Ein Warnbrief an die Diktatoren der arabischen Welt

Der Politologe Ali Anouzla deutet den möglicherweise bevorstehenden Prozess gegen Sudans Ex-Diktator Omar al-Baschir vor dem Internationalen Strafgerichtshof als Warnsignal für zahlreiche Despoten in der arabischen Welt, die selbst schwere Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben.

Von Ali Anouzla

Damit steht aktuell eine Frage von wegweisendem Charakter im Raum: Wird der gestürzte ehemalige Machthaber des Sudan Omar al-Baschir der erste arabische Präsident sein, der sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu verantworten hat?

Sollte dies eintreffen, so wird der Fall als warnendes Beispiel für viele Verantwortungsträger in der arabischen Welt dienen, die momentan noch ihren Kopf einziehen, den Tag fürchtend, an dem sie dasselbe Schicksal ereilt wie ihrem sudanesischen Pendant. Ein Prozess würde nicht nur Gerechtigkeit für die Geschädigten des Regimes von Al-Baschir bedeuten, sondern auch das Ende einer Ära der Straflosigkeit in der gesamten Region. Eine Straflosigkeit, von der viele Verbrecher in der Vergangenheit profitiert haben und von der andere, die heute an der Macht sind, immer noch profitieren.

Die Ankündigung der Übergangsregierung des Sudan kam überraschend: Das ehemalige Staatsoberhaupt und die mit ihm Beklagten sollen an den Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen ausgeliefert werden. Eine Entscheidung, die – zumindest öffentlich – bei der militärischen Führungsriege innerhalb des Obersten Souveränitätsrats, welcher die Leitung für die aktuelle Übergangsphase im Sudan übernommen hat, nicht auf Ablehnung stößt.

Die Nachricht, dass ein Verfahren gegen Al-Baschir in Aussicht gestellt wird, ist an und für sich bereits ein Schritt von großer Bedeutung für das sudanesische Volk und für all diejenigen, die den Gräueln der verheerenden Kriege der letzten 30 Jahre unter Al-Baschir ausgeliefert waren.

Gegenreaktionen aus der arabischen Welt

Von einer solchen Ankündigung hatte mancher noch bis vor Kurzem kaum zu träumen gewagt, vor allem im Hinblick auf die heftigen Reaktionen, die auf die ursprüngliche Erteilung des Haftbefehls gegen al-Baschir im Jahr 2009 erfolgten. Die zum damaligen Zeitpunkt amtierende Regierung des Sudan klassifizierte die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs als "neue Form der Kolonialisierung". Al-Baschir selbst begegnete ihr mit Sarkasmus, Missachtung und Gesten der Abwehr, untermalt durch das Schwingen seines Gehstocks und durchzogen von Drohungen gegen die Richter des Internationalen Gerichtshofs.

Frauen feiern die Machtteilung zwischen Militärführung und Vertretern der Übergangsregierung; Foto: AFP/Getty Images
Politische Zeitenwende im Sudan und Hoffen auf eine bessere Zukunft nach der Machtteilung: Frauen feiern die Machtteilung zwischen Militärführung und Vertretern der Übergangsregierung in Khartum. Die sudanesische Armee hatte am 11. April 2019 nach monatelangen Protesten den autoritär herrschenden Staatschef Omar al-Baschir gestürzt. Nach seiner Absetzung regierte zunächst ein Militärrat, der sich jedoch nach weiteren monatelangen Unruhen mit der Protestbewegung auf die Einsetzung eines Souveränitätsrats einigte, in dem sich Militärs und Zivilisten die Macht teilen.

Andere arabische Länder kritisierten die Entscheidung scharf. So sahen zahlreiche arabische Außenminister darin weniger einen juristischen, als vielmehr einen "politischen Beschluss". Der Rat der Arabischen Liga verwies kritisch auf die "doppelten Standards" des Internationalen Strafgerichtshofs. Das Arabische Parlament, ein weiteres Organ der Arabischen Liga, das sich aus Vertretern der arabischen Länder zusammensetzt, ging sogar soweit, die Entscheidung als "Schandfleck" in der Geschichte der internationalen Gerichtsbarkeit zu bezeichnen.

In vielen arabischen Hauptstädten blieb Al-Baschir somit weiterhin ein willkommener Gast. Die Einreise an Flughäfen stand ihm nicht nur offen, sondern wurde durch das Ausrollen des roten Teppichs feierlich zelebriert – ein Affront gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof und den Gefühlen der Opfer.

Unter der eisernen Faust des Militärs

Mit der aktuellen Wende im Sudan ging auch eine Änderung der Sichtweisen einher: Nach der Volksrevolution, an deren Ende der Sturz Al-Baschirs stand, wandte sich der innersudanesische Diskurs ab von der Frage, ob das Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs rechtmäßig war, hin zu den politischen Implikationen für den Sudan, die mit dem Beschluss der Auslieferung Al-Baschirs in der so fragilen Übergangsphase, in der sich das Land aktuell befindet, einhergehen.

Für diese Phase hat der sogenannte Übergangsrat die Führung des Landes übernommen. Dieser setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern der Zivilbevölkerung, die im Zuge der Revolution an die Macht gekommen sind und aus Militärs, die bis gestern noch fester Bestandteil der ehemaligen Führungsriege des Landes waren, unter der der Sudan während der letzten drei Jahrzehnte mit eiserner Faust regiert wurde.

