Wer bezahlt den Preis für Abu Ghraib?

Der Mord an Nicholas Berg, mit dem die publik gewordene Misshandlung irakischer Gefangener "gerächt" wurde, hat auch die arabische Welt aufgewühlt. Aus dem Libanon berichtet Hassan Dawud, Schriftsteller und Feuilletonchef der Zeitung "Al-Mustaqbal".

Der schauderhafte Mord an Nicholas Berg, mit dem die publik gewordene Misshandlung irakischer Gefangener "gerächt" wurde, hat auch die arabische Welt aufgewühlt. Aus dem ebenfalls von der Erfahrung von Krieg und Gewalt gezeichneten Libanon berichtet Hassan Dawud, Schriftsteller und Feuilletonchef der Zeitung "Al-Mustaqbal".

Foto: BilderBox

​​Als im Fernsehen das Video von der Ermordung Nicholas Bergs ausgestrahlt wurde und wir zusahen, wie der gedemütigte junge Mann den Henkern lauscht, die in einer ihm unverständlichen Sprache sein Todesurteil verkünden, konnten wir uns des Grauens nicht erwehren, das auch er empfand und das ihn erstarren ließ. Wir sahen uns an seiner Stelle dort kauern - in Erwartung des Moments, da der hinter ihm stehende Mann das Messer ziehen und auf ihn herabsausen lassen würde.

Doch als wir am nächsten Morgen die Schlagzeilen der amerikanischen und britischen Zeitungen lasen, die sich mit einem Wort begnügten: "Savages", Barbaren - da fühlten wir, dass trotz unserem Abscheu und unserer Angst auch wir mit dieser Beschimpfung gemeint waren.

Denn obwohl wir keines der Gesichter unter jenen Masken kennen, müssen wir den Preis für ihre Tat bezahlen. In der Folge des 11. September mussten Tausende arabischer Auswanderer Anschuldigungen und Beschimpfungen ertragen, die ihr Leben vergifteten. Das Gleiche passierte nach den Anschlägen von Madrid. Jene Täter, die wir nicht kennen, die wir noch nie im Leben gesehen haben, betrachtet man stellvertretend für uns alle, ob wir es wollen oder nicht.

Crescendo der Grausamkeit

Die Bevölkerung hier in Libanon hat auf die einzig mögliche Weise auf das abscheuliche Verbrechen an Nicholas Berg reagiert. Als eine der Parteien seine Ermordung verurteilte, fand sie unmittelbare und breite Unterstützung. Die entsetzliche Szene hat uns eine zuvor nicht gekannte Angst eingejagt; wir sagten uns, dass wir eine derartige Brutalität während des gesamten Bürgerkrieges nicht gesehen hätten und dass die Iraker an einem Punkt anfangen, den wir selbst in jener traumatischen Zeit nicht erreichten.

Aber im Stillen können wir uns des Verdachts nicht ganz erwehren, dass es solche Szenen vielleicht auch bei uns gegeben hat; dass aber in Libanon niemand wagte, so etwas zu filmen und zu senden.

Dass die Misshandlung und Abschlachtung von Menschen auch noch durch die Täter selbst ins Bild gesetzt und an die Öffentlichkeit gebracht wird, stellt eine neue Stufe der Verrohung dar. Das Phänomen, dessen Anfänge wir nun miterleben, haben wir während all der Kriegsjahre in unserer Heimat nicht gesehen.

Ich sage Anfänge, weil man mittlerweile intuitiv vermutet, dass das, was wir nun mit Entsetzen sehen, nur der Beginn noch größeren Grauens ist; durch die Ereignisse der vergangenen Jahre hat diese Furcht nach und nach von uns Besitz ergriffen und ist zum Dauerzustand geworden.

Als die ersten Bilder von den Folterungen der Gefangenen in Abu Ghraib auftauchten, waren wir in unseren Ländern - lassen Sie uns das zugeben - weniger betroffen von ihrer Schrecklichkeit. Der Kurdenführer Jalal Talabani hat das nach dem Auftauchen der ersten Bilder sehr deutlich ausgedrückt: Zu Saddam Husseins Zeiten, sagte er, sind in diesem Gefängnis viel schlimmere Dinge passiert.

Damit wollte er natürlich einerseits eine politische Botschaft vermitteln, doch andererseits trifft die Feststellung zweifellos zu; und er war bei weitem nicht der Einzige, der auf die Missstände in irakischen oder generell in arabischen Haftanstalten hinwies.

