Der Zivilgesellschaft eine Stimme verleihen

Syrer im Exil sollten sich ernsthaft mit drängenden Themen auseinandersetzen, die weit über die viel diskutierte "Integrationsfrage" hinausgehen, schreibt der syrische Autor Tarek Azizeh. Wichtig sei es, sich zu organisieren und am öffentlichen Leben in Deutschland teilzuhaben.

Von Tarek Azizeh

Deutschland hat einen Großteil der rund eine Million Geflüchteten aufgenommen, die in den letzten Jahren das Mittelmeer in Richtung Europa überquert haben. Die Angaben und Schätzungen zur Zahl der in Deutschland lebenden Syrer schwanken naturgemäß und sind wohl manchmal auch ein bisschen zu hoch angesetzt.

Allerdings, verschiedenste Quellen zeigen eindeutig, dass die Syrerinnen in absoluten Zahlen derzeit die größte Gruppe der Geflüchteten und Asylantragstellerinnen in Deutschland stellen.

Ich glaube, man kann mit einiger Sicherheit sagen, dass unser Aufenthalt hier nicht von kurzer Dauer sein wird. Viele Syrer arbeiten hart daran, die Sprachbarriere zu überwinden, und wer es wirklich will, kann es auch schaffen. Und denjenigen, die die Sprachbarriere überwunden haben, bieten sich Chancen auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere wenn sie wissenschaftliche oder berufliche Qualifikationen mitbringen. Tatsächlich gibt es viele, die bereits auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen konnten!

Ausbildung und Arbeit als wichtigstes Ziel

Arbeit zu finden, bedeutet sich von der staatlichen Unterstützung lösen zu können und selbständig für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Mittelfristig birgt das realistische Chancen auf ein Leben in stabilen Verhältnissen. Darüber hinaus bringt es die Möglichkeit mit sich, die Aufenthaltsgenehmigung im Rahmen der geltenden Gesetze nicht auf Basis der ursprünglichen humanitären Gründe, sondern auf Grundlage eines Arbeitsverhältnisses zu erneuern.

Denn es ist anzunehmen, dass es, wenn dieser humanitäre Grund nicht mehr vorliegt, vielen Syrern nicht möglich sein wird, eine neue Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, ohne bestimmte Bedingungen zu erfüllen. An erster Stelle heißt das: die Sprache beherrschen, einer Arbeit nachgehen und seinen Lebensunterhalt selber bestreiten.

Aber auch diejenigen, die nicht so gut ausgebildet oder qualifiziert sind, werden wohl nicht so bald, freiwillig oder unfreiwillig, nach Syrien zurückkehren. Denn trotz der viel zitierten internationalen Anstrengungen, eine politische Lösung zu finden, deutet nichts darauf hin, dass ein Ansatz zur Beendigung dieser humanitären Katastrophe in Reichweite wäre.

Auch sie werden also auf unabsehbare Zeit in Deutschland bleiben, allerdings sollten sie nicht einfach weitermachen wie gehabt und sich darauf verlassen, dass ihnen aufgrund des Konflikts in Syrien weiterhin Asyl gewährt wird. Das wird deutlich am Beispiel der tausenden Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien, dem Irak und anderen Ländern, die abgeschoben wurden, nachdem die Gründe für das Asyl nicht mehr gegeben waren.

Das Vorangegangene macht deutlich, dass es mittlerweile eine relativ große "syrische Gemeinde" in Deutschland gibt, ja vielleicht entsteht sogar gerade eine "syrische Gesellschaft" hier (und in anderen Aufnahmeländern).

