Spielball im Wahlkampf

Vor den Kommunalwahlen in der Türkei versuchen Regierung und Opposition, die syrischen Flüchtlinge für ihre Zwecke einzuspannen. Experten warnen vor einer Rhetorik der Spaltung. Aus Ankara informiert Hilal Köylü.

Von Hilal Köylü

Die Türkei hat mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen als jeder andere Staat. Seit Beginn des Syrienkrieges 2011 sind über 3,6 Millionen Syrer aus dem Nachbarland gekommen. Viele von ihnen sind so lange im Land, dass sie die türkische Staatsbürgerschaft beantragen können. All diese Menschen brauchen nicht nur Unterstützung, Unterkunft und Arbeit. Sie sind auch seit Jahren ein beliebtes Wahlkampfthema. Die Kommunalwahlen am 31. März machen da keine Ausnahme.

Für Zündstoff zwischen Regierung und Opposition sorgte jüngst eine Erklärung des Innenministers Süleyman Soylu. Er hatte erklärt, in der Türkei lebten fast 80.000 syrisch-stämmige Staatsbürger, rund 53.000 von ihnen seien wahlberechtigt und würden bei den Kommunalwahlen ihre Stimme abgeben. Obgleich die syrisch-stämmigen Türken gerade 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, fühlte Soylu sich dennoch genötigt, möglichen rassistischen Einwänden den Wind aus den Segeln zu nehmen: "Nicht jeder Syrer, den Sie auf der Straße sehen, wird wählen dürfen."

Solche Vorbehalte gibt es auch in den Reihen der Opposition. Lütfü Savaş von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) und Bürgermeister von Hatay nahe der syrischen Grenze, beschwerte sich auf Twitter, in seiner Heimatstadt lebten immer mehr Syrer. In zehn Jahren könnten sie sogar den Bürgermeister stellen.

Die Regierung beschuldigt Savaş daraufhin, Hass zu schüren, und ließ Ermittlungen gegen ihn einleiten. Savaş behauptet jedoch weiterhin, die AKP stelle Scheinwahllisten auf und biete syrischen Flüchtlingen nur deshalb eine Perspektive in der Türkei, um ihren Stimmenanteil bei den Wahlen zu vermehren.

Meinungsbildung in sozialen Medien

Sowohl die Aussagen der Regierung als auch die der Opposition seien gefährlich, meint Murat Erdoğan vom Migrations- und Integrationsforschungszentrum an der Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul. Ein Problem sei, dass die Regierung nie eine klare Haltung gegenüber den syrischen Flüchtlingen kommuniziert habe, sondern ihre populistischen Aussagen immer wieder ändere und ihren politischen Zielen anpasse.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ; Foto: Reuters
Wichtiges Stimmungsbarometer für Recep Tayyip Erdoğan: Ein Sieg bei der landesweiten Kommunalwahl ist nach den Präsidenten- und Parlamentswahlen im Juni und den vergangenen wirtschaftlichen Turbulenzen ein erklärtes Ziel des türkischen Staatschefs und seiner AKP. In der Hauptstadt Ankara und in Istanbul stellt Erdoğans islamisch-konservative AKP jeweils seit über zehn Jahren den Bürgermeister. Eine Niederlage für die AKP in diesen Städten wäre ein Gesichtsverlust für Erdoğan.

Zu Beginn habe die AKP den Flüchtlingen erklärt: "Ihr seid unsere Gäste, wir haben unsere Türen für Euch geöffnet." Als jedoch der Krieg in Syrien immer länger dauerte und sich immer mehr Türken an den Schutzsuchenden störten, versuchte die AKP die Bevölkerung zu besänftigen, indem sie beteuerte: "Die Flüchtlinge bleiben ja nicht ewig hier. Sie werden nach Hause zurückkehren."

Als Beweis veröffentlichte die Regierung Zahlen von Rückkehrern. Doch diese Zahlen hätten die meisten Menschen nicht beeindruckt und auch die noch in der Türkei ausharrenden Syrer nicht bewogen, das Land zu verlassen, so Murat Erdoğan. Zwar hätten die jüngsten Untersuchungen ergeben, dass die syrischen Flüchtlinge sich zunehmend unsicherer in der Türkei fühlten. "Aber sie möchten nicht zurückkehren, sondern viel lieber in Frieden mit der türkischen Bevölkerung leben."

"Dazu kommt, dass die Medien vereinheitlicht wurden", so Murat Erdoğan. Regierungskritische Stimmen gebe es kaum noch, und als Alternative blieben nur die sozialen Medien. "Und da gibt es nur Tratsch und Sensationsmeldungen."

Regierung und Opposition spielen das gleiche Spiel

Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken förderten auch viele Oppositionspolitiker, sagt Murat Erdoğan. Einige Beispiele: "Die Syrer haben uns erobert, ohne uns zu bekämpfen." - "Tatsache ist: Mein schönes Kilis ist zu einem Paradies für Diebe verkommen." - "Mittlerweile gibt es in Reyhanlı so viele Syrer wie Einwohner." Das sind Tweets von Abgeordneten der nationalistischen Guten Partei (Iyi-Parti).

"Die Opposition nutzt die Stimmung aus, die in Teilen der der Gesellschaft vorherrscht. Sie geht mit typisch rechtsorientierten Slogans auf Stimmenfang. Aber das ist der falsche Weg, um die Politik der Regierung zu kritisieren. Sowohl Regierung als auch Opposition spalten die Gesellschaft", sagt Erdoğan und fragt, warum syrischstämmige Türken in der Türkei nicht Bürgermeister sein sollten - so wie türkischstämmige Deutsche in Deutschland oder den Niederlanden.

Positiv findet der Migrationsforscher, dass die Hasstiraden der Politik bislang noch nicht auf das Volk übergeschwappt seien. "Denn Syrer haben in der Türkei immer wenig Gewaltstraftaten verübt. Zwar nimmt in der Türkei die Arbeitslosigkeit zu, aber daran haben die Syrer keine Schuld. Die Menschen begnügen sich damit, den Syrern zu sagen: Jetzt geht endlich. Aber das ist dann auch schon alles."

Instrumentalisierte Syrer

Cavidan Soykan ist eine der Akademikerinnen, die durch die Notstandsdekrete ihre Arbeit verloren haben. Die ehemalige Wissenschaftlerin der Universität Ankara bringt ihre Forschung zum Thema Migration nun in Berichte internationaler NGOs ein. Die Haltung der Politik gegenüber Flüchtlingen spiegle sich eins zu eins in den Medien wider, erklärt Soykan.

Lange schon würden die Syrer nicht mehr als "Gäste und Brüder" bezeichnet. Heute spreche man von ihnen als "Flüchtlingen und ungewollten Fremden, die die Rechte der Bevölkerung missbrauchen", so Soykan. "Sowohl die Regierung als auch die Opposition instrumentalisieren die Syrer für die Innen- und Außenpolitik." 

Niemand verteidige die Rechte der Flüchtlinge, beklagt die Wissenschaftlerin. "Die Opposition bringt sich rhetorisch gegen die Regierung in Stellung - aber sie versäumt dabei völlig, sich mit der realen Situation der Syrer und ihre Integration in die Gesellschaft zu fördern."

Hilal Köylü

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