Der Klang des urbanen Ägypten

In seinem Buch "Street Sounds“ präsentiert der Historiker Ziad Fahmy die erste Untersuchung über den Wandel von Klanglandschaften im urbanen Ägypten. Er hat das Alltagsleben in den Straßen erforscht und den Stimmen der einfachen Menschen "gelauscht“, während sie mit dem Staat um die Hoheit über den öffentlichen Raum kämpfen. Im Interview erläutert er den Hintergrund seiner Analyse.

Herr Fahmy, wie sind Sie darauf gekommen, dieses Buch zu schreiben?

Ziad Fahmy: Die Idee für Street Sounds kam mir Anfang 2011, als ich dabei war,  mein erstes Buch Ordinary Egyptians abzuschließen. Darin habe ich vor allem musikalische Darbietungen, Volkstheater und Zajal (Anm. d. Red.: mündlich vorgetragene volkstümliche Poesie) untersucht. In diesem Zusammenhang wurde mir die Bedeutung von Klängen, Geräuschen und allgemein des Hörens für die Geschichtsschreibung bewusster. Wir brauchen dringend mehr historische Untersuchungen über Klänge in Ägypten und im Nahen Osten. Wir leben wie unsere Vorfahren in einer Welt vielfältiger Sinneswahrnehmungen. Wenn wir sie alle in unser Verständnis von Geschichte mit einbeziehen, dann können wir die Vergangenheit besser und nuancierter verstehen.

Etwas Glück war auch im Spiel: 2012 erhielt ich ein Stipendium der Society for the Humanities der Cornell University in New York. Passenderweise lautete das Thema für 2012 „Sound: Culture, Theory, Practice, Politics“. Dank des Stipendiums der Gesellschaft konnte ich mich dem Thema Klänge wissenschaftlich und interdisziplinär widmen. Die Vorlesungen, die wöchentlichen Seminare und die fast täglichen Gespräche mit anderen Stipendiaten aus den unterschiedlichsten akademischen Disziplinen haben mir geholfen, meine Ideen über Klänge und Klanglandschaften zu entwerfen. Das hat mich letztlich dazu bewogen, erst mit den Recherchen zu Street Sounds und dann mit dem Schreiben zu beginnen.

Um welche konkreten Themen und Fragestellungen geht es in Ihrem Buch?

Fahmy: Street Sounds ist die erste historische Untersuchung über den Wandel der Klanglandschaften im Ägypten des 20. Jahrhunderts. Es geht um das Alltagsleben auf den Straßen, während ich den Stimmen der einfachen Menschen „lausche“, die mit den staatlichen Autoritäten um die Hoheit im öffentlichen Raum ringen. Das Buch ist gleichzeitig eine Kultur- und Sozialgeschichte, die der Wirkung von modernen Klängen auf das Leben in den ägyptischen Straßen nachgeht.

Cover von Ziad Fahmys "Street Sounds: Listening to Everyday Life in Modern Egypt" (erschienen bei Stanford University Press)
Eine einzigartige Kakophonie: "Das Brummen von Auto- und Motorradmotoren, das Summen von Leuchtstoffröhren und später von Radios, Kühlschränken, Ventilatoren und Klimaanlagen überlagerte und verdrängte ebenso viel Lärm, wie es erzeugte", schreibt Ziad Fahmy in Street Sounds.

Inhaltlich beschäftigt sich Street Sounds mit Sound Studies und der Geschichte sinnlicher Wahrnehmung. Ich behaupte, dass eine Annäherung über die Sinne einiges mehr über lokale Geschehnisse verrät und eine eher mikrohistorische Untersuchung des Alltagslebens ermöglicht.

Ein maßgeblicher Teil des Buchs widmet sich dem Wandel in den ägyptischen Straßen und den Auswirkungen dieser Veränderungen auf Klänge und Geräusche. Beispielsweise untersuche ich die klanglichen Auswirkungen von elektrischer Beleuchtung, Lautsprechern, Autohupen, Autoverkehr, Straßenbahnen und die Gegenmaßnahmen des Staates zum Lärmschutz.

Ich zeige, wie diese technischen Neuerungen und die Veränderungen in der  Infrastruktur das alltägliche Leben verändert haben, weil  das Leben auf der Straße  heute grundlegend anders funktioniert, anders erlebt wird und auch anders klingt.



