"Nur Gott kann uns helfen"

Im libanesischen Winter kämpfen viele syrische Flüchtlinge gegen Kälte und Hunger. Der Staat möchte sie loswerden und der Hass der Bevölkerung wächst. Eine Reportage aus der Stadt Arsal im Nordlibanon von Andrea Backhaus

Von Andrea Backhaus

An manchen Tagen läuft es für Ahmeds Freunde nicht gut. Dann verdienen sie umgerechnet wenige Cents. Manchmal aber kriegen sie umgerechnet fast einen Euro. Das motiviert sie. Ahmed ist zehn Jahre alt und muss sich gerade von einer Operation erholen. Aber sobald es ihm besser geht, wird er wohl wieder mit den Jungs und Mädchen aus dem Hasan-Dabli-Lager losziehen, einem von 145 Flüchtlingslagern in Arsal, einer Kleinstadt im Norden des Libanon. Ahmed kennt es nicht anders.

Vor der Corona-Pandemie ging er vormittags zur Schule, nachmittags sammelte er Müll. Nun, da die Schule wegen des Lockdown geschlossen ist, hat er den ganzen Tag Zeit zum Müllsammeln. Dafür klettern Ahmed und seine Freunde auf die Hügel hinter den Zelten, stapfen durch das Geröll und durchsuchen die Abfälle nach Flaschen und Schuhen aus Plastik. Das können sie an die Leute der Recyclingfirma verkaufen.

Sie sei nicht glücklich darüber, dass ihr Junge arbeiten müsse, sagt Amal al-Nasir, Ahmeds Mutter. Sie sitzt auf einem Holzstuhl auf dem Schotterplatz, um den herum die Zelte errichtet wurden. "Aber er ist mein ältester Sohn, wir haben keine Wahl." Al-Nasir ist 27 Jahre alt und 2013 aus Kussair geflohen, einer Stadt im Westen Syriens, nahe der libanesischen Grenze. Zu der Zeit gab es dort heftige Kämpfe, ihr Mann starb bei einem Luftangriff. Sie war schwanger, als sie mit Ahmed und ihrer Tochter floh, heute lebt sie mit den drei Kindern in dem Lager. Viele der Frauen dort haben ihre Männer verloren. Für sie, sagt Al-Nasir, sei das Leben besonders hart.

Der Winter in Arsal ist unerbittlich

Im Libanon sind gemessen an der Bevölkerung weltweit die meisten syrischen Geflüchteten untergekommen. Laut Regierung etwa 1,5 Millionen in einem Land mit knapp vier Millionen Einwohnerinnen. In Arsal wurden 2013 provisorische Lager für die Geflüchteten errichtet, der Ort beherbergt bei rund 30.000 Einwohnern heute um die 60.000 Syrerinnen und Syrer. Arsal geriet im Laufe des Syrienkriegs oft zwischen die Fronten.

Amal al-Nasir im Hasan-Dabli-Lager. Foto: Andrea Backhaus
Sie sei nicht glücklich darüber, dass ihr Junge arbeiten müsse, sagt Amal al-Nasir, Ahmeds Mutter. "Aber er ist mein ältester Sohn, wir haben keine Wahl." Al-Nasir ist 27 Jahre alt und 2013 aus Kussair geflohen, einer Stadt im Westen Syriens, nahe der libanesischen Grenze. Zu der Zeit gab es dort heftige Kämpfe, ihr Mann starb bei einem Luftangriff. Sie war schwanger, als sie mit Ahmed und ihrer Tochter floh, heute lebt sie mit den drei Kindern in dem Lager.

Syrische Kampfflugzeuge beschossen den Ort, in dem überwiegend sunnitische Muslime leben, weil sich dort Anhänger islamistischer Gruppen verschanzt hatten. Im August 2014 nahmen Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) Arsal ein. Nach heftigen Kämpfen verkündete die libanesische Armee im August 2017, Arsal sei vom IS befreit.

