Autor immer wieder an demjenigen der über neunzigjährigen, eigenwilligen und hochkultivierten Mutter seines Schweizer Freundes misst.

Und letztlich trägt das Buch den Namen eines Autors, der als eine der wichtigsten literarischen Stimmen des Maghreb und seit einiger Zeit auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis gilt.

Hinter Glas

Trotzdem stellt sich bei der Lektüre immer wieder leises Unbehagen ein, das aus unterschiedlichen Quellen rührt. Am schwersten festzumachen ist es dort, wo es um die Kompatibilität von Figur und Sprache geht.

In den zahlreichen und langen Passagen, die der Mutter in direkter Rede zugeschrieben sind, glaubt man doch öfters, die Stimme des Schriftstellers herauszuhören - nicht etwa, weil man an den sprachlichen Mitteln einer des Lesens Unkundigen zweifeln möchte, was ein so arger wie arroganter Trugschluss wäre; sondern weil die Tonlage auch kaum wechselt, wenn Keltoum, die aus einfachsten Verhältnissen stammende Pflegerin der Mutter, oder die hochbetagte Dame in Lausanne zu Wort kommen.

Diese gleichmässige Sprachoberfläche droht sich wie klares, aber doch kühles und dickes Glas zwischen den Leser und die Figuren zu schieben.

Damit könnte man sich abfinden; denn hinter der Scheibe spielt sich allemal genug Interessantes und Berührendes ab. Bildkräftig und unsentimental zeichnet Ben Jelloun die Tragödie der heranwachsenden Lalla Fatma nach, die noch vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag dreimal verheiratet wird.

Sidi Mohammed, schön und jung wie sie selbst, stirbt an Typhus, noch bevor er sein und Fatmas erstgeborenes Kind gesehen hat. Der zweite Gatte steht in fortgeschrittenen Jahren, und Fatma hat auch die Sorge für seine bettlägerige erste Frau zu übernehmen, die ihr Schicksal mit nobler Ergebenheit trägt.

​​Nach dem Tod des Ehepaars will ein weiterer Anwärter - Tahar Ben Jellouns künftiger Vater - seine kinderlos gebliebene Gattin verstossen, sobald Fatma von ihm schwanger wird.

Dieses unschöne Vorspiel setzt auch den Leitton für die weitere Ehe: Der Mann lässt es zwar, obwohl ihm beruflich wenig Glück beschieden ist, der Familie an nichts fehlen, aber seine geschliffene Ironie ist der jungen Frau zutiefst fremd und ätzt sich bitter in ihr argloses, sorgsam auf die Wahrung von Gesicht und Anstand bedachtes Wesen.

Als junge Braut musste Lalla Fatma der Schwiegerfamilie durch die Zubereitung eines besonders komplizierten Gerichtes ihre Ehetauglichkeit beweisen; als Hausfrau und Mutter wird sie tagelang in der Küche stehen, um Gäste zu bewirten - ihre Freude besteht darin, die Platten leer zurückkommen zu sehen, während sie selbst sich ein Stück Brot und ein paar Oliven in den Mund schiebt.

Und noch im Angesicht des Todes ist sie auf Form bedacht, drängt den Sohn, den Salon neu auszustaffieren und beim Leichenmahl nicht zu geizen: "Tut alles", mahnt sie, "damit ich in der Tiefe meines Grabes nicht erröten muss."

Die Familie ist nicht am Bett der Mutter

Zeitlebens hat Lalla Fatma kein Lob für ihre Kochkünste bekommen. Gefühlsbekundungen, schreibt Ben Jelloun, seien in ihrer Kultur nicht Sitte gewesen; dennoch setzt er insbesondere das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in scharfen Kontrast zu den Zuständen, die der seit langem in Frankreich lebende Schriftsteller in Europa kennengelernt hat.

So ernst seine Kritik am hiesigen Umgang mit betagten Menschen zu nehmen wäre - bis zu einem gewissen Grad entzieht ihr der Schriftsteller selbst die Glaubwürdigkeit.

Denn auch in seiner Familie liegt die Sorge für die Kranke in den Händen zweier Hausdienerinnen, die rund um die Uhr zur Verfügung stehen und im Buch obendrein immer wieder die Breitseiten des Autors über sich ergehen lassen müssen. "Grob", "abgestumpft", "habgierig" ist der Tenor, wenn es um die beiden Angestellten geht.

Aber weder Ben Jelloun noch seine Brüder übernehmen die Dauerpräsenz am Bett der Mutter, die in ihrer Verwirrung Tag und Nacht, Vergangenheit und Gegenwart zunehmend durcheinanderbringt; weder die Frau des Schriftstellers noch seine Schwester müssen sich mit abgerissenen Windeln, verschmutzten Laken und Kleidern, nächtlichen Krisensituationen herumschlagen.

Kritik mit falschen Tönen

Daraus ergeben sich falsche Noten und ein Unterton von Selbstgerechtigkeit, der auch anderswo aufklingt - etwa wenn Ben Jelloun uns an den Lobeshymnen der Mutter über ihn, den Lieblingssohn, teilhaben lässt oder wenn er den Schweizer Freund zunehmend als unvorteilhaftes Gegenbild seiner selbst vorführt.

Lieber als auf solche Peinlichkeiten hätte man das Urteil über das Buch einzig auf seine literarischen Qualitäten abgestellt: auf schneidende Einblicke in die Befindlichkeit der Kranken, wie den Moment, da sie sich selbst nicht mehr erkennt und im gesprungenen Spiegel stattdessen Grossmutter und Mutter zu sehen meint; oder auf Passagen wie die folgende, die - von Christiane Kayser grossartig übertragen - in einem einzigen Satz die Qual der Alzheimerkrankheit kondensiert:

"An jenes Scheitern denken und an jene Abwesenheiten, wenn die Zeit sich anödet und zerbröckelt, sein eigenes zersetztes Bild in einem zerlöcherten Spiegel betrachten, nach Spuren von Glück in sich selbst fahnden, in der Hoffnung, die Seelenrisse zu kitten und die Worte vor dieser Ratlosigkeit zu retten, die weh tut."

Angela Schader

© Neue Zürcher Zeitung 2008

Tahar Ben Jelloun: Yemma - Meine Mutter, mein Kind. Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Berlin-Verlag, Berlin 2007. 250 S.

Qantara.de

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