Ein irakischer Dichter, der nach wie vor im Exil lebt, sagte über Abu Ghraib, dass der Schrecken, den dieses Gefängnis gesehen hat, sich tief in den Mauern eingenistet habe, so dass gleichsam schon die vergiftete Atmosphäre die Wärter zu Untaten verleite.

Was Talabani und dieser Dichter geäußert haben, ist einleuchtend und paradox zugleich. Ähnliche Aussagen hört man häufig unter uns; sie entspringen einer Furcht vor Repression, an die wir uns schon derart gewöhnt haben, dass wir, um Grauen zu empfinden, noch schrecklichere Taten als die in Abu Ghraib begangenen sehen müssen.

Vergleicht man die Reaktionen auf die Bilder aus Abu Ghraib mit denjenigen auf die Ermordung Nicholas Bergs, so ist es, als müsse sich jeder von uns mehr anstrengen, um sich an die Stelle jener Männer zu versetzen, die nackt und gekrümmt dort stehen, um ihre Schamteile zu verbergen; als müsse man sich viel mehr bemühen, um die Erniedrigung eines Mannes zu spüren, der nackt an einer Hundeleine von einer Soldatin über den Boden gezerrt wird; oder um sich vorzustellen, man sei einer dieser Männer, die nackt übereinander liegend eine Pyramide formen, aufgetürmt wie ein Haufen Müll. Man hat dazu kräftige, gesunde Körper ausgewählt, welche die Erniedrigung deutlich zeigen. Es fällt uns nicht leicht, uns vorzustellen, welchen Hass diese Gefangenen empfinden.

Der Pyrrhussieg der Vermummten

Der vermummte Mann, der zwischen anderen gesichtslosen Gestalten steht, dachte, er trage zu unserem Sieg bei und räche uns, als er das Messer zog, um Nicholas Berg zu enthaupten. Wieder einmal siegen die Vermummten - aber nicht über irgendeinen "Feind", sondern über unser eigenes ewiges Zögern, unsere Unfähigkeit, zu entscheiden, was besser und was schlechter ist: Saddam Hussein oder die amerikanische Besatzung.

Wieder einmal werden wir nicht dazu in der Lage sein, mit lauter Stimme dieses Verbrechen zu verurteilen, das Abschlachten dieses jungen Mannes, dessen abgetrennter Kopf abschließend noch in die Kamera gehalten wurde - eine Szene, welche die Fernsehsender ihren Zuschauern nicht zeigten, weil sie so schrecklich war und eine solche Verurteilung enthielt.

Was die Misshandlungen von Abu Ghraib angeht, so denken wir, dass die Reaktionen von George Bush und Donald Rumsfeld mehr Bedeutung haben werden als die Verbrechen selbst. Diese Angelegenheit ist nun eine amerikanische, meint ein befreundeter Journalist in Beirut. Sie wird dort verhandelt und vielleicht zu einer jener Affären werden, die einen Präsidenten stürzen oder zumindest ins Wanken bringen.

Die Ereignisse sind in Abu Ghraib vorgefallen, doch finden sie in den USA ihren Widerhall. Dort könnten sie zu einer Akte im Archiv des politischen Kampfes werden. Doch im Irak, wo sie stattgefunden haben, werden sie unverständlich und lediglich in vergänglichen individuellen Erinnerungen bewahrt bleiben. - Die Folterer werden mit ihrer Tat davonkommen.

Bis anhin hat man das Gefühl, dass all die Reue, das Bedauern und die Entschuldigungen nur die mangelnde Bereitschaft kaschieren, tief greifende Maßnahmen einzuleiten. Als juristische Folge des Skandals sollen zwei Soldaten vor Gericht gestellt werden, einige weitere werden ihnen folgen. Falls damit die juristische und die moralische Seite dieser Akte erledigt sein werden, wäre dies nicht, was wir von einer Demokratie erhofft hätten; aber die vermummten Männer, die Nicholas Berg abschlachteten, um damit an unserer Statt Rache zu nehmen, haben bei uns gewiss nicht weniger Abscheu erregt als die Verbrechen von Abu Ghraib.

Hassan Dawud

Aus dem Arabischen von Michaela Kleinhaus

© Neue Zürcher Zeitung, 17. Mai 2004