Die bewaffneten Auseinandersetzungen sind zwar vorbei, aber heute herrscht in Arsal ein anderer Kampf, der Kampf ums Überleben. Arsal liegt auf rund 1.000 Metern Höhe, die Berge trennen den Libanon und Syrien, zur Grenze sind es wenige Kilometer. Der Ort besteht aus kleinen Steinhäusern auf kargen Hügeln, dahinter thronen schneeüberzogene Bergspitzen. Der libanesische Winter ist nirgends so unerbittlich wie hier in der Bekaa-Ebene. Nachts fallen die Temperaturen schon mal auf zehn Grad unter null. 

Die Zelte in den Lagern sind nicht für Kälte und Schnee gemacht. Früher hatten sich viele der Geflüchteten stabilere Behausungen aus Hohlblocksteinen gebaut. Doch 2019 haben die Behörden sie angewiesen, die gemauerten Unterkünfte bis auf einen Meter Höhe abzureißen, für die Abdeckung dürfen sie seither nur Holz oder Planen verwenden. In Syrien hätten sie gut gelebt, sagt Al-Nasir. Ihrem Mann, einem Bauern, hätte Land gehört. Nun leben sie zu viert in einem kärglichen Raum: ein paar Matratzen auf steinigem Boden, in der Mitte ein Ofen, an einer Wand ein Regal, daran kleben Zeichnungen ihrer Kinder. "Erst habe ich in einem großen Haus gewohnt, dann in einer Hütte, jetzt in einem Zelt", sagt Al-Nasir.Die Ersparnisse sind nahezu aufgebraucht

Ihre Ersparnisse aus Syrien seien nahezu aufgebraucht, sagt sie. Was sie noch an Nahrungsmitteln habe, etwas Reis, Brot, Bulgur, habe sie von der letzten Hilfslieferung aufgespart, es könne Monate dauern, bis sie wieder ein Essenspaket erhält. Gemüse, Obst und Fleisch hätten sie seit fast einem Jahr nicht gegessen. Das Schlimmste sei, wenn ihre Kinder sie fragten, ob sie Kekse oder etwas Schokolade haben könnten. "Dann muss ich ihnen sagen, dass das nicht geht. Aber ein Kind versteht das nicht." Der Tod ihres Mannes, die Flucht, die Armut, das alles habe sie kaputtgemacht, sagt Al-Nasir leise. Sie leide unter Depressionen und Angstzuständen, sie fürchte sich vor der Zukunft.

So geht es auch Khadija al-Said, deren Zelt wenige Meter von Al-Nasirs entfernt steht. Al-Said ist seit 2012 in Arsal. Ihr Mann, sagt sie, sei mit ihr in den Libanon geflohen, dann aber zurück nach Syrien gegangen, er habe sie mit den vier Kindern alleingelassen. Ihr ältester Sohn sammle mit Ahmed Müll, sie selbst könne nicht arbeiten. "Das Essen ist so teuer geworden", sagt sie, "wir können uns noch weniger leisten als früher." Wegen der mangelhaften Ernährung sei ihr Körper schwach. Sie wisse nicht, wie es weitergehen soll. "Nur Gott kann uns helfen."

Ein Flüchtlingslager in Arsal. Foto: Andrea Backhaus
Im Libanon sind gemessen an der Bevölkerung weltweit die meisten syrischen Geflüchteten untergekommen. Laut Regierung etwa 1,5 Millionen, in einem Land mit knapp vier Millionen Einwohnerinnen. In Arsal wurden 2013 provisorische Lager für die Geflüchteten errichtet, der Ort beherbergt bei rund 30.000 Einwohnern heute um die 60.000 Syrerinnen und Syrer. Arsal geriet im Laufe des Syrien-Kriegs oft zwischen die Fronten.

