Die Illusion einer politischen Lösung

Im Westen wird viel über eine politische Lösung des Syrienkonflikts diskutiert. Doch Tatsächlich schaut man weg und versucht weiterhin die Illusion zu nähren, dass sich international etwas bewegt und das syrische Volk nicht im Stich gelassen wird. Ein kritischer Debattenbeitrag von Burhan Ghalioun

Von Burhan Ghalioun

Kein vernünftiger Mensch glaubt, dass es in Syrien mit Baschar al-Assad eine politische Lösung geben kann. Weder mit ihm noch mit demjenigen, der hinter ihm steht: "dem Kalifen von Qom", Ali Khamenei. Genauso wenig wie ein vernünftiger Mensch in Europa während des Zweiten Weltkriegs hätte glauben können, dass es mit Adolf Hitler eine politische Lösung geben könnte.

Die letzten vier Jahre haben es bewiesen. Das System Assad betreibt im Grunde keine Politik, sondern führt nur Krieg. Nie ist das Assad-Regime dem Volk anders als mit Gewalt und Zwang zur Unterordnung begegnet.

Das bestehende syrische Regime baut auf Alleinherrschaft und Dominanz einer mafiös-faschistoiden Clique, und es kennt keine Alternative zur Sprache einer selbstmörderischen Eskalation, deren Motto ist: Töten oder getötet werden.

Die Führung in Teheran unterdes, wo man das Schicksal dieser selbstzerstörerischen syrischen Führung aus der Ferne lenkt, befindet sich seinerseits in einem Zustand national-konfessionellen Wahns. Die iranische Führung jagt der Fata Morgana einer Wiedererrichtung des persischen Großreiches in Ostarabien auf religiöser Grundlage nach, bei der es nicht nur darum geht, die Geschichte, sondern auch, den Westen herauszufordern.

Ohne Rücksicht auf Verluste

Der Iran betrachtet Syrien bei diesen Großmachtplänen als einen Eckstein, und in Teheran glaubt man, dass jeder Verzicht auf die Kontrolle Syriens oder auch nur eine Machtteilung mit anderen Staaten der Region oder gar dem syrischen Volk selbst solche iranischen Ansprüche untergraben würde. Deshalb hat Teheran keine andere Option als die der Eskalation, ohne Rücksicht auf Verluste.

Der UN-Gesandte Staffan de Mistura zu Gesprächen bei Baschar al-Assad; Foto: picture-alliance/dpa
Eingestandenes Scheitern: Wegen der fehlenden Hoffnung auf jedwede politische oder auch militärische Lösung zielt die Initiative des UN-Gesandten Staffan de Mistura lediglich auf eine Unterstützung bei der Aushandlung temporärer und lokaler Kampfpausen hin, um das Leid der Bevölkerung wenigstens etwas zu mildern, schreibt Burhan Ghalioun.

Indem man die Bevölkerungsstruktur in einer strategisch so wichtigen Region verändert, kann man, nach dem Irak und dem Libanon, nun auch in Syrien eine Besatzung verankern. Die Islamische Republik versucht dies über den Umweg einer Verständigung mit Washington (Atomabkommen) zu erreichen, und verschleiert seine Dominanzabsichten zugleich mit einem angeblichen Widerstand gegen Israel.

In Wirklichkeit geht es um eine Aufteilung des Einflusses in der Region. Wenn man sich erst einmal offiziell mit Tel Aviv geeinigt hat, wird die iranische Präsenz in Syrien legitimiert sein, so wie einst die Präsenz des Assad-Regimes im Libanon abgesegnet wurde – zum Preis von Sicherheitsgarantien für Israel.

Aus diesem Grund sind bisher alle Initiativen für eine politische Lösung gescheitert, ganz gleich ob sie seit den ersten Monaten der syrischen Revolution von Freunden des Regimes gestartet wurden oder von Qatar, der Türkei, Saudi-Arabien, von Europäern oder von sonst wem.