Gemeinsame Anliegen verteidigen

Für uns als Syrer im Exil bedeutet dies, dass wir uns ernsthaft mit einer Vielzahl von drängenden Fragen auseinandersetzen müssen, die weit über die viel diskutierte "Integrationsfrage" hinausgehen. Das heißt, wir müssen uns nach Möglichkeiten umsehen, uns zu organisieren, um unsere Lebensbedingungen zu verbessern und die mit unserem neuen Leben einhergehenden Herausforderungen zu meistern. Denn wir als Gruppe, die faktisch zu einem Teil der Bevölkerung dieses Landes geworden ist, sind mehr oder weniger mit den gleichen Schwierigkeiten und Hürden konfrontiert. Insofern haben wir gemeinsame Anliegen, die wir vorantreiben und verteidigen sollten.

Die Notwendigkeit, sich zu organisieren, wird angesichts der Rolle, die das diplomatische Corps des syrischen Staates spielt noch deutlicher: Statt sich um die Belange seiner Bürger zu kümmern, wie es seine Aufgabe wäre, repräsentiert es das autoritäre Regime als dessen verlängerter Arm, schützt seine Interessen und versucht sein Image aufzupolieren.

Nicht zu vergessen, dass es seit Jahrzehnten im Rahmen seines "Sicherheitsauftrags" eine schmutzige Mission erfüllt, indem es die Syrer im Ausland und insbesondere die Oppositionellen unter ihnen auf Schritt und Tritt überwacht. Und auf Grundlage der Berichte aus den Botschaften wurde eine Vielzahl von Syrer, die sich zum Arbeiten oder Studieren im Ausland aufhielten, bei ihrer Rückkehr von den Geheimdiensten festgenommen!

Kein gesellschaftlicher Rückzug

Natürlich bedeutet "sich zu organisieren" nicht, dass man sich in homogene Viertel ("Ghettos") zurückzieht. Es bedeutet auch nicht, dass man sich von der Gesellschaft abkapselt, sei es unter dem Banner der "kulturellen Eigenheit", oder dem Verweis auf die Unzulänglichkeiten der Integrationspolitik oder gar ihr Scheitern. In diesem Zusammenhang muss auch vor bestimmten Akteuren gewarnt werden, deren zweifelhafte Rolle darin besteht, die Neuankömmlinge in die Irre zu führen, indem sie ihre religiösen Gefühle ausnutzen und sie so letztlich ins Verderben stürzen.

Was wir brauchen sind Vereine, Vereinigungen und Zusammenschlüsse auf ehrenamtlicher Basis, in denen sich die Syrer organisieren können, damit sie ihnen als Organisationen der Zivilgesellschaft eine Stimme verleihen und sich für ihre Anliegen einsetzen. Diese Möglichkeit gab es in Syrien während Jahrzehnten der autoritären Herrschaft nicht. Den Syrern blieben während dieser Zeit alle Formen der Versammlung, Organisation und freien Äußerung ihrer Anliegen verwehrt.

Jetzt allerdings bietet sich ihnen dank der demokratischen Freiheiten in Deutschland die großartige Chance, diese Erfahrungen zu machen. Sich vorerst selbst zu organisieren, ersetzt aber selbstverständlich nicht zukünftiges Engagement in "deutschen" Vereinen, Vereinigungen und Gewerkschaften sowie die aktive Beteiligung an der Zivilgesellschaft und ihren Institutionen.

Auch wenn die geflüchteten Syrer grundsätzlich aus einer unerwarteten Notlage heraus gekommen sind, bringt es ihnen nichts, wenn sie ihr Leben im Aufnahmeland so leben, als sei es nur ein vorübergehender Zustand. Besser wäre es, wie ein "Migrant" zu denken, der gekommen ist, um zu bleiben, nicht wie ein "Geflüchteter" auf der Durchreise.

Bleibt abschließend noch zu sagen: Lasst uns für unser Land leben, als würden wir morgen zurückkehren und für unser neues Heim, als würden wir für immer bleiben.

Tarek Azizeh

© Qantara.de 2017

Übersetzung: Thomas Heyne

Tarek Azizeh ist ein syrischer Autor, er arbeitet für die Zeitung "Abwab".