Schwierig war es für die Syrer im Libanon schon immer. Offizielle Flüchtlingslager gibt es nicht, weil die libanesische Regierung verhindern möchte, dass die Syrerinnen und Syrer bleiben. So wie die Palästinenser, die seit 1948 in den Libanon kommen und deren Lager im Laufe der Zeit zu Stadtvierteln heranwuchsen. Die Syrer sind deshalb zumeist auf sich allein gestellt. Viele haben sich in leerstehenden Häusern oder Baracken einquartiert, weil sie sich keine Wohnung leisten können. Sie können nur in bestimmten Branchen arbeiten, auf dem Bau, als Reinigungskraft und in der Landwirtschaft, etwa auf den Feldern in der Bekaa-Ebene, dem wichtigsten Anbaugebiet des Landes. Sie arbeiten meist illegal und zu Dumpinglöhnen, ohne Rechte und in ständiger Furcht, verhaftet zu werden, denn die meisten haben keine Aufenthaltserlaubnis.

Der Libanon ist dem Zusammenbruch nahe

Doch ihre Lage hat sich in den vergangenen Monaten drastisch verschlimmert, denn der Libanon ist dem Zusammenbruch nahe. Das Land erlebt eine katastrophale Finanz- und Wirtschaftskrise, der Staat ist pleite, viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. Durch die Hyperinflation sind die Preise für Nahrungsmittel und andere Produkte um ein Vielfaches gestiegen. Viele Libanesinnen und Libanesen sind verarmt und können sich selbst Brot oder Babynahrung nicht mehr leisten. Schuld ist die inkompetente und korrupte Führungselite, die jahrzehntelang das Staatsvermögen plünderte. Im August explodierte illegal gelagerter Sprengstoff im Hafen Beiruts, rund 200 Menschen starben, Tausende wurden verletzt, Hunderttausende obdachlos.

Die Corona-Pandemie setzt dem Land zusätzlich zu. Die Infektionszahlen sind enorm gestiegen, das marode Gesundheitssystem droht zu kollabieren. Wie verzweifelt die Menschen sind, zeigen sie im Moment deutlich. Um die Infektionszahlen zu senken, hat die Regierung im Januar einen harten Lockdown verhängt: Alle Läden wurden geschlossen, eine ganztägige Ausgangssperre verhängt, Supermärkte auf den Lieferservice begrenzt. Gerade für die Ärmeren, die sich sonst als Tagelöhner durchschlagen, kaum zu bewältigen – die Regierung ließ nicht mal ihnen Unterstützung zukommen. Aus Frust protestierten hunderte Menschen zuletzt immer wieder, vor allem in Tripoli, einer der ärmsten Städte des Landes.

Abu Ali ist der Shawish, der Manager des Hasan-Dabli-Lagers. Foto: Andrea Backhaus
"Für die Geflüchteten sei es jetzt viel schwieriger als noch vor ein paar Jahren," sagt Abu Ali, der Shawish, der Manager des Hasan-Dabli-Lagers. Er ist 2012 aus Syrien geflohen. Die Menschen in seinem Lager hätten nicht die Mittel, um Lebensmittel oder andere Dinge in den Läden zu kaufen, und ihre Vorräte würden nicht mehr lange reichen. Die Pandemie setze ihnen auch zu, aber nicht so wie die Furcht vor Hunger.





"Für die Geflüchteten gibt es im Libanon keine Perspektive"



Unter der angespannten Lage leiden auch die Syrerinnen und Syrer. Lebensmittel wie Zucker oder Öl sind für viele unbezahlbar geworden, eine Arbeit zu finden ist in der Pandemie noch schwieriger als sonst. Laut den Vereinten Nationen leben fast 90 Prozent der syrischen Geflüchteten im Libanon in extremer Armut.

Für die Geflüchteten sei es jetzt viel schwieriger als noch vor ein paar Jahren, sagt Abu Ali, der Shawish, der Manager des Hasan-Dabli-Lagers. Er ist 2012 aus Syrien geflohen. Die Menschen in seinem Lager hätten nicht das Geld, um Lebensmittel oder andere Dinge in den Läden zu kaufen, und ihre Vorräte würden nicht mehr lange reichen. Die Pandemie setze ihnen auch zu, aber nicht so wie die Furcht vor Hunger. In Arsal gibt es wenige offizielle Corona-Fälle, wie verbreitet das Virus in den Lagern ist, ist schwer zu sagen. Es wird kaum getestet. Die Geflüchteten haben von Helfern Schutzmasken erhalten, doch kaum jemand trägt sie. Die Regierung hat angekündigt, alle Menschen im Libanon gegen das Coronavirus zu impfen, unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus. Wann die Geflüchteten den Impfstoff erhalten, ist unklar, vielen hier ist das auch nicht so wichtig. Sie sagen, sie hätten größere Probleme als Corona.

