Islam weichgespült?

Die islamische Mystik erfreut sich im Westen großer Beliebtheit. Einer der Gründe dafür scheint nicht zuletzt die vermeintliche Ferne des Sufismus zum orthodoxen Islam zu sein. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, wie Inga Gebauer meint.

Von Inga Gebauer

​​Die Geschichte des Sufismus ist im Grunde genommen eine Erfolgsstory, denn die islamische Mystik hat es geschafft, sich über weite Teile der Welt zu verbreiten: Von Indien bis in den Iran, von der Türkei bis nach Nordafrika. Sogar in Europa gibt es heute zahlreiche Sufiorden.

Andererseits ist die Geschichte des Sufismus geprägt von Verfolgung. Schon früh wurden Mystiker von den Machthabern islamischer Länder verfolgt oder sogar getötet. Das wurde häufig mit religiösen Argumenten begründet, wie beispielsweise der Vielgötterei, eine der schlimmsten Sünden nach islamischem Glauben.

Tatsächlich erkannten die Mystiker Gott in allen Dingen, da ihrer Ansicht nach schließlich alles aus Gott als dem einzigen Schöpfer entsteht. Solche Äußerungen wurden aber fälschlicherweise als polytheistisch missverstanden. Hinzu kam, dass sich manche Mystiker im Trancezustand und hervorgerufen durch ihre übermächtige Sehnsucht, vollkommen in Gott aufzugehen, zu Äußerungen haben hinreißen lassen, die als ketzerisch verurteilt wurden. So beispielsweise der große Sufi al-Haladsch, der mit seinem Ausspruch "Ich bin die Wahrheit" meinte, das Göttliche in sich selbst entdeckt zu haben und dafür hingerichtet wurde.

Gespaltenes Verhältnis zu den Machthabern

Doch waren für die Verfolgungen auch politische Gründe ausschlaggebend. Denn ab dem 12. Jahrhundert organisierten sich die Sufis in Bruderschaften, die insbesondere bei der einfachen Bevölkerung sehr beliebt und hoch angesehen waren, sodass manche Sufis sogar als Heilige verehrt wurden. Die Ordensgemeinschaften besaßen demnach ein hohes Maß an spiritueller und finanzieller Macht sowie großen Einfluss auf die Bevölkerung, wodurch sie den eigentlichen Machthabern gefährlich werden konnten.

Auch heute ist das Verhältnis der Machthaber zu den Sufis nicht in allen Ländern harmonisch. So gibt es Anzeichen, dass das iranische Regime seit einiger Zeit gegen Sufiorden im Iran vorgeht, weil sie unreligiös und unislamisch seien, und im wahhabitisch beherrschten Saudi Arabien sind Niederlassungen von Sufi-Bruderschaften verboten.

In vielen anderen Ländern genießen die Sufis jedoch ein hohes Ansehen. So wurde beispielsweise dank eines Vorschlags der Türkei, Ägyptens und Afghanistans das Jahr 2007 zum Maulana-Jahr ernannt, nach dem berühmten Liebesmystiker Maulana Dschallaladdin Rumi, der auch als der Begründer des Mevlevi-Ordens der tanzenden Derwische gilt.

Hohe Spiritualität wirkt faszinierend

Die Faszination, die vom Sufismus ausgeht, ist auch heute noch ungebrochen. Die geheimnisvollen Elemente und die hohe Spiritualität der Mystik wirken anziehend. Dem Sufi geht es weniger darum, Gott auf einer theoretischen Ebene zu ergründen, sondern vielmehr um eine eigene spirituelle, wie auch körperliche Erfahrung seiner Gegenwart. Der Sufi befindet sich auf einem Pfad zu Gott oder zumindest in seine Nähe.

Denn das oberste Ziel eines Mystikers ist es, die trennenden Schleier zwischen sich und Gott zu beseitigen und vollkommen in der Liebe zu ihm aufzugehen. Dazu bedient er sich verschiedener religiöser Praktiken und Übungen, wie lange Perioden des Fastens oder auch des so genannten Dhikr, einer Art des Gottgedenkens, bei der bestimmte Formeln - verknüpft mit Atemübungen - ständig wiederholt werden.

Sufis im islamischen Glauben verwurzelt

Gerade wegen der Vorstellung der Erfahrbarkeit Gottes und der zunächst als unorthodox erscheinenden Praktiken der Sufis, wird der islamischen Mystik immer wieder eine Ferne zum strengen Gesetzesislam nachgesagt. Das ist einerseits richtig, da der Sufismus eine ganz eigenständige Glaubensrichtung des Islam darstellt und mit streng orthodoxen Formen, wie dem Wahhabismus oder der Salafiyya, nicht vergleichbar ist. Trotzdem sind die Sufis tief im islamischen Glauben verwurzelt. Als Muslime richten sie sich streng nach dem Koran und der Scharia, welche sie freilich in ihrem Sinne interpretieren.

Diese enge Verbundenheit mit dem Islam lässt sich auch in der Verehrung, die dem Propheten Muhammad zuteil wird, feststellen. Er gilt den Sufis als der erste Mystiker überhaupt und als absolutes Vorbild für den wahren Gläubigen. Manche Sufis, wie beispielsweise der große Ibn Arabi, gingen sogar so weit, Muhammad in den Stand eines "perfekten Menschen" zu erheben. Den Sufismus als weichgespülten Islam oder gar als unislamisch zu betrachten, ist somit gänzlich falsch.

Die Sufis sind tiefgläubige Muslime, deren Alltag vom Islam bestimmt wird. Man muss die islamische Mystik demnach als eine weitere der zahlreichen Erscheinungsformen des islamischen Glaubens betrachten, und damit sind seine Anhänger nicht weniger fest im Glauben verwurzelt, als die Verfechter anderer islamischer Glaubensformen.

Inga Gebauer

© Qantara.de 2007