Die Bulldozer des Kronprinzen

Ganze Stadtviertel der saudischen Küstenmetropole Jeddah werden dem Erdboden gleichgemacht. Zehntausende Menschen verlieren ihr Zuhause. Mit einem Jachthafen und Saudi-Arabiens erstem Opernhaus will Kronprinz Mohammed bin Salman die Stadt zu einer globalen Marke machen, die mit Dubai und Singapur mithalten kann. Von Jannis Hagmann

Von Jannis Hagmann

Hier und da ragt noch ein Minarett in die Höhe, eine Palme, auch Überreste von Gebäuden stehen noch. Ansonsten mutet die Trümmerwüste gespenstisch an, erinnert an Bilder aus Syrien oder Libyen. Doch in Jeddah, Saudi-Arabiens zweitgrößter Stadt, herrscht kein Krieg. Bulldozer am Straßenrand zeigen: Hier wurde nach Plan zerstört. Von Zerstörung sprechen jedenfalls die einen, andere nennen es Stadtentwicklung.

Seit Oktober sind in Jeddahs Innenstadt gigantische Abrissarbeiten im Gang. In einst dicht besiedelten Vierteln wie Ghulail und Petromin wurden komplette Häuserblöcke dem Erdboden gleichgemacht. Wohnungen, Autowerkstätten, Supermärkte, alles ist platt. Schutt häuft sich links und rechts der Straßen. "Jemand kommt und schreibt 'Räumung‘ an die Hauswand. Manchmal haben die Leute nur wenige Wochen, um ihre Häuser zu räumen. In Ghulail hatten sie nur 24 Stunden.“ So beschreibt Khulud al-Harthi das Vorgehen der Behörden gegenüber Qantara.de. Die 26-Jährige ist in Kilo 14 aufgewachsen, einem Viertel, das bald auch Vergangenheit sein könnte.

Auf Tiktok und Instagram kursieren tausende Fotos und Videos der Trümmerlandschaften unter den Stichworten "Zerstörung Jeddahs“ und "Räumung der Slums“. Ein Sinnbild, wie radikal die Behörden vorgehen, war für viele ein Friedhof im Stadtteil Kandara. Wie an anderen Häusern fand sich plötzlich auch am Friedhofsgebäude das Wort "Räumung“ in roten Lettern an die Wand gesprüht. Bevor die Behörden reagieren konnten, verbreiteten sich die Aufnahmen im Netz. Kurz darauf teilte die Stadtverwaltung mit, es handele sich um einen Fehler. Es sei nie geplant gewesen, den Friedhof zu beseitigen.



Betroffen von den Zerstörungen sind aktuell vor allem Viertel südlich und östlich der Altstadt, dem Balad, das sich in Teilen Unesco-Weltkulturerbe nennen darf. In diesen Stadtteilen lebten vor der Räumung jeweils zwischen 10.000 und 50.000 Menschen. Zehntausende dürften also ihr Zuhause verlieren. Schätzungen, die von Dissidenten und Kritikern der Abrissarbeiten verbreitet werden, gehen von Hunderttausenden bis zu einer Million aus. Die zuständigen Behörden sowie die saudische Botschaft in Berlin äußerten sich auf Nachfrage nicht zur Zahl der Betroffenen.

"Sieg über die Slums" ausgerufen

Aufnahmen, teils aus Drohnenperspektive, geben eine Vorstellung von dem Ausmaß der Zerstörung: Die Viertel Ghulail und Petromin wurden jeweils zur Hälfte nivelliert ebenso wie große Teile von Mada’en Fahad, Nuzla Yamaniya, Qurayat und anderen. Ende Januar wurden in Kandara und Hindawiya Strom und Wasser abgedreht, um die Räumung zu beschleunigen. Hindawiya gleicht nun einer Geisterstadt, bereit für den Abriss.

Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman und die "Vision 2030"; Foto: Amr Nabil/AP Photo/picture-alliance
Unter Mohammed bin Salman, seit 2017 Kronprinz, wird mit den vermeintlichen Slums von Jeddah kurzer Prozess gemacht. Mit seiner Reformagenda "Vision 2030“ gibt er vor, das Königreich zu modernisieren. Er stellte Kritiker kalt und zentralisierte die Macht; zeitgleich baute er einen hunderte Milliarden schweren Staatsfonds auf, mit dem er Investitionen anziehen und die Wirtschaft unabhängig machen will vom Erdöl. Im Zuge einer gesteuerten gesellschaftlichen Öffnung dürfen seit 2019 auch Individualtouristen das Land bereisen. Die Ashwa’iyat, Slumviertel, in Jeddah, der potenziellen Vorzeigemetropole des Landes (Riad liegt tief in der Wüste), passen da nicht ins Bild.



Die Stadtteile rund um das Balad sorgen seit Jahren für Diskussionen. In der Presse, die schon einen "Sieg über die Slums“ ausgerufen hat, wurde eine "visuelle Deformation“ der Stadt beklagt; auch sollen Drogenkonsum und kriminelle Machenschaften verbreitet sein. Ein vergangene Woche veröffentlichtes Video der Regionalregierung, das Verständnis wecken soll für den Abriss, zeigt verdreckte Straßen, heulende Sirenen und Männer mit dunklerer Hautfarbe, die vor Polizisten flüchten. Laut einem Dokument der Stadtverwaltung, das Qantara.de vorliegt, gelten 63 Viertel oder knapp 40 Prozent der Stadtfläche Jeddahs als Ashwa’iyat: ungeplante Stadtteile oder "Slums“, die es zu entwickeln bzw. zu beseitigen gilt.

Von "Slums“ allerdings will Atef Alshehri nicht sprechen. Der saudische Architekt forscht über Stadtentwicklung auf der Arabischen Halbinsel. "Diese Stadtteile sind organisch gewachsen“, sagt er, "sie entsprechen schlicht nicht den Prinzipien modernistischer Stadtplanung.“ Anders als im Norden Jeddahs, wo sich ein schickes Restaurant ans nächste reiht, leben in einem Ring um das Balad Familien mit niedrigeren Einkommen. Ihre Vorfahren kamen aus dem Süden Arabiens, wanderten vom afrikanischen Kontinent ein oder kamen als Sklaven auf die Halbinsel und fanden in Siedlungen rund um das damals von Mauern umgebene Jeddah ein Zuhause. Wieder andere waren auf Pilgerfahrt und ließen sich dauerhaft außerhalb von Jeddah nieder, das als Hafenstadt für das 80 Kilometer entfernte Mekka diente. Erst nachdem 1947 die Stadtmauer fiel, die kommerzielle Ölförderung in Saudi-Arabien begann und mehr Menschen in die Städte zogen, wurden die Siedlungen rund um die heutige Altstadt vom Stadtgebiet vertilgt.

Verwinkelte Gassen und teils unklare Eigentumsverhältnisse zeugen heute vom ungeplanten Wachstum, erklärt Alshehri. Schnell wuchs Jeddah auf ihre heutigen viereinhalb Millionen Einwohner an. Als historisch gewachsene Stadt sei das alte Jeddah vielleicht "nicht sexy genug“, um mit der globalisierten Glas- und Stahlarchitektur in Dubai, Singapur oder Hongkong mithalten zu können, dafür aber einzigartig und voller lokaler Identität.



Unter Mohammed bin Salman (MBS), seit 2017 Kronprinz, wird mit den vermeintlichen Slums kurzer Prozess gemacht. Mit seiner Reformagenda "Vision 2030“ gibt er vor, das Königreich zu modernisieren. Er stellte Kritiker kalt und zentralisierte die Macht; zeitgleich baute er einen hunderte Milliarden schweren Staatsfonds auf, mit dem er Investitionen anziehen und die Wirtschaft unabhängig machen will vom Erdöl. Im Zuge einer gesteuerten gesellschaftlichen Öffnung dürfen seit 2019 auch Individualtouristen das Land bereisen. Die Ashwa’iyat in Jeddah, der potenziellen Vorzeigemetropole des Landes (Riad liegt tief in der Wüste), passen da nicht ins Bild.

