Mehr Angst vor Hunger als vor Corona

Ein Coronavirus-Ausbruch in den syrischen Flüchtlingslagern im Libanon wäre eine Katastrophe, soziale Distanz ist in den Zelten nicht möglich. Doch viele Syrer sorgen sich mehr um ihre Existenz als um Corona. Von Diana Hodali

Von Diana Hodali

Hundertfach reihen sich auf dem Weg in die Bekaa-Ebene im Libanon die Zeltlager syrischer Flüchtlinge - zwischen Feldern und Büschen ragen immer wieder die notdürftig zusammengezimmerten Behausungen hervor, meist abgedeckt mit Plastikplanen. So auch in dem kleinen Ort Bar Elias. Der Krieg im Nachbarland Syrien ist nicht weit entfernt. Gerade mal 15 Kilometer sind es von dort bis zur Grenze. 

In Bar Elias befindet sich seit 2013 auch das kleine, informelle Flüchtlingslager Medyen, benannt nach seinem Gründer Medyen al-Ahmed. In den acht Zelten leben neun Familien aus Kussair, einer Stadt im syrischen Gouvernement Homs. Und sie alle leben in Behausungen, die nur schwer beheizt werden können, im Sommer wiederum unerträglich heiß werden, und die auf einem Boden stehen, der im Winter aufweicht und zu einem Sumpf verkommt. "Wir leben zu neunt in unserem Zelt", sagt Medyen al-Ahmed. Denn Medyen kümmert sich auch um seine Schwester und ihre Kinder. Sie hat im Krieg ihren Mann verloren.

Besondere Ausgangssperren für Syrer

An die aufgrund der COVID-19-Epidemie vom libanesischen Staat verhängte Ausgangssperre habe man sich natürlich gehalten, aber soziale Distanz in einem Zelt - das sei nicht möglich, sagt Medyen am Telefon. Ausgangssperren sind viele Syrer gewohnt, denn schon vor der Corona-Krise wurden syrische Flüchtlinge in einigen Gemeinden durch willkürlich erlassene Ausgangssperren diskriminiert.

Medyen al-Ahmed; Foto: Medyen al-Ahmed
Unerträgliche Lebensbedingungen: In den acht Zelten des kleinen, informellen Flüchtlingslager Medyen leben neun Familien aus Kussair. Sie alle wohnen in Behausungen, die nur schwer beheizt werden können, im Sommer wiederum unerträglich heiß werden, und die auf einem Boden stehen, der im Winter aufweicht und zu einem Sumpf verkommt, berichtet Flüchtlingslager-Gründer Medyen al-Ahmed.

Zu Beginn der Corona-Krise, Mitte März, gab es für Syrer in Bar Elias aber eine zusätzliche Einschränkung: Nur eine Person pro Camp durfte Einkäufe für alle erledigen. In dem kleinen Camp in Bar Elias war es Medyen, der für alles Sorge trug. Vielleicht klingt er deshalb auch so erschöpft. 

"Das Leben war vorher schon nicht einfach", sagt er. "Aber jetzt habe ich auch noch meine Jobs verloren, alles ist fast vierfach so teuer." Der sonst sehr ruhige 43-Jährige klingt aufgewühlt.

Keine Schule mehr, keine Jobs

In Syrien war Medyen al-Ahmed ein Händler - der Krieg hat ihm alles genommen. Als er im Libanon ankam, galt seine größte Sorge den Kindern. Er nahm an Workshops von Organisationen teil, die sich um die Lage von Syrern im Libanon kümmerten, begann dort sogar zu arbeiten. Schließlich gründete er mit finanzieller Unterstützung einer kleinen deutschen Organisation namens "Schams" (deutsch: Sonne) eine kleine Zeltschule im Camp. Die ist mittlerweile umgezogen, in ein richtiges, zweistöckiges Gebäude, außerhalb des Camps - und die Kinder sollten sogar im Libanon anerkannte Zeugnisse bekommen.

"Aufgrund der Corona-Krise mussten wir den Schulbetrieb erstmal einstellen", sagt Al-Ahmed. Mit verheerenden Folgen für die Bildung der Kinder. Denn viele syrische Kinder können aufgrund von Krieg, Flucht und Vertreibung überhaupt oder allenfalls rudimentär lesen und schreiben. Medyen al-Ahmeds Verträge bei mehreren Organisationen wurden ebenfalls erstmal auf Eis gelegt. "Wir bekommen gerade nur Fortbildungen über Whatsapp oder Zoom", sagt er. Bezahlte Arbeit hat er nicht. 

Verheerende Wirtschaftslage im Libanon

Die wirtschaftliche Lage im Libanon ist katastrophal und hat sich durch den landesweiten Lockdown nochmals verschärft. Der Staat ist de facto pleite, seit Monaten sieht sich die libanesische Lira einem drastischen Wertverlust ausgesetzt. Syrische Flüchtlinge sind häufig Tagelöhner, arbeiten auf dem Bau, in der Landwirtschaft oder als Reinigungskraft - doch gerade die Arbeit in diesen Bereichen ist durch die Corona-Krise zum Erliegen gekommen. 

Hinzu kommt: Im vergangenen Sommer hatte der Libanon ein Gesetz erlassen, wonach ausländische Arbeiter - dazu gehören sowohl die syrischen als auch die palästinensischen Flüchtlinge - die Bürgschaft eines Arbeitgebers benötigen, um überhaupt arbeiten zu dürfen. Und dies ist seit Beginn der Corona-Krise nahezu unmöglich geworden. 

