Zwischen Revival und Reaktion 

Ägyptische Sufis sehen sich seit Jahrzehnten in der Defensive gegenüber den Islamisten. In der jungen Kairoer Mittel- und Oberschicht wächst derweil das Interesse an der Mystik. Von Marian Brehmer. 

Von Marian Brehmer

Die Luft in der Kairoer Metro-Station Sadat könnte stickiger kaum sein. Ventilatoren surren über den Köpfen der Wartenden, während ein rundlicher Herr Papiertickets durch den Schalter schiebt. Hinter einer beschlagenen Glasscheibe steht eine Statue der ägyptischen Göttin Isis, die regungslos auf das unruhige Treiben blickt. Daneben hängt eine zerkratzte Karte des U-Bahn-Netzes in der Metropole am Nil. 

Angekommen in Maadi, einem wohlhabenden Stadtteil im Süden der ägyptischen Hauptstadt, geht es vorbei an einer koptischen Kirche, aus der Kindergesang erklingt. In einem unscheinbaren Wohnblock mit modernen Apartment führt eine Treppe hoch zu einer Wohnung, in der sich eine Sufi-Gruppe für ihre wöchentliche Versammlung zusammengefunden hat.  

Das Wohnzimmer ist elegant eingerichtet, an der Wand hängen arabische Kalligraphie und abstrakte Kunst nebeneinander. Fünf junge Frauen sitzen auf einem Sofa vor ihrem Sufi-Meister, der das Treffen leitet. Khaled (der Name ist geändert), ein mittelalter Mann mit einem schmalen und ernsten Gesicht, lässt eine Gebetskette durch seine Finger wandern.  

Losgelöst von traditionellen Ordensstrukturen 

Khaled gehört zum Shadhiliyya-Orden, einem der knapp achtzig offiziell anerkannten Sufi-Bruderschaften Ägyptens. Hier in Maadi führt er seinen Sufi-Unterricht in moderner Form weiter, losgelöst von den traditionellen Ordensstrukturen, in denen er erzogen wurde. Die Anwesenden sind Studentinnen und Unternehmerinnen, die im schnelllebigen Kairoer Berufsalltag zuhause sind. Die Sufi-Treffen bieten ihnen einen Ruhepol in der hektischen bevölkerungsreichsten Stadt der arabischen Welt, die im Großraum bereits über zwanzig Millionen Einwohner zählt.  

 



 

Khaled fragt die Frauen im Raum, wie es mit der wazifa laufe, jener Übung, die ein Meister seinen Schülern als spirituelle Praxis aufgibt. Dann wendet er sich an eine junge Dame, die zum ersten Mal gekommen ist. Die Frau, die sich locker einen Schal über ihr Haar gelegt hat, erzählt, dass sie in einem Software-Startup arbeitet. In der Vergangenheit habe sie schon mal an einem dhikr teilgenommen, allerdings nicht in einem Sufi-Orden. “Du kannst fragen, was dir auf dem Herzen liegt”, sagt Khaled. Die Frau überlegt einen Moment. Die Welt der tariqas (Sufi-Orden) und sheikhs ist neu für sie. “Ist es möglich, erst von einer tariqa etwas mitzunehmen und anschließend etwas von einer anderen?” 

“Nehmen wir an, du bist krank und suchst vier Ärzte auf, die allesamt unterschiedliche Behandlungsmethoden anwenden. Jeder von ihnen hat in seiner eigenen Lehre Recht. Doch nicht jede Lehre passt zu jedem Menschen”, sagt Khaled. “Jeder braucht ein System, das zu seinem Körper und seiner Persönlichkeit passt. Wenn du dich verschieden behandeln lässt, stiftet das nur Verwirrung.” 

Dann fährt er fort: “Tariqas sind Schulen, um das Ich zu heilen. Du musst herausfinden, welche tariqa für dich die richtige ist, welche sich am besten für deine Konstitution eignet.” Später werden in der Runde Verse aus dem Koran diskutiert, in denen es um die Bewältigung von Prüfungen und Herausforderungen im Leben geht und um die Frage, warum der Sufismus die Reinigung des Herzens in den Mittelpunkt stellt. Am Ende wird mit einem gemeinsamen Gebet abgeschlossen.  