Ein wichtiger Teil des Buchs beschreibt, wie Menschen in ihrem Alltag auf diese Veränderungen reagierten und wie sie die technologischen Manifestationen der Moderne für sich selbst nutzten, formten, umgestalteten und sie sich aneigneten.

Street Sounds deckt auch eine soziopolitische Dimension des Lärms auf. Das Buch zeigt, wie die wachsende Mittelschicht Geräusche und ein Vokabular der Sinne nutzte, um sich von den ägyptischen Massen abzugrenzen.



Ich beleuchte dabei die unvermeidlichen Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und dem Volk bei der Frage, wer die Kontrolle über Straßen und andere öffentliche Räume besitzt.

Inwiefern knüpft dieses Buch an Ihre bisherigen Arbeiten an und wie unterscheidet es sich davon?

Fahmy: In meiner bisherigen Arbeit habe ich mich auf die Schnittmengen von Nationalismus, populärer Kultur und Mediengeschichte konzentriert. Der Fokus von Street Sounds liegt fast gänzlich auf dem Alltagsleben in der Straße.

Meine Arbeit über die frühe Geschichte der ägyptischen Medien hat mich allerdings dafür sensibilisiert, wie wichtig das Hören und die Mündlichkeit sind – nicht nur was das Verständnis populärer Kultur angeht, sondern auch, um das  Alltagsleben besser zu begreifen.

An wen richtet sich Ihr Buch und welche Wirkung erhoffen Sie sich davon?

Fahmy: Ich hoffe, dass sowohl Historiker, die sich für die Geschichte der Sinne interessieren, als auch Nahost-Historiker mein Buch als Beispiel dafür lesen, wie man über die Erforschung der sinnlichen Wahrnehmung das Alltagsleben früherer Epochen besser verstehen kann. Street Sounds ist zwar ein wissenschaftliches Werk, aber ich habe es in einer zugänglichen Prosa geschrieben. Ich hoffe, damit ein breiteres Publikum zu erreichen. Zielgruppe ist somit auch eine breitere Leserschaft, die sich für das moderne Ägypten und den modernen Nahen Osten interessiert.

An welchen weiteren Projekten arbeiten Sie derzeit?

Fahmy: Ich schreibe derzeit an einem Buch über die Geschichte des ägyptischen Radios mit dem vorläufigen Titel Broadcasting Identity: Radio and the Making of Modern Egypt, 1924 – 1952. Zeitlich und inhaltlich knüpft Broadcasting Identity an mein erstes Buch Ordinary Egyptians an. In Broadcasting Identity untersuche ich, wie sich die Gleichzeitigkeit des Radios auswirkt. Denn indem Hunderttausende von Zuhörern live die gleichen Radiosendungen hörten, ergab sich ein starker und bisweilen einigender Effekt.

Dieser Effekt verstärkte sich oft noch dadurch, dass Menschen Rundfunksendungen öffentlich gehört haben. Dann war die Gleichzeitigkeit nicht nur „imaginiert“, sondern sichtbar, hörbar und fühlbar – mit vielleicht Dutzenden von Zuhörern, die sich um das Radio scharten. Die Regelmäßigkeit und geradezu die Ritualisierung des täglichen öffentlichen Radiohörens machte diese Ausstrahlungen zu einem Soundtrack des Alltagslebens, der in ganz Ägypten erlebt wurde.

Der erste Teil von Broadcasting Identity zeichnet die Zeit der kommerziellen Radiosender in Ägypten von 1924 bis 1934 bis zur umstrittenen Einführung des staatlichen Radiomonopols im Mai 1934 nach. Indem ich diese wichtige frühe Periode der ägyptischen Mediengeschichte näher beleuchte, will ich eine eklatante Lücke in der Geschichte des frühen ägyptischen Radios schließen und Brüche sowie Kontinuitäten beim Übergang des Privatradios zum ägyptischen Staatsradio aufzuzeigen. Im zweiten Teil des Buches analysiere ich die verschiedenen Programme des Staatsradios von seiner Gründung im Jahr 1934 bis in die frühen 1950er Jahre.

© Jadaliyya 2021

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

Ziad Fahmy, "Street Sounds, Listening to Everyday Life in Modern Egypt", Stanford University Press 2020

Ziad Fahmy ist Professor für Moderne Geschichte des Nahen Ostens am Institut für Nahoststudien der Cornell University. Artikel von ihm erschienen in "Comparative Studies in Society and History“, im "International Journal of Middle East Studies“, in "History Compass“ und in "Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East“.