Die vergessenen Mystiker vom Hindukusch

Lange formten Sufis die Politik und Gesellschaft Afghanistans. Heute wissen nur noch wenige von diesem Erbe. Könnten die Sufis sogar einen wichtigen Beitrag zur Stabilität des Landes leisten? Antworten von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Afghanistan, das ruft bei vielen Assoziationen von unerbittlichem Fundamentalismus und kriegerischen Stammeskulturen hervor, die hoffnungslos rückständig geblieben sind. Nur wenige würden das Land am Hindukusch mit dem Sufismus in Verbindung bringen, jener mystischen Dimension des Islam, die in den Ländern Zentral- und Südasiens lange Zeit von großer Bedeutung gewesen ist. Noch weniger Beobachter würden heute auf die Idee kommen, Afghanistan als Wiege einer moderaten und feinsinnigen islamischen Kultur zu betrachten, in der Lyrik und Musik ein wichtige Rolle spielen.

Dabei ist Afghanistan untrennbar mit der Geschichte des Sufismus verbunden. Das Land ist die Geburtsstätte großer islamischer Mystiker wie des persischen Dichters Khwaja Abdullah Ansari, Hakim Sana'i, Jalaluddin Rumi und Abdulrahman Jami. Die Stadt Herat, die als Zentrum der Sufi-Dichtung berühmt wurde, trägt heute noch den Beinamen "Erde der Heiligen".

Warum liest man nichts über die Sufis?

Man mag sich fragen, wie es kommt, dass in der öffentlichen Diskussion um den Islam und Afghanistan so wenig über die Sufis zu lesen ist, zumal in Südasien ein Großteil der Muslime auf die eine oder andere Weise mit einem Sufi-Orden verbunden ist. Liegt das vielleicht daran, dass der Sufismus, so wie alle mystischen Traditionen, von Außenstehenden gerne als weltfremd und anachronistisch betrachtet wird?

Buchcover von Kenneth P. Lazzios "Embattled Saints - My Year With The Sufis Of Afghanistan" Foto: Quest Books
Das Buch „Embattled Saints“ warf ein Licht auf die lange spirituelle Tradition Afghanistans. Der Autor, der amerikanische Anthropologe und Sufi-Forscher Kenneth Lizzio, berichtet darin von seiner Erforschung eines afghanischen Sufi-Ordens in den 1990er Jahren, eingebettet in die Geschichte des Sufismus und Afghanistans.

Im Herbst 2014, dem Jahr des internationalen Truppenabzugs vom Hindukusch, warf das Buch "Embattled Saints" ein Licht auf die lange spirituelle Tradition Afghanistans. Der Autor, der amerikanische Anthropologe und Sufi-Forscher Kenneth Lizzio, berichtet darin von seiner Erforschung eines afghanischen Sufi-Ordens in den 1990er Jahren, eingebettet in die Geschichte des Sufismus und Afghanistans.

Lizzio wurde im Jahr 1990 im Rahmen eines Projekts zur Eindämmung der Opiumproduktion von der US-Regierung nach Afghanistan entsandt. Desillusioniert von der amerikanischen Academia, die den Sufismus ignorierte oder ihn nur im Zusammenhang mit politischen oder wirtschaftlichen Fragen betrachtete, begab sich Lizzio auf die Suche nach lebendigen Sufi-Gemeinschaften im Land.

Fündig wurde er in den Stammesgebieten an der afghanisch-pakistanischen Grenze, bei einem Sufi-Orden, der über Jahrhunderte bestanden hatte. Ihr Meister, Pir Saif ur-Rahman, war ein Shaykh der Nakschbandiyya-Tradition, die im 14. Jahrhundert in Afghanistan entstand. Lizzio traf in dem Orden auf herzliche und gebildete Menschen, die der Bedrohung durch den Fundamentalismus trotzten und ihre Traditionen pflegten. Sein Buch ist ein in dieser Form einzigartiger Bericht über ein Jahr des Zusammenlebens mit afghanischen Sufis.

