Weisheiten für die Zeit des Kummers

Islamische Mystiker aus der Sufi-Tradition erleben im Iran eine Renaissance - zum Ärger von Mullahs und Revolutionswächtern. Von Elisabeth Kiderlen

Von Elisabeth Kiderlen

"Ohne die Sufis würde ich das alles hier nicht aushalten", schreibt eine Freundin aus Iran. Die Nerven der Menschen sind seit Monaten zum Zerreißen gespannt: der Ölboykott, die Abtrennung Irans vom globalen Finanzsystem und dem internationalen Warenverkehr, die großen Überschwemmungen im März, ein Drittel des Landes stand unter Wasser, die rasante Geldentwertung, die Ankunft der amerikanischen Kriegsmaschinerie im Persischen Golf, die wachsende Kriegsgefahr und jetzt die Cyberangriffe der USA auf Ziele innerhalb des Landes - die Zivilbevölkerung leidet.

"Es stinkt nach Krieg", schreibt Narges. "Durch die Sufis kann ich zumindest für einige Zeit meine Angst vergessen und an etwas wirklich Wichtiges und Tröstliches denken, und nicht nur auf die Inflationsrate und die Nachrichten starren. Dabei habe ich noch nicht einmal mehr das Geld, meinen Kindern ein Eis zu kaufen."

Die Sufis haben großen Zulauf. Die Antwort auf die Frage "Was ist Sufismus?", wie sie der große Dichter und Mystiker Dschalaluddin Rumi (1207-1273) einst gab, wird als Ratschlag auch in der heutigen Zeit begierig aufgenommen. Rumi sagte: "Freude finden im Herzen, wenn die Zeit des Kummers kommt." Und Narges schickt mir einige Zeilen aus Rumis berühmtesten Gedicht als Mantra gegen die wachsende Bedrohung: "Ich starb als Mineral und wurde zur Pflanze,/ ich starb als Pflanze und erhob mich als Tier,/ ich starb als Tier und bin nun Mensch./ Was fürchte ich? Hab' ich beim Sterben je verloren?"

Wie alle Mystiker suchen auch die Sufis den direkten Weg zu Gott

Sufismus und Lyrik sind seit Jahrhunderten eng verbunden. In vorislamischen Zeiten war die persische Sprache viele Jahrhunderte lang die Literatursprache, sie verstummte, als die Araber im 7. Jahrhundert das Land eroberten. Die Versdichtung war die erste literarische Stimme, die sich zwei Jahrhunderte später wieder erhob, und sie ist bis heute "die wichtigste literarische Stimme" geblieben, so der Orientalist Roy Mottahedeh.

Mawlana Jalaluddin Muhammad Rumi; Foto: picture-alliance/CPA Media
Die Antwort auf die Frage "Was ist Sufismus?", wie sie der große Dichter und Mystiker Dschalaluddin Rumi (1207-1273) einst gab, wird als Ratschlag auch in der heutigen Zeit begierig aufgenommen. Rumi sagte: "Freude finden im Herzen, wenn die Zeit des Kummers kommt."

Bis heute rezitieren Menschen aller gesellschaftlicher Schichten und Kreise bei jeder sich bietenden Gelegenheit und mit großer Wonne Verse von Rumi, Omar Khayyam, Hafez, Saadi (alles Mystiker) und bei wichtigen Fragen konsultieren sie das Hafez-Orakel: Mit geschlossenen Augen öffnen sie den "Diwan", die Sammlung von Hafez' Gedichten, tippen auf eine Stelle und suchen in dem zufällig gefundenen Gedicht Antworten.

Schon früh, fast zeitgleich mit der Kodifizierung der Religion und der Formulierung von Regeln und Gesetzen durch die Rechtsgelehrten, hat sich die islamische Mystik herausgebildet. Wie alle Mystiker, ob christliche, jüdische oder islamische, suchen sie den direkten Weg zu Gott, ihn zu schauen, sich mit ihm zu vereinigen, noch in diesem Leben. Ein schönes Beispiel für diese Sehnsucht ist das Gedicht des Dichters und Asketen Sohravardi über die Seele als Taube, es stammt aus dem 12. Jahrhundert:

"Am sandigen Hügel des Jagdreviers hat sie die leibliche Hülle abgelegt, und in heißer Sehnsucht eilte sie zur alten Wohnstatt empor... Es ist, als sei ein Blitzstrahl durch den Park gezuckt und sei dann weggerollt, als hab' es nie geblitzt."

Die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel beschreibt in ihrem Buch "Die mystische Dimensionen des Islams" sehr schön, wie die Worte des Korans im 9. und 10. Jahrhundert den Grundstein der mystischen Lehre legten: "Die frühen Sufis lebten unter der Drohung des Jüngsten Gerichts, wie es in so furchterregenden Worten in vielen Suren beschrieben ist, bis sie entdeckten, dass der Koran auch das Versprechen der gegenseitigen Liebe zwischen Gott und Mensch enthält." Und um diese Liebe um der Liebe willen kreist der Sufismus seit Jahrhunderten und bis heute mit immer neuen und raffinierteren Formulierungen, Bildern und Fragestellungen.