Entfremdung vom Islam nach der Revolution  

Nach der Tahrir-Revolution von 2011 und dem Erstarken des islamistischen Diskurses entfremdeten sich junge Ägypter aus den Mittel- und Oberschichten Kairos zunehmend vom Islam. Gleichzeitig wuchs das Interesse am Sufismus, in dem junge Menschen eine Alternative sahen, um den spirituellen Kern ihrer Religion zu ergründen. Die Lehren der Wahhabiten und Salafisten dagegen wurden als Verengung und Verzerrung des Islam wahrgenommen.  

In einem Artikel des Online-Magazins Al-Monitor spricht der Berliner Anthropologe Samuli Schielke von einem “Sufi-Revival” unter gebildeten Ägyptern. Sie hauchen seit einigen Jahren jener mystischen Tradition, die am Nil lange eher im Niedergang begriffen schien, neues Leben ein. In manchen dieser Gruppen vermischt sich — wie es auch in der Türkei oder im Iran zu beobachten ist — islamische Lehre mit New-Age-Elementen oder Praktiken aus der indischen Tradition, wie etwa Yoga und Meditation.  

Der Sufismus ist in Ägypten fest verwurzelt. Nach Schätzungen der Harvard Divinity School gehören 15 Prozent der Ägypter entweder einem Sufi-Orden an oder nehmen an populären Sufi-Ritualen teil. In kaum einem anderen arabischen Land wird mawlid, der Geburtstag des Propheten Mohammed, so flächendeckend gefeiert wie in Ägypten.

Die Al-Azhar Moschee in Kairo; Foto: Sui Xiankai/Xinhua/picture-alliance
Widersprüchliches Verhältnis zur Mystik an der Wiege der islamischen Orthodoxie: Einerseits gehören viele Dozenten der Al-Azhar auch Sufi-Orden an, andererseits ist die Lehre an der Hochschule auch von erzkonservativen bis salafistischen Elementen durchzogen. Außerdem ist die Al-Azhar seit über hundert Jahren daran beteiligt, die Aktivitäten der Bruderschaften im Land zu beobachten. Seit 1903 gibt es in Ägypten einen “Hohen Rat der Sufi-Orden”, der für die Regulierung der tariqas zuständig ist. Das Gremium der Regierung, das sich aus Repräsentanten der Al-Azhar-Universität und geistigen Führern verschiedener Bruderschaften zusammensetzt, soll sicherstellen, dass sich die Praktiken der Sufi-Gruppen innerhalb der Grenzen religiöser Regeln und Gesetze bewegen.



Doch Ägypten ist mit der ehrwürdigen Kairoer Al-Azhar-Universität auch eine Wiege der islamischen Orthodoxie. Das Verhältnis der Institution zur Mystik ist widersprüchlich: Einerseits gehören viele Dozenten der Al-Azhar auch Sufi-Orden an, andererseits ist die Lehre an der Hochschule auch von erzkonservativen bis salafistischen Elementen durchzogen. 

Regulierung der Sufi-Bruderschaften 

Außerdem ist die Al-Azhar seit über hundert Jahren daran beteiligt, die Aktivitäten der Bruderschaften im Land zu beobachten. Seit 1903 gibt es in Ägypten einen “Hohen Rat der Sufi-Orden”, der für die Regulierung der tariqas zuständig ist. Das Gremium der Regierung, das sich aus Repräsentanten der Al-Azhar-Universität und geistigen Führern verschiedener Bruderschaften zusammensetzt, soll sicherstellen, dass sich die Praktiken der Sufi-Gruppen innerhalb der Grenzen religiöser Regeln und Gesetze bewegen. Das Gremium ist an der Ernennung von sheikhs beteiligt und erteilt Genehmigungen für religiöse Feiern und Zusammenkünfte.  

Dieses Gremium ist ein Ergebnis der Diskussionen im 20. Jahrhundert, als islamische Reformer und orthodoxe Kleriker den Sufismus zunehmend als abergläubisch anprangerten. Ägyptische sheikhs gerieten damals in die Defensive und sahen sich gezwungen, zu beweisen, dass ihre Praktiken mit der islamischen Orthodoxie vereinbar sind.  