Vor allem die Frauen, die sich und ihre Kinder allein durchbringen müssen. So wie die 50-jährige Halima al-Fadi, die mit anderen Witwen in einem Camp ein paar Kilometer von Abu Alis Lager entfernt lebt. Al-Fadi hat ihren Mann im Syrien-Krieg verloren, sie kam 2013 mit drei Töchtern nach Arsal. Ihr Geld war nach wenigen Jahren im Lager fast aufgebraucht, sie wusste nicht, wie sie die Mädchen versorgen sollte. Also hat sie zwei der drei Töchter verheiratet, da waren sie 14 und 16 Jahre alt. Sie leben heute mit syrischen Männern in einem anderen Lager. "Ich wollte das nicht", sagt Al-Fadi. "Aber was sollte ich tun?" Al-Fadi hat zuletzt für Libanesen im Ort geputzt. Sie sagt, sie habe immer weniger Lohn erhalten, am Ende nur noch umgerechnet rund 40 Euro im Monat. Sie habe gekündigt und suche nun nach einer neuen Arbeit. Auch für ihre dritte Tochter, die elf Jahre alt ist. "Ich möchte sie nicht auch noch weggeben müssen."

Frauen im Witwenlager in Arsal; Foto: Andrea Backhaus
Frauen sind die Hauptleidtragenden des Krieges: So wie die 50-jährige Halima al-Fadi, die mit anderen Witwen in einem Camp ein paar Kilometer vom Hasan-Dabli-Lager entfernt lebt. Al-Fadil hat ihren Mann im Syrien-Krieg verloren, sie kam 2013 mit drei Töchtern nach Arsal. Ihr Geld war nach wenigen Jahren im Lager fast aufgebraucht und sie wusste nicht mehr, wie sie die Mädchen versorgen sollte. Also hat sie zwei der drei Töchter verheiratet, da waren sie 14 und 16 Jahre alt. Sie leben heute mit ihren syrischen Ehemännern in einem anderen Lager. "Ich wollte das nicht", sagt Al-Fadi. "Aber was sollte ich tun?"

Die Hilfsorganisationen können den Bedarf nicht decken

Im Libanon kümmern sich ausschließlich lokale und internationale Hilfsorganisationen um die Geflüchteten. Doch sie erhalten immer weniger Mittel. Das UNHCR etwa brauchte für seine Programme im Libanon vergangenes Jahr knapp 600 Millionen US-Dollar, im Herbst war davon nicht mal die Hälfte gedeckt. Für die Geflüchteten bleibt da nur wenig.

Die Hilfslieferungen könnten den Bedarf in den Lagern bei Weitem nicht mehr decken, sagt Nabil Khallouf. Der 35-Jährige sitzt auf einer Holzbank vor seinem Haus in Arsal. Er sagt: "Für die Geflüchteten gibt es im Libanon keine Perspektive." Khallouf arbeitet für die schottische Hilfsorganisation Edinburgh Direct Aid, die sich im Libanon vor allem um Ausbildungsprogramme für Syrerinnen und Syrer kümmert.

Khallouf ist selbst aus Syrien geflohen, er lebt mit Frau und Kindern auf dem Gelände seiner Organisation, das Büro ist gegenüber vom Wohnhaus. Daneben steht eine kleine Schreinerei, in der syrische und libanesische Jugendliche zusammen Stühle und Regale tischlern. Khalloufs Organisation bietet die Workshops mit den deutschen Grünhelmen an.