Ebenso sind bisher alle Initiativen der Arabischen Liga misslungen, genau wie die Mission von Kofi Annan zur Umsetzung der Genfer Erklärung. Desgleichen die von Lakhdar Ibrahimi, die mit dem Scheitern der zweiten Genfer Konferenz endete. Auf Letzterer erlebte man nicht einmal eine politische Diskussion, sondern nur übelste Beschimpfungen von Seiten der Assad-Delegation, die Gegenseite bestehe samt und sonders aus Verrätern. Beide genannten großen Diplomaten mussten eingestehen, nichts erreicht zu haben, beide gaben dem Assad-Regime die Verantwortung dafür und quittierten ihren Dienst.

Scheitern auf ganzer Linie

Alle weiteren Vermittlungsversuche, die es seit Genf noch gab, verdienen nicht wirklich die Bezeichnung "Initiative", ja eigentlich waren es nicht einmal erfolgversprechende Ideen. Meist zielten sie nur darauf ab, die politische und die militärische Opposition Syriens dazu zu bringen, Zugeständnisse zu machen, mit denen man dann "vielleicht" die Russen gefügiger machen könnte.

Dabei muss man sich vor Augen führen, dass Russland, wiewohl es militärisch wichtig für das syrische Regime ist, gar keine Lösung erzwingen könnte – weder gegen Assad noch gegen die Führung in Teheran.

In derselben Situation befindet sich heute der UN-Gesandte Staffan de Mistura, der sein Scheitern von vornherein eingestanden hat. Seine Initiative zielt, wegen der fehlenden Hoffnung auf jedwede politische oder auch militärische Lösung, lediglich auf eine Unterstützung bei der Aushandlung temporärer lokaler Kampfpausen hin, um das Leid der Bevölkerung wenigstens etwas zu mildern.

Massenflucht aus Syrien in die Türkei: syrische Flüchtlinge im türkischen Sanliurfa; Foto: picture-alliance/dpa/U. Yunus Tosun
Massenexodus grenzenlos: Vier Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien schwindet für die Vertriebenen die Hoffnung auf ein baldiges Ende ihrer Flucht. Von den knapp zehn Millionen Flüchtlingen sind gut 40 Prozent jünger als elf Jahre. Mehr als zwölf Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen.

Insofern bedeutet das Beharren der Vereinten Nationen, der Großmächte und der Welt auf einer politischen Lösung nicht, dass irgendjemand noch wirklich an eine solche Möglichkeit glaubt. Vielmehr ist es die Flucht vor der logischen Konsequenz aus der Unmöglichkeit einer politischen Lösung, nämlich die Verpflichtung gemäß UN-Charta, bei einem Vernichtungskrieg einzugreifen, den eine Clique gegen die eigene Bevölkerung führt.

Anders gesagt: Man redet von einer politischen Lösung, um ein diplomatisches Vakuum zu bemänteln und die Illusion zu nähren, dass sich international etwas bewegt, das syrische Volk nicht im Stich gelassen und nicht vor den Augen der Welt abgeschlachtet wird. In Wirklichkeit geschieht aber genau das. All die diplomatischen Initiativen und Manöver sollen nur noch überdecken, dass die Vereinten Nationen und namentlich Ban Ki Moon kläglich gescheitert sind, entschlossene Maßnahmen zu ergreifen, um den Krieg zu stoppen oder auch nur das Leid der Syrer zu mildern.

Moralisch und politisch abgedankt

Aber noch wichtiger und zugleich schlimmer ist der andere Zweck, den diese Scheininitiativen erfüllen sollen: Man möchte die öffentliche Meinung in Syrien, in der arabischen Welt und international davon ablenken, dass der Westen und insbesondere die USA in Bezug auf die syrische Krise moralisch und politisch abgedankt haben. Man hat solche Manöver während der vergangenen vier Jahre nur dazu benutzt, die Opposition zu betrügen und um zu rechtfertigen, dass Washington sich weigert, ernsthaft etwas zu tun, um das syrische Volk zu retten.