Ausbreitung des Islam über den Sufismus

In Südasien breitete sich der Islam vor allem über den Sufismus aus. Lange Zeit war der afghanische Islam vor allem durch den Sufismus geprägt. Die Entwicklung hin zum Fundamentalismus ist dagegen ein modernes Phänomen, das auf den Krieg gegen die Sowjets in den 1980er Jahren zurückgeht.

Der Sufismus ist mit der Geschichte Afghanistans an vielen Stellen verwoben. Während in den Anfangsjahren Asketismus den Lebensstil der Sufis prägte, so nahmen diese bald wichtige Positionen im spirituellen und weltlichen Leben Afghanistans ein. Besonders die Sufis des Nakschbandiyya-Ordens wurden zu Beratern von Königen und Fürsten und überwachten die religiös-spirituelle Bildung von hunderttausenden Muslimen.

Traditionell wurden die afghanischen Könige im Beisein eines großen Sufi-Meisters gekrönt. Immer wieder waren Sufis aber auch an Revolten gegen weltliche Herrscher beteiligt. Als im Jahr 1919 unter dem Eindruck des Kolonialismus König Amanullah an die Macht kam, sahen die Sufis ihre Stellung in der Gesellschaft bedroht. Amanullah verordnete Afghanistan ein radikales Modernisierungsprogramm, mit dem er den Einfluss von Religion und Stammesrecht zurückdrängen wollte. In seltener Eintracht vereinten sich Orthodoxe und Sufis gegen seine Pläne. Nach Amanullahs Sturz versuchte jahrzehntelang kein Herrscher mehr, die Stellung von Sufismus und Tribalismus in der afghanischen Gesellschaft anzurühren.

Muslime vor der Blauen Moschee in Masar-e Scharif; Foto: Marian Brehmer
Im Gegensatz zu anderen islamischen Ländern ist der Sufismus in Afghanistan kein Elitenphänomen, sondern zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Die Mehrheit der Bevölkerung, wenn auch nicht formal einem Orden angehörig, blickt durch die Brille des Sufismus auf den Islam.

Während des zehnjährigen Krieges gegen die Sowjets zählten zwei Sufi-Meister, Ahmad Gailani and Sibghatullah Mojaddidi, das Oberhaupt der Nakschbandiyya, zu den wichtigsten Anführern der Mudschahiddin-Kämpfer. Mojaddidi wurde 1992 nach der Einnahme Kabuls durch die Mudschahiddin zum Interimspräsidenten des Landes.

Sufis als Friedensvermittler

Obwohl sich Mitte der 1990er Jahre auch einige Sufis den Taliban anschlossen, wurden die Mystiker unter der Taliban-Herrschaft vielfach unterdrückt. Besonders der Chishtiyya-Orden, der für seine Liebe zur Musik bekannt ist, wurde von den Taliban rigoros verfolgt. Die Rolle der Sufis als Akteure in den Geschicken des Landes nahm ab.

Dennoch spielt der Sufismus nach wie vor eine zentrale Rolle im religiösen Leben der Afghanen. Im Gegensatz zu anderen islamischen Ländern ist der Sufismus in Afghanistan kein Elitenphänomen, sondern zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Die Mehrheit der Bevölkerung, wenn auch nicht formal einem Orden angehörig, blickt durch die Brille des Sufismus auf den Islam.

Diese Einschätzung, verbunden mit dem Wissen um die historische Stärke des Sufismus in Afghanistans Politik, brachte die afghanische Historikerin Helena Malikyar dazu, in einem Kommentar bei "Al Jazeera" eine aktivere Rolle von Sufis als Friedensvermittler in Afghanistan zu fordern.

Malikyar kritisiert, dass die internationale Gemeinschaft das Potenzial der Sufis nicht erkannt habe. Denn in der gezielten Förderung des mystischen Islams sieht sie eine wirksame Methode, um Extremismus zu bekämpfen. Das würde dem Westen viele Kosten ersparen. Und was noch wichtiger ist: Es könnte die kriegsgebeutelten Afghanen wieder näher an ihre reichen kulturellen Wurzeln führen.

Marian Brehmer

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