Khallouf sagt, nur wenige syrische Kinder gingen in die Schule, die Jugendlichen könnten weder eine Ausbildung machen noch studieren. Seine Organisation versucht, ihnen Optionen anzubieten, sie habe in Arsal etwa eine Schule für syrische Kinder gebaut. Doch die Behörden, sagt Khallouf, erließen immer neue Regularien, die die Hilfe erschwerten. Vergangenes Jahr hätten sie plötzlich verlangt, die Schule müsse registriert werden. Weil sie keine Registrierung erhielten, mussten sie die Schule schließen.

Nabil Khallouf von der Hilfsorganisation Edinburgh Direct Aid; Foto: Andrea Backhaus
„Für die Geflüchteten gibt es im Libanon keine Perspektive": Nabil Khallouf will im Auftrag der Organisation Edinburgh Direct Aid syrischen Kindern und Jugendlichen Optionen anbieten. So wurde etwa in Arsal eine Schule für syrische Kinder gebaut. Doch die Behörden, sagt Khallouf, erließen immer neue Regularien, die die Hilfe erschwerten. Vergangenes Jahr hätten sie plötzlich verlangt, die Schule müsse registriert werden. Weil sie aber keine Registrierung erhielte, mussten sie die Schule schließen.

Die Wut auf die Syrer wächst

Einige hier sagen, weil die Libanesinnen und Libanesen selbst kaum noch Einkünfte hätten, seien sie noch weniger bereit, den Syrern zu helfen. Doch nicht nur das: Viele Libanesen machen die Syrerinnen und Syrer für die desolate Lage im Land verantwortlich. Immer häufiger kommt es zu Übergriffen. Im November zündeten Bewohner in der Ortschaft Bischarri im Norden Flüchtlingsunterkünfte an und attackierten Geflüchtete, nachdem bekannt geworden war, dass ein Syrer einen libanesischen Bewohner bei einem Streit getötet haben soll. Hunderte Geflüchtete in der Region flohen aus Angst vor weiteren Racheakten. Ende Dezember eskalierte in Al-Minieh ein Streit zwischen einer libanesischen Familie und syrischen Arbeitern, als einige Bewohner ein Flüchtlingslager in Brand steckten und hunderte Geflüchtete vertrieben. 

Libanons Regierung schürt die Wut gegen die Syrer

Die libanesische Regierung trägt ihrerseits zur Stigmatisierung der Syrerinnen und Syrer bei. Anfangs präsentierte sie sich als deren Schutzpatronin, doch spätestens seit den Parlamentswahlen 2018 ist das vorbei. Bei der Wahl schnitt der prosyrische Block stark ab, zu dem auch die Hisbollah gehört. Die Hisbollah wird vom iranischen Regime gestützt, das fest an der Seite des syrischen Diktators Baschar al-Assad steht, und sie drängt darauf, die Geflüchteten zurückzuführen.

Arsal liegt in den libanesischen Bergen. Von hier sind es nur knapp zwölf Kilometer zur syrischen Grenze. Foto: Andrea Backhaus
Die libanesische Regierung trägt zur Stigmatisierung der Syrer bei. Anfangs präsentierte sie sich als deren Schutzpatronin, doch spätestens seit den Parlamentswahlen 2018 ist das vorbei. Bei der Wahl schnitt der prosyrische Block stark ab, zu dem auch die Hisbollah gehört. Die Hisbollah wird vom iranischen Regime gestützt, das fest an der Seite des syrischen Diktators Baschar al-Assad steht, und sie drängt darauf, die Geflüchteten zurückzuführen.

Auch schüren hochrangige Regierungsvertreter den Hass auf die Geflüchteten. Präsident Michel Aoun etwa, dessen christliche Partei, die Freie Patriotische Bewegung (FPM), unverhohlen gegen die Syrer hetzt. Gebran Bassil, Präsident der FPM und ehemaliger Außenminister, gibt den Syrerinnen und Syrern seit Jahren in öffentlichen Statements die Schuld an der Wirtschaftskrise. Im Libanon teilen sich Christinnen, Drusen, Sunnitinnen und Schiiten die Macht in einem fragilen Proporzsystem. Gerade die Christen fürchten, sie könnten an Einfluss verlieren, sollten die vielen – überwiegend sunnitischen – Syrer dauerhaft bleiben.Wer nach Syrien zurückkehrt, muss mit dem Schlimmsten rechnen