Der Krieg wird nicht enden, solange die Welt, allen voran die Vereinigten Staaten, politisch so weitermachen wie im Moment. Und es wird keine politische Lösung oder auch nur eine Kapitulation Assads geben, solange man die Kriegsmaschinerie, die von Assads Geburtsort Qardaha und Teheran aus gemeinsam betrieben wird und die aus den Resten der syrischen Armee sowie konfessionellen Milizen aus Dutzenden Ländern besteht, nicht zerschlägt.

Je länger man das hinausschiebt, desto klarer bedeutet dies, dass man eine weitere Gewalteskalation und noch mehr Brutalität duldet, dass die syrische Krise noch komplexer, das Leiden der Syrer noch schlimmer wird und dass die Gefahr einer Ausbreitung des Krieges in die Nachbarländer wächst.

Irans Ajatollah Ali Khamenei; Foto: picture-alliance/dpa/Offical Supreme Leader Website
Syrien als strategischer Vorposten des "Kalifen von Qom": "Zu ignorieren, was in Syrien passiert, hieße, Syrien der Teheraner Führung zum Fraß vorzuwerfen und das Land extremistischen, konfessionell getriebenen Milizen aller Couleur zu überlassen. Mit anderen Worten: vor einer iranisch-nationalistischen Expansion zu kapitulieren und eine Niederlage einzugestehen, ohne Krieg geführt zu haben", schreibt Ghalioun.

Wenn die westlichen Staaten die Gefahr, die aus dem ungebremsten Morden und Verwüsten in Syrien erwächst, nicht erkennen und unter dem Ausbleiben einer politischen oder militärischen Lösung nicht leiden, so kann das für die arabischen Länder oder die mitten im Sturm stehende Türkei nicht gelten. Zu stark ist deren nationale und zivile Sicherheit bedroht, zu groß die Gefahr, die davon ausgeht, dass der syrische Staat zerfällt oder nur noch von der iranischen Revolutionsgarden zusammengehalten und von dieser dazu genutzt wird, Aggressionen gegen Nachbarstaaten zu begehen oder Druck auf diese auszuüben.

Zu groß sind die politischen und humanitären Konsequenzen der Syrienkrise für sie, als dass es im Interesse der arabischen Staaten sein könnte, tatenlos zuzusehen oder abzuwarten, bis der Krebs der Gewalt und des Faschismus sich auch bei ihnen einnistet. Sie müssen handeln und die Vereinten Nationen und alle Staaten der Welt davon überzeugen, ihnen zu folgen. Die Verteidigung ihrer nationalen Interessen und des Interesses ihrer Völker verlangt dies.

Die Lösung des Syrienkonflikts als arabische Angelegenheit

Syrien ist nicht nur Teil der arabischen Welt, sondern das Balancezentrum des gesamten arabischen Ostens. Wer Syrien kontrolliert, bestimmt das künftige Schicksal der Region. Zu ignorieren, was in Syrien passiert, hieße, Syrien der Teheraner Führung zum Fraß vorzuwerfen und das Land extremistischen, konfessionell getriebenen Milizen aller Couleur zu überlassen. Mit anderen Worten: vor einer iranisch-nationalistischen Expansion zu kapitulieren und eine Niederlage einzugestehen, ohne Krieg geführt zu haben.

Damit wäre die Lähmung und Spaltung der arabischen Welt zementiert und würden alle ihre Gegner ermutigt, über sie herzufallen, einschließlich Söldnermilizen und Terrorgruppen. Letztlich wären alle Bemühungen der Länder der Region, Stabilität, Frieden und Sicherheit zu bewahren, zunichte gemacht.