Islamische Mystiker in allen Schichten der iranischen Gesellschaft

Islamische Mystiker sind in allen Schichten der iranischen Gesellschaft anzutreffen, in den gebildeten Schichten der Städte, im Basar, unter Handwerkern und in den Dörfern. Und dies in allen Ausprägungen, vom einfachen Volkssufismus, der Gott mit seinen "99 schönsten Namen" anruft und Gesänge zum Lobpreis Gottes anstimmt, bis zu einer hoch entwickelten, pantheistischen Philosophie. Und seit jeher gibt es Spannungen zwischen der religiösen Orthodoxie und den Sufis, die die trockene Buchgelehrsamkeit der Rechtsgelehrten ablehnen.

Iranische Geistliche vor der religiösen Schule von Faizeh in der heiligen Stadt Ghom; Foto: dpa/picture-alliance
Die Sufis nehmen für sich in Anspruch, zum einfühlsamen und erfahrungsorientierten Wissen fortgeschritten zu sein. Die Mullahs hingegen verachten die ekstatische Gottessuche und die Tänze und Gesänge der Mystiker und ihren Anti-Intellektualismus. Und doch haben sich im Verlauf der Geschichte auch die orthodoxen Religionsgelehrten Gedankengänge und Vorstellungen der Mystiker zu eigen gemacht.

Die Sufis nehmen für sich in Anspruch, zum einfühlsamen und erfahrungsorientierten Wissen fortgeschritten zu sein. Die Mullahs hingegen verachten die ekstatische Gottessuche und die Tänze und Gesänge der Mystiker und ihren Anti-Intellektualismus. Und doch haben sich im Verlauf der Geschichte auch die orthodoxen Religionsgelehrten Gedankengänge und Vorstellungen der Mystiker zu eigen gemacht.

Schön lässt sich das an Hafez zeigen. Immer wieder geriet der Dichter für seine frechen Provokationen und nicht dingfest zu machenden Vieldeutigkeiten in Bedrängnis, doch steht sein "Diwan" in vielen Haushalten gleich neben dem Koran, wie ein Nationalheiligtum. Während der Revolution wollten einige fanatische Mullahs ein Verbot von Hafez verhängen, konnten sich damit aber weder beim Volk noch in den eigenen Kreisen durchsetzen.

Doch die Spannungen zwischen Sufis und Orthodoxie haben sich inzwischen zu handfester Feindschaft hochgeschaukelt. Immer wieder wurden in den letzten Jahren Gebets- und Versammlungsorte der Sufis geschlossen, manchmal, wie in den Städten Ghom und Isfahan, auch mit Bulldozern planiert. Sie wurden geschlagen und ins Gefängnis geworfen. Ihre Beliebtheit löst bei der Geistlichkeit Konkurrenzängste aus, denn sie trifft die Religionsgelehrten auf ihrem ureigenen Terrain. Allein durch ihr Dasein unterlaufen die Sufis die enge Verbindung von Politik und Religion.

Die Geistlichkeit steht unter dreifachem Druck, durch politische Machtverschiebung, durch Säkularisierung und durch die Sufis. Jahrhundertelang hat die Orthodoxie den iranischen Alltag über ihre Interpretationen der dem Koran entnommenen göttlichen Gesetze bestimmt. Mit der Islamischen Revolution 1979 und der Ausformulierung des politischen Islam haben die Rechtsgelehrten dann sehr konkret die Herrschaft übernommen. Doch in den letzten Jahren hat sich schrittweise die Macht zwischen den Mullahs und den Revolutionswächtern, zwischen Religion und Nationalismus zugunsten des Militärs verschoben, eine Entwicklung, die von der amerikanischen Bedrohung noch verstärkt wird. Eine weitere Gefahr für die Geistlichkeit ist der wachsende Säkularismus. Die Chiffre dafür ist "Nordteheran".

Der wohlhabende Norden der Hauptstadt, global vernetzt, gebildet, sprachgewandt, sehr materialistisch und westlich orientiert, hat an allem, was mit dem Gottesstaat zusammenhängt, kaum Interesse. Der Norden prägt die Moden der Jugend, das Verhältnis zum Konsum, zu Freizügigkeit, zur Intellektualität, zur Moral und zu Mullah-Witzen.

Dabei sollte nicht unterstellt werden, dass die antireligiösen Lebenseinstellungen aus Nordteheran im Rest des Landes geteilt würden. Die Moscheen sind zwar überall mehr oder weniger leer, doch die durchaus starke Frömmigkeit vieler Iraner sucht sich eigene Wege. Und der Sufismus bietet eine Möglichkeit, die eigene islamisch geprägte Frömmigkeit zu leben, ohne dabei das herrschende Regime zu akzeptieren.

Elisabeth Kiderlen

© Süddeutsche Zeitung 2019