Platz für Jachthafen und Strandresorts mit Shopping-Möglichkeiten

Im Dezember gab MBS persönlich den Startschuss für das Großprojekt "Jeddah Central“. Anders als auf den neuen Freiflächen im Süden und Osten, für die keine Bauvorhaben bekannt sind, sollen an der Rotmeerküste nördlich der Altstadt ein Jachthafen und Strandresorts mit Shopping-Möglichkeiten entstehen, dazu Saudi-Arabiens erstes Opernhaus, ein Sportstadion und ein "Ozeanarium“. Hinzu kommen 17.000 Wohneinheiten, Hotels und "integrierte Lösungen für den Unternehmenssektor“. Eine Fläche deutlich größer als der Central Park in New York soll allein hier neu bebaut werden. 18 Milliarden Euro Startfinanzierung hat der Staatsfonds gegeben, um auch private Investoren ins Boot zu holen. Von einem "New Jeddah“ schwärmte ein Kommentator.

"Niemand ist gegen Modernisierung“, sagt Architekt Alshehri über die Abrissarbeiten, "diese Viertel sind teilweise runtergekommen und die Kriminalitätsrate ist hoch.“ Doch was in Jeddah entstehe, befürchtet er, werde jeglicher Identität entbehren. Man müsse sich nur die Finanzdistrikte von Singapur oder Hongkong anschauen: "Das Gleiche passiert jetzt in Jeddah. Hier wird Raum durch Kapital produziert.“ Die Bewohner spielten keine Rolle. "Die Gemeinschaft wird durch Master-Developer ersetzt.“

 



 

In gut informierten Kreisen wird befürchtet, dass ein großer Teil der Stadtbevölkerung in die Obdachlosigkeit getrieben wird. Wie viele Familien entschädigt werden, ist unbekannt. Wer Grundeigentum nachweisen kann, soll Geld für Land und Immobilien bekommen – was allerdings die wenigsten sein dürften: Der Stadtverwaltung zufolge liegen für nur elf Prozent der Fläche in den Ashwa’iyat Dokumente vor. Zudem liegt hier der Prozentsatz der Nicht-Saudis bei bis zu 70 Prozent.

Im Januar veröffentlichte die Stadtverwaltung Zahlen, nach denen 550 Familien temporär umgesiedelt wurden. Insgesamt sollen dieses Jahr noch rund 4.800 neue Wohneinheiten entstehen. Was mit jenen geschieht, die keine Dokumente vorweisen können, ist unklar. "Die Bewertung ihrer Lage läuft noch“, teilte die Stadtverwaltung mit und verwies auf Wohltätigkeits­organisationen.

Allerdings sind nicht alle in den Ashwa’iyat mittellos. Alshehri beobachtet bereits einen "Exodus von Leuten“, die auf den Miet- und auf den Eigentumsmarkt strömen. Er befürchtet sowohl einen Anstieg der Mietpreise als auch Probleme auf dem Immobilienmarkt: "Der Zustrom von neuen Käufern könnte eine neue Spekulationskrise auslösen.“

Die Abrissarbeiten haben auch die Exilopposition auf den Plan gerufen. "Sie nennen es Modernisierung“, sagt der Dissident Ali AlAhmed am Telefon aus Washington D. C. Aber in Wirklichkeit würden den Leuten Grundstücke und Häuser zu günstigen Preisen abgekauft oder gegen geringe Entschädigungszahlungen weggenommen, damit Mitglieder der Königsfamilie und deren Günstlinge Hotels bauen können. In Jeddah setze sich fort, was anderswo längst Realität sei. "Wenn man sich Mekka und Medina ansieht, wird klar, dass historische Viertel zerstört werden, um gläserne Hochhaustürme zu errichten. Mohammed bin Salman möchte Jeddah zu so etwas umbauen wie Dubai.“

Jannis Hagmann

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