Das Aufkommen der Muslimbruderschaft, die im Sufismus eine Verfälschung des Islam sieht, stellte für die Mystiker eine besondere Herausforderung dar. Ihr Gründer Hassan al-Banna (1906-1949), der zuvor selbst einem Sufi-Orden angehört hatte, übte scharfe Kritik an den Sufis seiner Zeit, auch wenn er die asketischen Praktiken aus der Frühzeit der islamischen Mystik durchaus lobte.  

Ägyptische Gruppierungen mit salafistischer Orientierung hingegen verurteilen heute Sufi-Praktiken als Ketzerei. Einige Sufi-Orden haben als Reaktion darauf in den letzten Jahrzehnten selbst salafistische Züge angenommen. Mit einem Anschlag im November 2017 erreichte die Feindseligkeit gegenüber Sufis einen brutalen Höhepunkt.

Ein dschihadistischer Angriff gegen eine Moschee auf der Sinai-Halbinsel, die von Sufis besucht wird, kostete mehr als dreihundert Menschen das Leben. Ein Ableger des IS hatte zuvor verkündet, den Al-Jaririya-Orden um den Ort Bir al-Abed, etwa dreihundert Kilometer nordöstlich von Kairo, zerstören zu wollen.

Anschlag auf eine Moschee auf dem Sinai; Foto: picture-alliance/dpa
Feinseligkeit gegenüber Sufis: Mit einem Anschlag im November 2017 erreichte die Bedrohung von Sufis in Ägypten einen brutalen Höhepunkt. Ein dschihadistischer Angriff gegen eine Moschee auf der Sinai-Halbinsel, die von Sufis besucht wird (hier auf dem Bild) kostete mehr als dreihundert Menschen das Leben. Ein Ableger des IS hatte zuvor verkündet, den Al-Jaririya-Orden um den Ort Bir al-Abed, etwa dreihundert Kilometer nordöstlich von Kairo, zerstören zu wollen.

   

Revolutionäre Sufis  

Aber auch an der Tahrir-Revolution von 2011 waren Sufis beteiligt, von denen manche sogar nach dem Sturz von Mubarak ihre eigenen politischen Parteien gründeten. Als Begründung wurde angemerkt, dass eine Beteiligung an der Politik notwendig sei, um Muslimbrüdern und salafistischen Parteien etwas entgegenzusetzen. Befürchtet wurden damals Einschränkungen der Freiheiten und Rechte von Sufi-Strömungen, nachdem der Muslimbruder Mohammed Mursi im Juni 2012 zum Präsidenten gewählt worden war. 

Folglich unterstützten Sufi-Führer den Sturz von Mursi im Jahr 2013 durch das Militär nach Massenprotesten gegen seine Regierung. Der neue Machthaber und ehemalige Militärchef Abdul Fattah al-Sisi machte mit dem Massaker an 800 Muslimbrüdern im August 2013 in Kairo deutlich, dass er keine Opposition gegen seine Herrschaft dulden würde.

Sein Regime unterstützt Sufis als Gegenpol zu den Islamisten, denn mit den Muslimbrüdern teilen sich die Sufi-Orden und die ägyptische Regierung einen gemeinsamen Feind.  

Am Grabmal von Ibn Ata’Allah al-Iskandari, dem berühmten Shadhiliyya-Meister aus dem 13. Jahrhundert — einer der wichtigsten Sufi-Pilgerstätten im Südosten von Kairo — treten die Besucher an einen Ort, der wie befreit von all diesen politischen und ideologischen Wirrungen scheint. Al-Iskandaris Lehrsprüche werden in Sufi-Orden auf der ganzen Welt gelesen und stehen für eine Ära, in denen Ägypten eine Wiege der mystischen Gelehrsamkeit war.



So ist von Al-Iskandari etwa der folgende Spruch überliefert: “Solange es auch nur irgendeine Unterstützung für das Ego im Inneren gibt, und sei es nur vom Gewicht eines Atoms, so bist du hochmütig und hast einen Teufel, der dich in die Irre führt.” 

Marian Brehmer

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