Dabei es ist unwahrscheinlich, dass Syrerinnen und Syrer bald in ihre Heimat zurückkehren können. Diktator Al-Assad hat sein Land in Trümmer gebombt und der Krieg ist auch nach fast zehn Jahren nicht vorbei. Das Regime kämpft mit seinen russischen und iranischen Unterstützern mit aller Brutalität um Idlib, der letzten noch von Rebellen kontrollierten Provinz. Dort, wo Assad die Kontrolle zurückhat, herrscht nicht nur eine katastrophale Wirtschaftskrise, sondern auch lähmende Angst: Wer die geringste Kritik am Regime äußert, wird verhaftet, gefoltert oder getötet. Für die Menschen in den Lagern in Arsal ist klar: Wer nach Syrien zurückgeht, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Für Al-Assad sind alle, die in den Oppositionsgebieten gelebt und das Land verlassen haben, Verräter und Terroristen, an denen er sich rächen will. Viele in Arsal sagen: Solange Assad herrscht, werden sie nicht zurückgehen.

Trotz der Gefahren versuchen die libanesischen Behörden seit 2018 verstärkt, syrische Geflüchtete nach Syrien zurückzubringen; sie betonen, es würde sich dabei ausschließlich um Rückkehrwillige handeln. Bei einigen mag das stimmen, das UNHCR hat seit 2016 mehr als 66.000 Syrer registriert, die laut eigenen Angaben freiwillig zurückkehrten. Doch Menschenrechtsorganisationen kritisieren, die Rückkehr sei in den meisten Fällen indirekt erzwungen, sei sie doch eine Folge der vielen Schikanen, denen die Geflüchteten im Libanon ausgesetzt seien.

Verschärft hat sich die Lage durch ein Dekret, wonach Syrerinnen und Syrer, die nach April 2019 illegal ins Land gekommen sind, deportiert werden können. Tausende hat der Staat aufgrund des Dekrets bereits abgeschoben – und verstößt damit gegen das Non-Refoulement-Prinzip, wonach Geflüchtete nicht in ein Land abgeschoben werden dürfen, in dem ihr Leben bedroht ist.

 

Denn genau das ist für viele Menschen in Syrien der Fall: Al-Assad lässt Regimegegner und deren Angehörige gnadenlos verfolgen. Menschenrechtsorganisationen berichten immer wieder von Rückkehrern, die nach ihrer Ankunft verhaftet wurden oder verschwunden sind. Zuletzt sind die Rücktransporte laut Expertinnen und Experten weniger geworden. Wegen der Pandemie, aber vermutlich auch, weil die Regierung es sich momentan nicht leisten kann, auf die ausländischen Hilfsgelder zu verzichten, die für die Syrer ins Land kommen. In Arsal sagen einige: Solange die Regierung auf die Hilfsgelder angewiesen ist, werde sie die Syrer dulden. Danach werde sie den Druck auf die Geflüchteten massiv erhöhen.

Zurück im Hasan-Dabli-Lager hat sich Abu Ali, der Manager des Lagers, umringt von Kindern auf dem Schotterplatz postiert und verzieht sein Gesicht zu einem matten Grinsen. "Keiner mag uns", sagt er. Die Libanesen wollten die Syrer aus dem Land haben, doch sie könnten nicht zurück. Denen, die zurückkehrten, sei es nicht gut ergangen. Auch Amal al-Nasir sieht ihre Zukunft nicht in Syrien. "Zu unsicher", sagt sie nur. Wie wird es für sie weitergehen? Sie zuckt die Schultern. Eine Tochter ist sechs, die andere elf Jahre alt. Sie wolle die Elfjährige nicht früh verheiraten. Sie war selbst erst 14, als sie heiratete, aus Liebe, wie sie sagt. Sie möchte ihrer Tochter das nicht antun. Aber wenn es nicht besser werde, sagt sie noch leise, müsse sie das tun.

Andrea Backhaus

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