Kind im Flüchtlingslager Bar Elias; Foto: M. al-Ahmed
Am stärksten von der Corona-Krise und den damit einhergehenden Einschränkungen betroffen: Für viele syrische Kinder ist die Situation besonders schwer, sie können nicht zur Schule gehen und haben keine Perspektive.

Stigmatisierung von Syrern 

Basmeh und Zeitooneh ist eine in der Bekaa-Ebene ansässige Organisation. Sie arbeitet mit syrischen Flüchtlingen zusammen an verschiedenen Projekten, kennt deren Sorgen und Probleme - und weiß auch: "Viele Syrer leiden unter Stigmatisierung, denn viele Menschen im Libanon gehen gleich davon aus, dass Syrer aufgrund eines mutmaßlichen Hygienemangels und enger Wohnverhältnisse eher das Coronavirus haben könnten als andere", sagt Mohamed Taleb, Leiter des Gemeinschaftszentrums der Organisation. 

Zu der Stigmatisierung trägt auch die libanesische Regierung bei. Erst am Montag sagte Staatspräsident Michel Aoun, die Krise im Libanon habe "drei Gesichter", und machte neben der Corona- und der allgemeinen Wirtschaftskrise auch die Syrer mitverantwortlich für den schlechten Zustand des Zedernstaates. Von Korruption kein Wort. 

Bis jetzt ist noch kein Fall einer Corona-Infektion in syrischen Lagern bekannt geworden. Das bestätigen sowohl Medyen al-Ahmed als auch Mohamed Taleb.

In einem palästinensischen Lager nahe der Stadt Baalbek wurden kürzlich jedoch erste Corona-Infektionen registriert. Insgesamt sollen nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität knapp 750 Menschen im Libanon mit dem Coronavirus infiziert sein, 25 Menschen sind daran gestorben. Wie hoch die Dunkelziffer der Infektionen ist, vermag derzeit allerdings niemand einzuschätzen. 

"Natürlich wäre es verheerend, wenn es bald auch erste Fälle in den syrischen Lagern geben würde, denn die Menschen leben eben beengt und sind alle miteinander vernetzt", sagt Mohamed Taleb. 

Sorge vor medizinischer Betreuung 

Doch was passiert, wenn jemand aus einem syrischen Camp Symptome entwickelt? Einige Organisationen, so auch Ärzte ohne Grenzen, bieten in Kliniken Gesundheitszentren für Syrer an. Doch viele trauten sich bei möglichen Symptomen nicht, die Zentren aufzusuchen, sagt Mohamed Taleb. Viele Syrer hätten Angst davor, Probleme zu bekommen, wenn sie entweder keine Dokumente oder keine Aufenthaltsgenehmigung mehr haben. Im vergangenen Jahr hat die libanesische Regierung mehrere Hundert Syrer aus ähnlichen Gründen zwangsdeportiert. Daher wägen die Menschen das Risiko ab, wenn sie überlegen, ob sie einen Test machen oder zu einer Behandlung gehen sollen. Sie wissen, dass die Alternative für sie lautet: Gesundheit oder mögliche Abschiebung. 

Human Rights Watch bemängelt dies und fordert Libanons Regierung auf, den Syrern im Lande gegenüber eindeutig zu kommunizieren, dass sie bei COVID-19-Symptomen eine medizinische Versorgung bekommen können, ohne eine Strafe riskieren zu müssen.

Mohamed Taleb ist 24 Jahre alt und arbeitet bei der Organisation Basmeh und Zeitooneh; Foto: M. al-Taleb
"Viele Syrer leiden unter Stigmatisierung, denn viele Menschen im Libanon gehen gleich davon aus, dass Syrer aufgrund eines mutmaßlichen Hygienemangels und enger Wohnverhältnisse eher das Coronavirus haben könnten als andere", sagt Mohamed Taleb. Der 24-Jährige arbeitet bei der Organisation Basmeh und Zeitooneh.

Neben Basmeh und Zeitooneh haben auch andere Organisationen Hygienekits in der Gegend um Bar Elias verteilt. Per Whatsapp-Sprachnachrichten klärt die Organisation Menschen über das Coronavirus auf, gibt Tipps - auch im Umgang mit Verschwörungstheorien oder Fake News zu dem Thema. 

"Wir haben Seife, Desinfektionsmittel und Masken bekommen", sagt Medyen al-Ahmed. Er und seine Frau hätten die Kinder aufgeklärt, aber auch die anderen Camp-Bewohner wüssten, welche Maßnahmen sie treffen können, um das Risiko einer Infektion zu minimieren. "Ich mache mir am meisten Sorgen um die Gesundheit der Kinder", sagt Umm Khaled am Telefon, Medyen al-Ahmeds Frau. Sie ist bescheiden und freundlich. "Ansonsten müssen wir uns auf den lieben Gott verlassen", sagt sie leise. 

Große Angst vor Hunger

Meist würden die größeren Camps finanzielle Unterstützung bekommen, die kleineren fielen hinten über, sagt Medyen al-Ahmed. Seine Stimme klingt sorgenvoll. "Ich weiß nicht, wie sich das Leben nach Corona ändern wird."

Mittlerweile hat der Libanon seine Maßnahmen ein wenig gelockert, die Ausgangssperre gilt nur noch von 21 Uhr bis fünf Uhr morgens, Cafés und Restaurants dürfen ein Drittel der Kundschaft empfangen. Auch in den Lagern von Bar Elias sei wieder etwas Normalität eingekehrt, sagt Medyen al-Ahmed. "Aber die Menschen können die Situation nicht mehr lange aushalten. Es gibt kein Geld, und das Nichtstun ist schwer auszuhalten. Mittlerweile ist die Angst vor Hunger größer als die vor Corona."

Diana Hodali

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