Dieser Aspekt erschwert die Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Nachrichten aus dem Sudan zur Auslieferung Al-Baschirs an den Internationalen Strafgerichtshof, insbesondere da letzteres betont, dass keinerlei Austausch zwischen Den Haag und der sudanesischen Übergangsregierung in dieser Angelegenheit stattfindet.

Insofern drängt sich die Frage auf, ob die Militärs innerhalb des sudanesischen Übergangsrates diese Auslieferung überhaupt zulassen werden, sind sie doch selbst mitunter in jene Verbrechen verwickelt, wegen derer Al-Baschir vor dem Internationalen Strafgerichthof angeklagt wird. Darunter ist beispielsweise Mohamed Hamdan Dagalo (auch "Hamidati" genannt), Kommandeur der paramilitärischen Gruppe "Rapid Support Forces", der an den Kämpfen und Massakern in der Region Darfur im Namen der Miliz "Dschandschawid" beteiligt war. Der Miliz werden zahlreiche schwere Kriegsverbrechen in Darfur zur Last gelegt.

Lässt der Übergangsrates eine Auslieferung Al-Baschirs zu?

Die Antwort auf diese Frage fällt umso schwerer angesichts der Tatsache, dass der Internationale Strafgerichtshof über 50 angeklagte Personen aus dem Sudan angefordert hat. Eine Zahl, die sich sobald Al-Baschir vor Gericht steht, möglicherweise noch erhöhen wird - etwa wenn Al-Baschir im Rahmen seiner Aussage vor Gericht die Namen weiterer Beteiligter nennen sollte, oder falls der sudanesische Ex-Präsident alte Rechnungen begleichen und Vergeltung an denjenigen üben möchte, die ihn seinerzeit im Stich gelassen haben.

Ob die Übergangsregierung Al-Baschir und seine Mitangeklagten, deren Anklage auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur und weiteren Regionen im Sudan lautet, tatsächlich ausliefert, ist aktuell noch unklar. Sollte es zum Prozess kommen, so könnte dies den Opfern Hoffnung auf Wiederherstellung der verloren geglaubten Gerechtigkeit geben und die Last der Tyrannei, welche die Betroffenen 30 Jahre lang unter Al-Baschir tragen mussten, mindern.

Juristisch gesehen kann dieser internationale Prozess einen rechtlichen Rahmen unter Gewährleistung von Gerechtigkeit bereitstellen, wie er den Opfern in dieser Form im Sudan nicht zur Verfügung steht. Das sudanische Justizsystem hat dies erst kürzlich bei dem Prozess gegen Al-Baschir bewiesen, welcher mehr einem schlechten Witz glich, denn einer ernstzunehmenden Verhandlung.

Gerechtigkeit für die Opfer der Diktatur

Auf politischer Ebene würde dieser Prozess gewiss ein starkes Signal an all jene politischen und militärischen Machthaber sowie an die Angehörigen der Sicherheitsapparate in der arabischen Welt senden, die im Verdacht stehen, Verbrechen begangen zu haben, welche in den Zuständigkeitsbereich des Internationalen Strafgerichtshof fallen. Ebenso würde es Opfer und diejenigen, die für Menschenrechte einstehen, ermutigen, sich direkt an den Internationalen Strafgerichtshof zu wenden oder bereits erbrachte Klagen und Streitfälle nochmals neu aufzurollen.

Die Auslieferung Al-Baschirs an die internationale Strafgerichtsbarkeit würde Gerechtigkeit für die Geschädigten, aber auch einen fairen Prozess für die Angeklagten nach internationalen Standards mit sich bringen. Dem Sudan würde dadurch ermöglicht, sich primär internen Problemen zu widmen, um die Übergangsphase möglichst unbeschadet zu überstehen. Den Sudanesinnen und Sudanesen, vor allem aus der Region Darfur, könnte der Prozess das Vertrauen in den Aufbau eines geeinten Sudan auf Grundlage von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit zurückgeben.

Doch in erster Linie hätte das Erscheinen Al-Baschirs vor dem Strafgerichtshof wohl einen hohen symbolischen Wert: Es wäre einer der größten Siege der sudanesischen Revolution, die sich zuvor erfolgreich gegen seine Herrschaft erhoben hat.

Und die Signalwirkung des Prozesses würde auch weit über den Sudan hinaus reichen und den demokratischen Kräften in der arabischen Welt zeigen, dass die Opfer, die sie bei den Revolutionen des Arabischen Frühlings erbracht haben, sei es bei der ersten Protestwelle oder bei etwaigen Folgeprotesten, nicht umsonst gewesen sind.

Ali Anouzla

© Qantara.de 2020

Ali Anouzla ist ein marokkanischer Autor und Journalist sowie Leiter und Chefredakteur der Website "lakome.com". Er hat mehrere marokkanische Zeitungen gegründet und redaktionell geleitet. 2014 erhielt er den Preis "Leaders for Democracy" der amerikanischen Organisation POMED ("Project on Middle East Democracy").

Aus dem Arabischen von Rowena Richter