Die arabischen Staaten hätten den blutigen Krieg in Syrien als ein in erster Linie arabisches Anliegen behandeln sollen, und sie sollten das auch jetzt noch tun. Sie hätten die politische Initiative ergreifen sollen, anstatt zuzusehen, wie die Vereinten Nationen daran scheitern, weil Arbeits- und Umsetzungsmechanismen fehlten. Sie müssten militärisch aktiv werden und dabei allen Seiten in Syrien ihre Prinzipien und Bedingungen auferlegen, um das Blutvergießen und die Zerstückelung des Landes zu stoppen und terroristischen Gruppen und konfessionellen Milizen nicht länger zu erlauben, Gebiete zu erobern und dort jeweils eigene Emirate zu errichten.

Der französisch-syrische Soziologieprofessor Burhan Ghalioun, Foto: dpa/picture-alliance
Der französisch-syrische Soziologieprofessor Burhan Ghalioun zählt zu den prominentesten syrischen Oppositionellen seines Landes. Er war bis 2012 Vorsitzender des "Syrischen Nationalrates" und ist seitdem Mitglied der "Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte".

Die Behauptung, dass die Sicherheit Syriens grundlegend für die Sicherheit des arabischen Ostens ist, ist in keinster Weise übertrieben. Dies wird sich erst recht dann erweisen, wenn die schwerwiegenden Konsequenzen der Syrienkrise in anderen, nahen und fernen arabischen Staaten, ja weltweit sichtbar werden.

Es genügt, darauf zu verweisen, wie schon jetzt das entstandene strategische Ungleichgewicht es der iranischen Führung und seinen Verbündeten ermöglicht hat, die Arabische Halbinsel einzukreisen, Ägypten und Nordafrika zu marginalisieren und förmlich aus der Region hinauszudrängen.

Zugleich hat es dazu geführt, dass sektiererische Kriegsteufel die gesamte Region bedrohen, die syrische Gesellschaft zerstören und Millionen Syrer in Flucht und Hoffnungslosigkeit treiben. Es ist eine humanitäre Katastrophe für Syrien und die ganze Region, ganz zu schweigen von dem religiösen und sonstigen Extremismus, der in Syrien aus dem Boden schießt und der blutdürstige Banden in die Region lockt.

Die Vogel-Strauß-Politik der arabischen Staaten

Stattdessen haben die arabischen Staaten den Syrienkonflikt auf die leichte Schulter genommen und die Lösung dafür den Vereinten Nationen überlassen – wohl wissend, dass der Sicherheitsrat blockiert ist und es keine internationale Intervention geben würde. Vier Jahre blieben die arabischen Regierungen bei ihrer Vogel-Strauß-Politik, wobei sie sich damit begnügten, zivilen Gruppen in Syrien häppchenweise materielle, militärische und politische Hilfe zukommen zu lassen.

Diese stellten sich hastig unter Waffen, aber ihre Gönner wussten nicht einmal, wie sie ihnen dabei helfen könnten, sich zu organisieren oder sie zu trainieren. Zudem unterschätzten die arabischen Staaten das iranische Hegemoniestreben und ließen die Führung in Teheran gewähren. Der Iran übernahm die Bab-al-Mandab-Meerenge und den Jemen und ist gewillt, sein Hegemonieprojekt in Richtung Golfstaaten auszuweiten. Allen Gefahren und Bedrohungen stehen in der arabischen Welt damit Tür und Tor offen.

Was die arabische Welt hätte tun sollen, muss auch heute noch getan werden. Jede Verzögerung treibt nur die Kosten der Eindämmung der Krise in die Höhe, verstärkt die humanitären, politischen und militärischen Gefahren in unerträglicher Weise, vergrößert die Krise und führt zu ihrer Ausweitung, mit allen damit verbunden Gefahren.

Was Europa damals tun musste, um der Hitler-Herrschaft entgegenzutreten, obliegt heute den arabischen Staaten und der Türkei – mit oder ohne Unterstützung der Vereinten Nationen und der Internationalen Koalition. Und es muss jetzt geschehen, und nicht erst, wenn Washington und Teheran ihr Abkommen zum iranischen Atomprogramm unterzeichnet haben.

Burhan Ghalioun

Aus dem Arabischen von Günther Orth

© Qantara.de 2015